In der Heinrich-Böll-Stiftung gab es im Januar 2021 eine Kontroverse um ein Strategiepapier mit der Überschrift: „Transatlantisch? Traut euch!“ (veröffentlicht am 20.1.21, zwei Tage vor dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags).
Hier der umstrittene Auszug aus dem Papier (mit der Kennzeichnung der vor allem kontroversen Forumulierungen/Aussagen) (Quelle: https://anewagreement.org/)
„Nato: Mehr Verantwortung wagen
Das Sicherheitsbündnis ist der Glutkern der transatlantischen Partnerschaft. Deutschland und Europa können ihre Sicherheit und Verteidigung ohne die amerikanische Beistandsgarantie, wie sie in Artikel 5 des NATO-Vertrages verankert ist, nicht gewährleisten. Die Konfliktstrategie Russlands und sein wachsendes militärisches Potential verlangen amerikanisches Gegengewicht. Die USA haben im Zuge zweier Weltkriege gelernt, dass ihr elementares Interesse an einem stabilen, nicht von einer Macht dominierten Europa die militärische Präsenz auf dem Alten Kontinent erfordert – und dass Verbündete hilfreich sind, um die liberale internationale Ordnung aufrechtzuerhalten.
Die Krise der vergangenen Jahre bestand vor allem darin, dass Zweifel wuchsen, ob die strategischen Grundannahmen über Wesen und Wert der Sicherheitspartnerschaft noch auf beiden Seiten des Atlantiks geteilt werden. Die Zweifel wurden nicht nur von der harschen Rhetorik und den Alleingängen von Präsident Trump genährt, sondern auch von deutschen Versäumnissen: dem Mangel an Verlässlichkeit (Abrücken von der 2%-Zusage), an strategischer Kohärenz (Nordstream 2) und an Initiative (Stabilisierung Mittelmeerraum).
Nun bietet sich Deutschland die Chance, gemeinsam mit Präsident Biden und den anderen Verbündeten die NATO als wichtigste Institution der transatlantischen Partnerschaft zukunftsfest zu machen. Das kann nur durch eine ambitionierte Neue Übereinkunft gelingen, die im Kern besagt: Die europäischen NATO-Staaten – mit Deutschland an erster Stelle – erhöhen ihre Fähigkeiten zur konventionellen Verteidigung erheblich. Dadurch entlasten sie die USA in Europa und erleichtern es ihnen, sich auf den Indo-Pazifik zu konzentrieren und dort die Interessen der liberalen Demokratien zu schützen. Im Gegenzug bekräftigen die USA ihr Bekenntnis zur Verteidigung des gemeinsamen Bündnisgebietes und untermauern es durch ihre nukleare Schutzzusage sowie ihre dauerhafte militärische Präsenz in Europa.
Dieser Neuen Übereinkunft muss eine wesentliche Erkenntnis zugrunde liegen: Gestärkte und geeinte europäische Bündnispartner sind im Gesamtinteresse der atlantischen Allianz. Das bedeutet auch, dass Europa deutlich stärker werden muss. Europa muss als Partner der USA und tragende Säule der transatlantischen Gemeinschaft handlungsfähig sein. Nicht um Amerika loszuwerden (wie es bei manchen in der Rede von „europäischer Souveränität“ und „strategischer Autonomie“ mitschwingt), sondern im Gegenteil, um Amerika grundsätzlich in Europa zu halten – mit allen Vorteilen, die das für die politische Statik des Kontinents und damit nicht zuletzt für Deutschland bringt.
Bei der Umsetzung dieser Neuen Übereinkunft kommt Deutschland die Schlüsselrolle zu. Aufgrund seiner Größe und Kraft blicken Verbündete, Partner und Gegner vor allem auf unser Land. Es ist Deutschland, das die wesentliche Kraftanstrengung zur besseren konventionellen Verteidigungsfähigkeit der NATO in Europa erbringen muss. Das erfordert für Deutschland die beschleunigte und vollständige Umsetzung der vereinbarten NATO-Streitkräfteziele. Das setzt die substantielle Erhöhung des Verteidigungshaushaltes voraus, die Modernisierung der Beschaffungsprozesse sowie die Bereitschaft, Deutschland bei der Rüstungszusammenarbeit für seine NATO-Partnern berechenbar zu machen. Vor allem erfordert das den Konsens innerhalb der Bundesregierung, dass eine einsatzbereite Bundeswehr von höchster Priorität ist, weil sie der Diplomatie Gewicht verleiht, einen unverzichtbaren Beitrag zur transatlantischen Glaubwürdigkeit, zur Abschreckungsleistung der NATO und damit zur Freiheit und Wahrung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands erbringt.
Dazu gehört auch, dass Deutschland an der Nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss. Der nukleare Schutzschirm der USA ist für alle nicht-nuklearen NATO-Staaten in Europa unverzichtbar. Es sollte ihn geben, solange es Nuklearwaffen gibt und die Bedrohung anhält. Nukleare Teilhabe drückt die besondere Bereitschaft zur Risiko- und Lastenteilung und zu größter Solidarität unter Verbündeten aus. Sie ist ein Kernelement der strategischen Verbindung zwischen den transatlantischen Partnern, die mit der Neuen Übereinkunft unterstrichen wird.
Eine deutlich verbesserte militärische Handlungsfähigkeit allein genügt aber nicht. Notwendig ist eine politische Kraftanstrengung: Initiativen, mit denen Deutschland seinen Beitrag zur Lastenteilung erhöhen sollte.
Das betrifft vor allem die Peripherie von EU und NATO. Vom Hohen Norden über die Ostsee, Belarus und die Ukraine, den Westbalkan und den Kaukasus bis zum Mittelmeerraum des Nahen Ostens und Nordafrikas: Überall bestehen Krisen oder gar tatsächliche Konflikte, die durch größeres Engagement, gezielteres und besser abgestimmtes Vorgehen gemildert werden könnten. Mehr deutsche Kreativität und Führungsbereitschaft würden nicht nur zu einer weiteren Entlastung Amerikas beitragen, sondern Europa sicherer machen. Hier liegt auch erhebliches Potential für ein besseres Zusammenwirken der Instrumente von EU, NATO und der einzelnen Mitgliedstaaten.
Um die Nützlichkeit der Allianz für alle Mitgliedstaaten zu erhöhen, sollte Deutschland sich dafür einsetzen, die NATO nicht nur als militärisches, sondern auch als politisches Bündnis zu stärken. Zwei Vorschläge der Reflexionsgruppe zur „NATO 2030“ um Thomas de Maizière und Wess Mitchell sind dabei besonders hervorzuheben. Zum einen sollte Deutschland den NATO-Generalsekretär darin unterstützen, das Strategische Konzept von 2010, in dem von Russland nur als Partner und von China gar nicht die Rede ist, den neuen Gegebenheiten anzupassen. Und zum anderen sollte der Nordatlantikrat zum eigentlichen Ort der politischen und strategischen Debatte der transatlantischen Partner werden – über alle regionalen und globalen Entwicklungen, die ihre gemeinsame Sicherheit betreffen. Anstatt schwierige Themen auszusparen oder in ritualisierten Formen zu ersticken, sollte der Rat zu allen sicherheitsrelevanten Fragen den offenen, auch informellen Austausch suchen. Nur so lässt sich eine bündnisgemeinsame Linie schmieden, der die Nationen politische Verbindlichkeit beimessen.
Nicht zuletzt sollte Deutschland in der NATO anregen, die Partnerschaften mit liberalen Demokratien in aller Welt, aber vor allem im Indo-Pazifik zu intensivieren. Statt eines passiven Angebots braucht die NATO maßgeschneiderte, proaktive Programme, um strategische Partner wie Australien, Japan und Südkorea enger an den Kern des Westens zu binden. Auch bei diesen Maßnahmen sollte wechselseitige Nützlichkeit angestrebt werden, nicht bloß wohlfeile Freundschaftsbekenntnisse.
In Deutschland haben zu viele zu lange die NATO als amerikanische Institution begriffen. Wir Deutsche sollten verstehen: Diese NATO ist unsere NATO; die NATO aller Mitgliedstaaten. Deutschland hat es mehr als jede andere Nation in der Hand, durch mehr Initiative und verstärkte Beiträge die Allianz so zu formen, dass sie als Glutkern des Westens weiter lodert und nachhaltige Antworten auf die sicherheitspolitischen Fragen gibt, die sich Deutschland stellen.“
Transatlantisch? Traut euch! Plädoyer für eine atomwaffenfreie Welt – Ein Diskussionsbeitrag von Stipendiat*innen der Heinrich-Böll-Stiftung
(auch hier mit Markierung besonders zentraler Aussagen)
Wir Stipendiat*innen verstehen uns als Multiplikator*innen der Werte der Heinrich-Böll-Stiftung in der Gesellschaft. Deshalb sehen wir es in unserer Verantwortung, gegen eine Militarisierung des transatlantischen Verhältnisses im 21. Jahrhundert Stellung zu beziehen.
Als Heinrich Böll am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten vor über 300.000 Menschen sprach, stand er dort als „Staatsbürger und Zeitgenosse“. Für Böll war Abrüstung Grundüberzeugung, seine Haltung war unmissverständlich: keine Pershing-II-Raketen in Deutschland.
Wir – Stipendiat*innen und ehemalige Stipendiat*innen der Heinrich-Böll-Stiftung – verstehen die Erfahrungen aus der Friedensbewegung als Lehre und Mahnung. Dass die Aufrüstungsspirale und die nuklearen Zuspitzungen in den Nachkriegsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein friedliches Ende fanden, dass sich die Geschichte menschlichen Lebens auch 2021 noch fortschreiben lässt, ist in diesem Kontext nie eine Selbstverständlichkeit gewesen. Es ist vielmehr ein historisches Zeugnis, dass Gewaltfreiheit und aktive Friedenspolitik erfolgreiche und nachhaltige Politikstrategien waren und sind. Engagement für nukleare Abrüstung und der Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt sind für uns nicht nur Ideal, sondern notwendige Selbstverpflichtung einer progressiven Stiftung.
Umso mehr stellt das im Rahmen einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellte Positionspapier Transatlantisch? Traut Euch! Für eine neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika für uns einen grundlegenden Bruch mit den Werten und Zielen der Stiftung dar. Die Autor*innen argumentieren für mehr konventionelle Aufrüstung in Europa und eine neue Zusage an die nukleare Teilhabe. Mitunterzeichnet wurde das Papier von einer der beiden Vorsitzenden der Stiftung.
Wir Stipendiat*innen verstehen uns als Multiplikator*innen der Werte der Heinrich-Böll-Stiftung in der Gesellschaft. Deshalb sehen wir es in unserer Verantwortung, gegen eine Militarisierung des transatlantischen Verhältnisses im 21. Jahrhundert Stellung zu beziehen.
Die sicherheitspolitische Weltlage hat sich seit Ende des Kalten Kriegs massiv verändert. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Warschauer Pakts verschwand auch die unmittelbare Bedrohung, die die NATO zum Kern des transatlantischen Bündnisses werden ließ. Eine Neudefinition der transatlantischen Partnerschaft muss dieser veränderten Lage Rechnung tragen.
Wer das Positionspapier liest, bekommt einen anderen Eindruck vermittelt. Die Rede ist von der NATO als „Glutkern der transatlantischen Partnerschaft“, die vor allem Deutschland in den vergangenen Jahren vernachlässigt und als selbstverständlich angesehen habe; von einer NATO, die angesichts globaler Machtverschiebungen wieder eine zentrale Rolle im deutsch-amerikanischen Verhältnis einnehmen müsse. Die Forderungen nach konventioneller Aufrüstung und nach einer neuen Zusage zur nuklearen Teilhabe stehen einer Neudefinition der transatlantischen Beziehungen, wie die Autor*innen sie mehrfach fordern, diametral entgegen. Vor allem aber sind sie mit den Werten der Heinrich-Böll-Stiftung und ihres Namensgebers nicht vereinbar.
Grundsätzlich erscheint uns die Fixierung auf die Notwendigkeit dezidiert deutschen Handelns problematisch. Bestenfalls zeichnet das Papier ein Bild der Europäischen Union als nachgeordneter Kraft hinter Deutschland als zentraler Akteurin dieser „Neuen Übereinkunft“. Ein solch bilaterales Bild der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA wirkt mehr als befremdlich in einem Aufruf, der die erwartete Rückkehr der USA zum Multilateralismus als Ausgangspunkt der eigenen Analyse wählt. Wer das transatlantische Verhältnis im 21. Jahrhundert neu definieren möchte, muss die Beziehungen zwischen den USA und der EU in den Blick nehmen, nicht die zwischen den USA und einzelnen EU-Mitgliedstaaten.
Insofern steht die Forderung nach nationaler konventioneller Aufrüstung in einem Spannungsverhältnis zur europäischen Verteidigungsarchitektur. Europäische Strategien wie die gemeinsame Forschung, Entwicklung und Beschaffung sowie das sogenannte Pooling und Sharing, welches unter dem Namen Smart Defence auch in der NATO kein Fremdwort ist, werden durch solche Aufrufe konterkariert. Zudem sollte man nicht vernachlässigen, dass die Einhaltung des 2%-Ziels für Deutschland einen Verteidigungsetat der Größe Russlands bedeuten würde. Wer also eine neue militärische Ausrichtung der transatlantischen Zusammenarbeit fordert, sollte Abstand von willkürlicher nationaler Aufrüstung nehmen und den Blick vielmehr auf Fragen der Interoperabilität richten.
Weitergehend irritieren uns der Zeitpunkt der Veröffentlichung und die Wortwahl des Positionspapiers. Am Tag der Vereidigung Joe Bidens und nur zwei Tage vor dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags, stellten einige der Unterzeichner*innen den Aufruf vor. Die Autor*innen betonten zwar richtigerweise, dass Joe Biden in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seines Vorgängers sei. Dennoch erweckt der Aufruf den Eindruck, der Bruch in den transatlantischen Beziehungen sei bereits durch die bloße Amtseinführung Joe Bidens wieder ein Ding der Vergangenheit. Diese Analyse wirkt zum jetzigen Zeitpunkt zumindest voreilig, wenn nicht gar fahrlässig. Diskussionen über die „strategische Autonomie“ Europas sollten nicht als Versuche verstanden werden, das transatlantische Bündnis auszuhöhlen. Dennoch haben die vergangenen vier Jahre gezeigt, dass die USA als stabile Partnerin auf der anderen Seite des Atlantiks keineswegs für selbstverständlich gehalten werden kann. Die Wahl Joe Bidens darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die destruktiven Kräfte, die Donald Trumps Präsidentschaft entfesselt hat, auch in Zukunft weiterwirken. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass noch mal eine vergleichbare Person Präsident*in werden könnte. Eine Neudefinition und Re-Intensivierung der Beziehungen zwischen den USA und Europa ist wünschens- und fördernswert, darf aber diese Aspekte nicht vernachlässigen.
Langjährige Partner*innenorganisationen der Heinrich-Böll-Stiftung – wie die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und das Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) – engagieren sich gegen Nuklearwaffen. Ebenso spricht sich die stiftungsnahe Partei Bündnis 90/Die Grünen – auch im kürzlich verabschiedeten Grundsatzprogramm – gegen die nukleare Teilhabe aus. Die Heinrich-Böll-Stiftung selbst zitiert auf ihrer Website Omid Nouripour, außenpolitischen Sprecher der Grünen im Deutschen Bundestag: „Atomwaffen sind eigentlich nur aus zwei Gründen da: Abschreckung. Abschreckung ist kein Dialog, Abschreckung ist Angst und Schrecken. Das zweite ist Vernichtung.“
Wir sind von der Unterstützung der nuklearen Teilhabe in dem Positionspapier zutiefst enttäuscht. Zusätzlich unterliegt die nukleare Teilhabe wesentlichen technischen Restriktionen, die ihre Abschreckungswirkung in Frage stellen. Auch ist ihre Völkerrechtskonformität unter Expert*innen umstritten.
Die NATO als „Glutkern der transatlantischen Beziehungen” gehört der Vergangenheit an. Die Methoden des 20. Jahrhunderts – militärisches Kräftemessen, Blockkonfrontation und grenzenlose ökonomische Expansion – haben ausgedient. Statt des Versuchs, ein Sicherheitsparadigma vergangener Tage wiederzubeleben, bedarf es heute einer vertieften Kooperation im Kampf gegen die Klimakrise, zum Schutz demokratischer Werte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, zur Stärkung der liberalen internationalen Ordnung, des Multilateralismus und seiner Institutionen sowie einer Renaissance des Rüstungskontrollregimes. Die großen Herausforderungen unserer Zeit erfordern ungekannten politischen Mut und Visionen auf beiden Seiten des Atlantiks.
In einer Welt voller bewaffneter Konflikte kann für uns „Traut Euch!“ nicht eine Aufforderung sein, die Spirale der militärischen Aufrüstung weiter zu befördern. Vielmehr bedarf es eines „Traut Euch!“ diese Entwicklung zu durchbrechen und neue Wege der Kooperation und des Dialogs zu wagen und zu fördern.
Einen Beitrag zu aktiver Friedenspolitik zu leisten ist ausdrückliches Leitziel der Heinrich-Böll-Stiftung. Als Stipendiat*innen sprechen wir uns für ein unbedingtes Festhalten an diesen Grundwerten der Stiftung und ihres Namensgebers aus.
Um mit Heinrich Böll zu schließen: „Für den Frieden sind wir alle, die Frage ist nur, wie er sicherer wird – durch Rüstung oder Abrüstung!“