Quelle: IPG-Journal – Asien 01.10.2021 | Alicia García-Herrero
Das Ende einer Ära
Das harte Durchgreifen der chinesischen Regierung gegen Evergrande illustriert ihr verändertes Motto: Wohlstand für alle statt ungebremstes Wachstum.
Der chinesische Großkonzern Evergrande ist seit langem ein Symbol für China. Er ist nicht nur ein Immobilienentwickler, sondern ein Konglomerat mit vielen verschiedenen Unternehmensbereichen, darunter auch der Herstellung von Elektrofahrzeugen. Dass Evergrande so groß werden konnte, lag auch an einer enormen „Hebelung“ durch die Aufnahme von Fremdkapital. Solche Kredite werden dazu verwendet, Investitionen zu tätigen oder Projekte durchzuführen. Entwickeln sich diese Aktivitäten nicht gut, vervielfachen sich dadurch aber auch die möglichen Risiken. Evergrande war in diesem Sinne sehr stark „gehebelt“, d.h. die Schulden waren höher als das Eigenkapital.
Dies schien niemanden zu stören, bis Präsident Xi Mitte 2017 eine Expertenkommission zum Schuldenabbau chinesischer Konzerne einberief. Danach ging die Konzernverschuldung allerdings ungehindert weiter, bis die Wirtschaft – und damit auch der Immobiliensektor und natürlich Evergrande – von der Covid-19-Pandemie getroffen wurde. Der chinesische Immobiliensektor ist schon seit langem zu groß und zu riskant aufgestellt. Dies ist kein Zufall, sondern stand im Mittelpunkt des Plans der chinesischen Führung, die Wirtschaft nach der globalen Finanzkrise von 2008 wiederaufzubauen. Das Immobilienangebot und den entsprechenden Sektor zu fördern war für die Lokalregierungen, die Wachstum und Beschäftigung steigern wollten, ein leichter Weg, Einkünfte zu erzielen.
Der chinesische Immobiliensektor ist schon seit langem zu groß und zu riskant aufgestellt.
Die chinesische Wirtschaft zeigte schon 2010 klare Anzeichen einer Überhitzung, was zum größten Teil am Bauboom lag. Dies veranlasste die Regulierungsbehörden, die Kreditvergabe der Banken an den bereits übermäßig verschuldeten Immobiliensektor zu begrenzen. Daraufhin fanden die Entwickler jedoch andere Wege, ihre Finanzierung zu sichern: Sie gaben große Mengen Anleihen heraus und trieben die Vorabverkäufe von Wohnungen aggressiv voran. Und da sie für den inländischen Anleihenmarkt die Zustimmung der Regulierungsbehörden benötigten, wechselten viele zum US-Dollar-Anleihenmarkt im Ausland.
Die Nachfrage nach Wohnraum in China war insoweit gesichert, dass Immobilien die wichtigste Möglichkeit für Investoren waren, angesichts der immer noch drakonischen Kapitalabflusskontrollen ihre Ersparnisse anzulegen. Die Anlage in Immobilien war für die chinesischen Haushalte eine Goldgrube, da die Preise bis vor kurzem fast stetig stiegen. 2021 aber gingen die Wohnungspreise plötzlich zurück. Dies hatte mehrere Gründe.
Der erste und entscheidende Punkt ist, dass der plötzliche Regulierungsschub zur Kontrolle der überstrapazierten Bilanzen der Immobilienentwickler dazu geführt hat, dass einige große Immobilienkonzerne wie China Fortune Land umstrukturiert wurden – bereits bevor Evergrande in Schieflage geriet. Mit anderen Worten, die chinesischen Haushalte sind, obwohl sie in den lokalen Medien immer noch von rosigen Bildern des Sektors und der chinesischen Wirtschaft überschwemmt werden, bei ihren Investitionen in Immobilien zunehmend vorsichtig geworden.
Der zweite Grund ist, dass die verschärften Kontrollen nicht nur die Entwickler betreffen, sondern auch die Käuferinnen und Käufer von Immobilien, die hohe Anzahlungen leisten müssen und Angst vor der Einführung einer landesweiten Immobiliensteuer haben, über die es seit einiger Zeit Gerüchte gibt.
Und schließlich spüren die chinesischen Haushalte die Belastung durch eine Wirtschaft, die in den letzten Jahren rapide zurückgegangen ist – nicht nur aufgrund ihrer eigenen Überkapazitäten, sondern auch durch den Handels- und Technologiekrieg mit den USA und die Pandemie.
Die chinesische Regierung greift hart durch gegen den Immobiliensektor, indem sie die sogenannten „drei roten Linien“ eingeführt hat: Ihre Verschuldung soll gesenkt sowie ihre Abhängigkeit von Vorabverkäufen und Kurzfristfinanzierung begrenzt werden. Dies findet vor dem Hintergrund statt, dass sich das langfristige chinesische Wirtschaftsziel von Wachstum hin zu gemeinsamem Wohlstand verändert.
Gemeinsamer Wohlstand ist Xi Jinpings neues wirtschaftliches Mantra
Dieser gemeinsame Wohlstand ist Xi Jinpings neues wirtschaftliches Mantra, um die Bedeutung besserer Einkommensverteilung und stärkerer Gleichberechtigung zu betonen. Extrem hohe und weiter steigende Wohnungspreise sind wahrscheinlich die wichtigste Quelle für die Ungleichheit der Einkommen in China. Der Zugang zu bzw. der Mangel an Wohnraum ist ein entscheidender Faktor für die Erklärung von Wohlstandsunterschieden.
In diesem Umfeld war Evergrande aus mehreren Gründen ein Hauptziel für die harte Vorgehensweise der Regierung.
- Zunächst ist der Konzern einfach der größte Immobilienentwickler.
- Zweitens ist er auch der am stärksten verschuldete und überschreitet alle drei der oben erwähnten roten Linien.
- Und drittens ist Evergrande – über seine Notierung an der Hongkonger Aktienbörse und seine Anleiheemissionen am dortigen Auslandsmarkt – massiv von ausländischen Investoren abhängig. Die meist in Dollar notierten ausstehenden Anleihen im Umfang von fast 20 Milliarden US-Dollar wurden hauptsächlich von ausländischen Privatbanken und Vermögensverwaltern für ihre reichen Kundinnen und Kunden gekauft.
Seit letzten Donnerstag ein Zinscoupon einer Dollaranleihe nicht ausgezahlt wurde, ist es klar, dass Evergrandes Auslandsschulden umstrukturiert werden. Nimmt man den Konzern China Fortune Land als Beispiel, der selbst im Umstrukturierungsprozess steckt, muss dies nicht unbedingt in Form eines nominalen Schuldenschnitts stattfinden, sondern kann auch bedeuten, dass die Laufzeiten verlängert und die fälligen Zinszahlungen verringert werden. Falls es darauf hinausläuft, werden die ausländischen Investoren wahrscheinlich erleichtert sein, da sie dann über die Zukunft ihrer Investitionen in Evergrande Klarheit bekommen.
Allerdings ist der Konzern immer noch zum größten Teil (der 300 Milliarden US-Dollar Gesamtverschuldung) im Inland verschuldet. Diese Kredite müssen bedient werden – insbesondere die umgerechnet 200 Milliarden Dollar, die Evergrande von chinesischen Haushalten als Vorauszahlungen bekommen hat. Fast 1,5 Millionen Haushalte im Land warten darauf, dass Evergrande ihre Wohneinheiten fertigstellt. Dies wird sicherlich geschehen, da auch andere Immobilienentwickler massiv von Vorauszahlungen abhängig sind. Würde also Evergrande seine Versprechen nicht erfüllen, würden die Vorverkäufe von Immobilien in China austrocknen, was die meisten Immobilienentwickler an den Rand des Abgrunds bringen würde. Darüber hinaus passt es nicht zur Strategie des gemeinsamen Wohlstands, die Verluste auf die Haushalte abzuwälzen. Also hat die chinesische Regierung bereits klar signalisiert, dass sich die Lokalregierungen um die unvollendeten Projekte kümmern werden.
Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht länger das Ziel, und finanzielle Exzesse werden bestraft.
Zur Zukunft der chinesischen Wirtschaft ergeben sich daraus zwei grundsätzliche Schlussfolgerungen.
Erstens wird der chinesische Immobiliensektor wegen der Evergrande-Probleme nicht zusammenbrechen, da öffentliche Gelder eingesetzt werden, um die Folgen für das chinesische Wirtschaftssystem zu lindern. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle, insbesondere die ausländischen Investoren, vollständig entschädigt werden. Evergrande muss auch als Warnsignal vor den Risiken übermäßiger Verschuldung dienen.
Die zweite Erkenntnis ist, dass Chinas Wachstum unter all dem leiden wird. Nicht nur der Immobiliensektor, der entscheidend zu Investitionen, Beschäftigung und Wachstum des Landes beiträgt, wird sich nach Evergrandes Niedergang verlangsamen, sondern auch die Investoren allgemein werden – angesichts des drastischen Wandels der chinesischen Prioritäten – zunehmend vorsichtig sein.
Kurz gesagt: Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht länger das Ziel, und finanzielle Exzesse werden bestraft. Die wichtigste Strategie ist nun, zum gemeinsamen Wohlstand beizutragen – und dies auch um den Preis enttäuschter Privatinvestoren und damit einer möglichen Stagnation der Wirtschaft.