Corona-Pandemie: Eine Krise als Chance zur Beschreitung neuer Wege

Quelle: Frankfurter Rundschau online – Hans-Jürgen Urban – 19.4.20

Corona-Pandemie: Eine Krise als Chance zur Beschreitung neuer Wege

Nach Corona werden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sicher wieder alte Mechanismen greifen. Wir sollten Kräfte bündeln und neue Wege beschreiten.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive, heißt es. Mag sein. Durchgreifendes Krisenmanagement gegen Infektionsrisiken sowie den ökonomischen Niedergang ist wohl auch diesmal das Gebot der Stunde. Doch nach der Krise sollte die freie Hand der Exekutive enden.

Weichenstellungen für die Zukunft müssen Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und legitimierter Entscheidungen sein. Nur so können dauerhafte Schäden an Demokratie und Rechtsstaat vermieden werden. Und nur so kann verhindert werden, dass sich die romantische Sehnsucht nach den Vorkrisenzuständen, die allenthalben anzutreffen ist, als Leitbild der Konsolidierungspolitik durchsetzt. Denn das wäre der Weg in die Sackgasse.

Die Überführung ganzer Ökonomien ins künstliche Koma ist historisch einzigartig. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kollateralschäden sind noch nicht abzusehen. Und das Ausmaß steigender häuslicher Gewalt gegen Frauen, Kinder und Pflegebedürftige ist nur zu erahnen.

Nach der Corona-Krise: Freie Hand der Exekutive beenden

Und wie agieren die politischen Entscheider? Besser als ihr Ruf. Die Koalition gibt sich handlungsfähig. Großzügigere Regelungen bei der Grundsicherung, erleichterter Zugang zu Kurzarbeit, finanzielle Zuwendungen und Bürgschaften für Unternehmen mögen verteilungspolitisch eine Schlagseite aufweisen. Als kurzfristige Ad-hoc-Krisenmaßnahmen sind sie grosso modo jedoch zu begrüßen. Pauschales Politikbashing wirkt hier eher schal.

Die Entwicklung gleicht einer konservativen Revolution. Konservativ, weil die Krisenmaßnahmen auf die Rettung vorhandener Strukturen zielen; revolutionär, weil sie mit radikalen Ideologiebrüchen einhergehen, die selbst in den kühnsten linken Träumen nicht vorhergedacht wurden.

Dreistellige Milliardenbeträge werden mit nie gekannter Großzügigkeit unter Kleinunternehmern und Soloselbstständigen verteilt. Und der Staat rüstet sich für freundliche Übernahmen systemrelevanter Großkonzerne. Der Krisensturm bläst hegemoniale Erzählungen wie die von der schwarzen Null oder von der Unantastbarkeit ökonomischen Privateigentums einfach hinweg.

Sicher bleiben Privilegien- und Klassenstrukturen wirkungsmächtig. Während zumeist Besserverdienende sich bei Erhalt der Bezüge ins Homeoffice zurückziehen können, müssen mitunter Normalverdienende und Niedriglöhner am Arbeitsplatz vor Infektionsgefahren geschützt werden. Vor allem aber fließt der Hauptstrom der Krisenmilliarden in die Kassen der Unternehmen. Und die Großvermögenden bleiben verschont. Bei Verteilungsfragen endet der revolutionäre Elan der Krisenpolitik.

Das nachhaltigste Problem: verklärter Blick auf und romantische Sehnsucht nach Vorkrisenzeit

Doch das vielleicht nachhaltigere Problem liegt woanders. Es reicht bis weit in die Gesellschaft hinein. Es ist die immer wieder durchbrechende Sehnsucht nach der Normalität der guten alten Vorkrisenzeiten.

Ob Vorhaben der Regierungen, ob Szenarien der Wirtschaftswissenschaften, ob Pläne von Theatern, Konzerthäusern oder anderen Einrichtungen, nahezu alle Entwürfe fragen nach Wegen zurück. Zurück zur wachsenden Wirtschaft, zum stabilen Arbeitsmarkt, zu verlässlichen Kultursubventionen, zum gewohnten Alltagsleben. Rückkehr wird geradezu zum Signum der Krisenpolitik. Doch die romantische Sehnsucht nach den alten Zuständen ist fatal. Offenbar verklärt der Blick aus dem Auge des Orkans die Vergangenheit. Der deutsche Vorkrisenkapitalismus taugt nicht als konkrete Utopie fortschrittlicher Politik. Soziale Ungleichheit, Klimakrise, Rechtspopulismus und andere Missstände sollten auch im Angesicht der Krise nicht so schnell in Vergessenheit geraten.

Zielführend wäre hingegen die Rückbesinnung auf die weitgehend verstummte Ökologiedebatte, insbesondere auf Plädoyers für ein neues Wachstumsmodell. Denn die Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus sind Überfluss- und zugleich Defizitgesellschaften. Umweltschädlichem Luxuskonsum stehen Investitionsrückstände bei sozialer Sicherheit, im Gesundheits- und Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mobilität gegenüber.

Erkannt wird zugleich, dass der profitgetriebene Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems die gesellschaftlich zu beantwortende Frage blockiert, was wachsen soll und was nicht. Anvisiert wird eine Wirtschaft, die wächst, wo sie wachsen soll, und auf Wachstum verzichtet, wo es die Gesellschaft spaltet oder die Natur überfordert. Daraus folgt: Nicht die Wiederherstellung alter Strukturen und Spielregeln, sondern Schritte in Richtung eines neuen Wachstumsmodells sind der historische Auftrag.

Corona-Krise als Chance um Reformwiderstände zu überwinden und neue Wege zu beschreiten

Hier könnte die Krise ein Zeitfenster öffnen. Die politikwissenschaftliche Theorie der Pfadabhängigkeit besagt, dass es Gesellschaften in der Regel schwerfällt, gewohnte Bahnen zu verlassen. Sie kennt aber auch Übergangsphasen („critical junctures“), in denen Krisenschocks helfen, Reformwiderstände zu überwinden und Pfadwechsel einzuleiten. Und ein solches Momentum könnte die Corona-Krise erzeugt haben.

Doch ein Problem schleppt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft. Neue Weichenstellungen setzen handlungsmächtige Akteure voraus und Verschiebungen nach links eine starke Linke. Und die fehlt. Die Krise wird aus der politischen Mitte gemanagt. Die Linke analysiert und räsoniert, bleibt aber weitgehend wirkungslos. Wieder einmal schwächelt der neoliberale Kapitalismus, und wieder einmal fehlt eine Kraft, die die Gunst der Stunde nutzen und die Gesellschaft auf einen progressiven Pfad drängen könnte.

Doch Fatalismus ist keine Option. Die Konflikte um die Entwicklung von Ökonomie, Gesellschaft und Politik werden die Nachkrisenphase prägen. Sie werden intensiv ausfallen und alle Reformkräfte werden sich aufrappeln müssen. Vor allem Gewerkschaften sowie Akteure aus der Ökologiebewegung und dem fortschrittlichen Spektrum der Parteien sind gefragt. Annäherungen in Fragen von Umweltstandards, Verteilungsgerechtigkeit und Schutz prekärer Arbeit, die vor der Corona-Krise sichtbar wurden, sollten fortentwickelt und zu Konzepten einer solidarischen Nachkrisenpolitik aktualisiert werden.

Nach der Corona-Krise: Transformationskonflikt um zukünftige Gesundheits- und Sozialpolitik

Ein zentraler Transformationskonflikt wird sich um die zukünftige Gesundheits- und Sozialpolitik drehen. Die großzügigeren Sozialleistungen der letzten Wochen beruhen nicht auf einem reflektierten Lernprozess. Der Abschied von der Austeritätspolitik ist reiner Notpragmatismus. Auf den ist kein Verlass. Ein Rückfall in die Spar- und Sozialabbaulogik ist nicht unwahrscheinlich. Heftige Konflikte um den Abbau der Schuldenberge sind absehbar. Die soziale Schieflage der Krisenpolitik könnte vor der zu befürchtenden Schlagseite der kommenden Konsolidierungspolitik verblassen.

Doch nicht nur sozialer Krisenschutz, auch der notwendige Ausbau des Sozialstaates wird teuer. Auch hier lauern harte Verteilungskonflikte um die notwenigen Milliarden. Die Krise zeigt: Vorbeugende Sozialpolitik braucht bedarfsgerechte Leistungen, Ressourcenreserven und universelle Schutzsysteme. Die Institutionen der Daseinsvorsorge müssen dauerhaft vor der Sparwut geschützt und als Felder mit gesellschaftlichem Zusatznutzen anerkannt werden. Und alle Formen abhängiger Arbeit müssen in den Solidarverbund integriert werden und verlässliche Leistungszusagen erhalten. Im Kultur-, Kommunikations-, aber auch im Pflege- und Gesundheitssektor sowie in der Bauwirtschaft sind Formen prekärer Arbeit außerhalb des Beschäftigtenstatus geradezu explodiert. Der beschönigende Begriff der Soloselbstständigkeit kaschiert nur mühsam die soziale Existenzkrise, in die viele der Betroffenen gegenwärtig geraten. Konzepte einer universellen Bürger- und Erwerbstätigenversicherung, wie sie in der sozialstaatlichen Reformdebatte vorgelegt wurden, gewinnen durch die Krise neue Dringlichkeit.

Grundlegende Korrekturen in Produktions- und Verteilungsverhältnissen sind anzugehen

Zugleich wird die Vermeidung eines absehbaren, aber fatalen Zielkonflikts die eigentliche Herausforderung sein. Finanzmittel, die in die Stabilisierung von Wirtschaft und Arbeitsplätzen fließen, stehen für ihre Ökologisierung nicht mehr zur Verfügung. Es droht eine Mittelkonkurrenz zwischen Krisen- und Klimaschutz. Vermieden werden kann sie, wenn die Stabilisierungsinvestitionen mit einem ökologischen Mehrwert einhergehen. Dieser muss Ziel öffentlicher und öffentlich geförderter Investitionen werden. Etwa solche in klimaschonende Infrastrukturen, energiesparende und emissionsvermeidende Produktionsverfahren und naturverträgliche Produkte. Noch profitable Unternehmen und Vermögende müssen sich an der Finanzierung beteiligen und Dividenden in unterstützten Unternehmen ausgesetzt werden.

Notwendig sind grundlegende Korrekturen in den Produktions- und Verteilungsverhältnissen. Hier versagt der Markt. Politische Interventionen etwa durch Schadstoffgrenzen und Produktauflagen sind unverzichtbar. Aber auch Eingriffe in die Eigentums- und Verfügungsrechte. Gelten muss: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen und öffentliche Einflussnahme folgen. Schon die Miteigentümerschaft der öffentlichen Hand ermöglicht Einflussnahme auf Unternehmenspolitiken.

Diese Möglichkeiten müssen offensiv genutzt werden. Ohne ideologische Vorbehalte, nach demokratischen Entscheidungen und orientiert an den Imperativen der sozial-ökologischen Transformation. In einer gemeinsamen Erklärung fordern etwa Umweltverbände und IG Metall, mittels regionaler und bundesweiter Transformationsräte einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die unverzichtbaren Maßnahmen des Klimaschutzes zu organisieren. Sollten sich diese Räte als Orte demokratischer Verständigung bewähren, könnte es eine vornehme Aufgabe der öffentlichen Anteilseigner sein, ihnen Einflusskanäle in die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmen zu eröffnen. Kurzum, nicht Privatkapitalismus, sondern Wirtschaftsdemokratie lautet die Perspektive.

Kampf gegen Corona-Pandemie als befristetes Notmanöver mit riskanten Eingriffen

Trotz der Annehmlichkeiten sozialer Entschleunigung und des reduzierten Schadstoffausstoßes: Der Shutdown der Ökonomie mit seinen ökonomischen Verwerfungen, sozialen Kosten und absehbaren Wiederanlaufkonflikten ist keine positive Blaupause für die ökologische Transformation. Fantasien dieser Art, auch linke, sind fehl am Platz. Der Kampf gegen Corona ist ein befristetes Notmanöver mit riskanten Eingriffen in Gesetzgebung, Bürgerrechte und Alltagsleben. Die sozial-ökologische Transformation muss hingegen als dauerhafter und vor allem demokratischer Prozess konzipiert werden.

Doch die schlichte Rückkehr zum Bekannten taugt eben auch nicht als Zukunftsvision. Ein durchgreifender sozial-ökologischer Reformismus muss die Weichen in Richtung Sozialschutz und ökologische Wirtschaftsdemokratie stellen. Mut zur Kapitalismuskritik ist hier gefragt.

Das alles wird sich auch auf europäischer Ebene bewähren müssen. Die Corona-Tragödien in wichtigen Mitgliedstaaten überforderten die nationalen Selbsthilfekräfte. Der Komplettausfall der Europäischen Union als Organisator innereuropäischer Solidarität war eine Katastrophe. Unterlassene Hilfeleistung statt Solidarität. Der folgende Ansehensverlust könnte sich für Europa zur Existenzkrise auswachsen.

Die EU wird bald vor einer weiteren, vielleicht der letzten Bewährungsprobe stehen. Die besonders von der Krise gebeutelten Länder bleiben auch bei der Bewältigung der Krisenlasten auf solidarische Hilfen angewiesen. Wenn Außenminister Maas den bevorstehenden deutschen EU-Vorsitz zur Corona-Präsidentschaft machen will, muss dies mit ausreichender materieller Unterstützung unterlegt werden. Die EU sollte nicht noch einmal versagen.

Hans-Jürgen Urban ist promovierter Sozialwissenschaftler und als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall zuständig für Sozialpolitik, Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik.

Die Serie in der Frankfurter Rundschau „Die Welt nach Corona“

Mitten in der Krise über die Welt danach zu reden – ist das eine Zumutung? Haben wir nicht alle genug damit zu tun, die Beschränkungen des alltäglichen Lebens, die Angst vor der Erkrankung und den materiellen Folgen zu bewältigen? Wir haben uns entschieden, den Blick in die Zukunft dennoch zu wagen. Wir sind überzeugt, dass wir jetzt überlegen müssen, was auf Dauer anders werden muss, damit es für alle besser wird.

Sehr unterschiedliche Aspekte soll diese Serie abdecken: von der Erfahrung der fehlenden Verfügbarkeit über das eigene Leben bis zu einer grundlegenden Neugestaltung der Wirtschaftsordnung.

Viele Gastautorinnen und -autoren haben ihre Teilnahme zugesagt, etwa die Philosophinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi sowie der Erfolgsautor Paul Mason. Die nächste Folge erscheint am 22. April.

Bereits erschienen sind Beiträge von FR-Autor Stephan Hebel, der Soziologin Sabine Hark und der Linken-Politikerin Katja Kipping sowie ein Interview mit dem Zukunftsforscher Horst Opaschowski.

Alle Teile der Serie online unter www.fr.de/welt-nach-corona

Mit einem Phasenmodell macht die indische Ärztin Monika Langeh Mut, die Corona-Krise als Chance für die persönliche Entwicklung zu nutzen. Sie erklärt, worauf es dabei ankommt.

Um die Corona-Pandemie zu überstehen braucht es Wissenschaft ohne nationale Grenzen. Deutschland muss beim Schutz ihrer Freiheit ein Vorbild sein.

Corona-Krise: Was Solidarität auch meinen könnte. Der letzte Artikel aus der Serie „Die Welt nach Corona“ .