Post aus Washington
Das kaputte Amerika
Eine Kolumne von Fabian Reinbold
17.04.2020
Donald Trump will die USA wieder öffnen, das Land spürt die Folgen der Krise besonders heftig. Schon jetzt zeigen sich Notsituationen, die hierzulande kaum vorstellbar sind.
In den USA richtet die Corona-Krise ganz andere Verwüstungen an als in Deutschland. Das betrifft nicht nur das Virus, sondern auch die wirtschaftlichen Folgen.
Mehr als 22 Millionen neue Arbeitslose sind es nun binnen vier Wochen. Das ist so, als ob in Deutschland plötzlich sechs Millionen Arbeitsplätze wegfielen. Und in Wahrheit sind das nur diejenigen, die sich in den Bundesstaaten erfolgreich für Hilfen registrieren konnten. Die Zahl verschweigt jene, deren Anträge wegen der massenhaft abgestürzten Websites, der dauerbesetzen Hotlines noch gar nicht verbucht sind. Es haben also noch deutlich mehr Amerikaner ihren Job verloren.
Die eindrücklichsten Fotos sind derzeit die der Schlangen vor den Essensausgaben im Land. Als ich die ersten Bilder sah, Drohnenaufnahmen bei Pittsburgh, hielt ich sie einen Augenblick lang für eine Fälschung.
Doch nun kommen sie von überall, die schweren Karren in Reih und Glied in San Antonio, in kurvigen Schlangen im kalten Minneapolis, Stoßstange an Stoßstange in Florida. Zum Teil ist es apokalyptisch. Als ich die Bilder aus San Antonio sah, der Armen in den großen SUVs, den Pick-ups für 50.000 Dollar, und mich fragte: Wer fährt solche Karren und kann sich kein Essen leisten?
Ich rief Annamaria Lusardi an und sie antwortete: „Tja, so ist das in Amerika.“
Lusardi ist Expertin dafür, wie Menschen mit Geld umgehen. Sie beriet dazu die US-Regierung sowie ihr Heimatland Italien. Sie ist Wirtschaftsprofessorin an der George Washington University in Washington, D.C. und auch 30 Jahre in den USA haben der Italienerin nicht das rollende „R“ rauben können. Lusardi sagt es so: Kredite sind zu leicht zu bekommen, die Amerikaner legen nichts beiseite und da die Autos auf Pump finanziert sind, verraten sie anders als in Europa nichts über Kaufkraft.
Sie bezeichnet viele Amerikaner als „financially fragile“. Die Finanzen sind zerbrechlich. Die Amerikaner sparen nicht, leben, wie man hier sagt, from paycheck to paycheck, auf gut Deutsch: von der Hand in den Mund. Wenn der paycheck wegfällt, bricht alles zusammen.
Und genau das passiert gerade in allen Ecken Amerikas.
Jeder zweite Haushalt, so eine Studie der US-Notenbank, hat keinen Notgroschen beiseitegelegt. Warum das so ist, ist Lusardi noch immer nicht „komplett klar“. Aber wichtig sei: „Seit den Achtzigerjahren sind die Löhne nicht so sehr gestiegen, dafür aber die drei größten Ausgabenposten umso mehr: Wohnen, Gesundheit, Ausbildung.“
Ich denke an diese ganzen harten Gesetzmäßigkeiten Amerikas:
- Die Uni-Schulden erdrücken ganze Generationen, doch sie wissen, ohne College-Besuch droht ein Leben in prekären Jobs.
- Einen Job zu haben, heißt hier noch nicht, auch eine Krankenversicherung zu haben. Wer seinen Job verliert, ist meist auch sofort seine Krankenversicherung los.
- Selbst wer eine hat, kann dennoch Arztrechnungen über Tausende Dollar bekommen.
- Wer krank ist, geht trotzdem zur Arbeit, weil kaum jemand Lohnfortzahlung im Krankheitsfall genießt.
- Arbeitslosengeld? Von Staat zu Staat unterschiedlich, gibt es aber nur ein halbes Jahr. Wer bis dahin keinen Job aufgetrieben hat: Pech.
Das Land ist auf Arbeit getrimmt. Wer nicht genügend Geld hat, arbeitet mehr, nebenbei noch ein paar Schichten im Restaurant, noch ein paar Tage Uber fahren. Jetzt, wo man nicht mehr arbeiten kann, funktioniert das System nicht mehr. Auch wenn die Regierung jetzt Schecks schickt (Überstunden bei der Steuerbehörde, weil Trumps Name draufstehen soll), Arbeitslosenhilfe ausweitet, eine zaghafte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für zwei Wochen etabliert.
Kurzarbeit? Arbeitslosengeld, bei dem man zwei Drittel des Lohns bekommt? Not in America.
Und natürlich erwischt es die Afroamerikaner besonders arg. Sie sind ärmer, kränker, seltener krankenversichert, haben öfter Jobs, bei denen kein Homeoffice geht, aber das Ansteckungsrisiko hoch ist: Busfahrer, Einzelhandel, Pfleger. Beispiel Louisiana: Schwarz sind 32 Prozent der Einwohner, ihr Anteil an Toten beträgt aber 60 Prozent.
Ich muss an Madonna denken, die sich vor drei Wochen in ihrer Badewanne filmen ließ. Hockte zwischen Rosenblüten im Wasser und redete darüber, dass das Coronavirus der „große Gleichmacher“ sei, egal ob arm oder reich, es mache alle gleich. (Falls Sie’s mit eigenen Augen sehen wollen, bitte hier.) Ich hoffe, jemand hat ihr die Bilder der Essensausgaben gezeigt.
Ich telefonierte mit der Capital Area Food Bank, einem Zwischenhändler in der Armenspeisung, der 450 Essenausgaben beliefert. 400.000 Menschen im Großraum Washington benötigten diese Essenspenden schon vor der Krise, sagt eine Mitarbeiterin. „Die meisten Leute, die wir versorgen, haben einen Job, der aber nicht genug abwirft.“
Vor einem Jahr standen plötzlich Regierungsangestellte in den Schlangen, als Trump vier Wochen die Bundesregierung lahmlegte (er wollte Geld für seine Grenzmauer erpressen). Die Chefin sagt: Der Bedarf an Essen sei gestiegen, mancherorts um 30 Prozent, mancherorts um 400 Prozent.
Trump hat also recht, wenn er zur Öffnung des Landes sagt: „Wir müssen eine funktionierende Wirtschaft haben.“
Das Problem ist, dass er die Not verschärft hat, indem er wochenlang kleingeredet, Nebelkerzen geworfen, Zeit verschwendet, die Institutionen geschwächt oder gleich ganz gestrichen hat: wie das Pandemie-Büro im Weißen Haus. Es gibt immer noch einen großen Mangel an Tests und damit an verlässlichen Daten.
Und die Krise wird, wie alles, hemmungslos politisiert. Für die einen ist Trump persönlich an allem Schuld. Auf der anderen Seite wüten sie in Trump-Käppis und Fahnen vor dem Kapitol in Ohio wegen der bestehenden Ausgangssperre.
Wenn ich in diesen Wochen auf das Land schaue, sehe ich eine Supermacht nah am Abgrund, taumelnd, um sich schlagend, bisweilen orientierungslos. Ein Land, das den Shutdown tatsächlich nur kürzer verkraften kann als andere. Ich sehe ein kaputtes Amerika.
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Hoffnung besteht dennoch: Die amerikanische Hire-and-Fire-Wirtschaft macht auch aus, dass es so rasant wie bergab auch wieder bergauf gehen kann. Dass die US-Konjunktur dank Masse noch einmal die Weltwirtschaft hochzieht. Denkbar ist auch, dass nach einem Wahlsieg im Herbst die Demokraten ihr Versprechen einlösen, das Gesundheitssystem auszubauen.
Es ist möglich, dass es Amerika sein wird, wo ein bahnbrechendes Covid-19-Medikament entdeckt wird, wo das ersehnte Impfmittel zuerst bereitgestellt wird. Es ist wahrscheinlich, dass die digitalen Riesenkonzerne von der US-Westküste etwas austüfteln, das unser aller Leben im nächsten Jahrzehnt prägen wird. Das ist Amerikas Stärke. Doch die Supermacht steht nicht mehr auf stabilen Füßen.
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