General a. D. Harald Kujat: «Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen»

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Interview mit General a. D. Harald Kujat*

«Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen»

«Die Bundesregierung ignoriert weiterhin das Friedensgebot der Verfaßung»

Zeitgeschehen im Fokus In verschiedenen Nachrichtenportalen war zu vernehmen, dass die Ukraine Ende Juli eine erneute Offensive gestartet habe. Wißen Sie etwas darüber?

General a. D. Harald Kujat Der Beginn der Offensive ist mehrere Monate immer wieder verschoben worden und begann schließlich am 4. Juni. Für die Offensive verfügte die Ukraine anfangs über neun im Westen und drei vom Westen im Lande ausgebildete und mit westlichen Waffen ausgerüstete Brigaden in der Stärke von insgesamt etwa 48 000 Soldaten. Dazu kamen weitere Brigaden der regulären ukrainischen Armee sowie der Territorialverteidigung. Das Ziel der Offensive ist offensichtlich, die russischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen und die Landbrücke zwischen Russland und der Krim zu blockieren, um die russischen Streitkräfte von der logistischen Drehscheibe Krim abzuschneiden. Zugleich käme die Krim in die Reichweite ukrainischer Waffen.

Am Anfang versuchten die ukrainischen Streitkräfte, dieses Ziel durch konzentrierte Angriffe zu erreichen, konnten sich jedoch nicht durchsetzen und erlitten erhebliche Verluste. Auch eine große Zahl der modernen westlichen Waffensysteme ging verloren. Deshalb wurden die Angriffsformationen auf kleine Kontingente reduziert und die Zahl der Vorstöße an verschiedenen Stellen der Front erhöht. Dabei erzielten die ukrainischen Streitkräfte in der vor den eigentlichen Verteidigungslinien gelegenen Überwachungszone punktuell Geländegewinne, allerdings bis dato keinen Durchbruch durch die russische Hauptverteidigungslinie.

Inzwischen werden wieder größere Formationen eingesetzt. Aber die Zweifel an einem Erfolg nehmen zu. Scheitert die Offensive, könnte die Ukraine fordern, westliche Soldaten sollen westlichen Waffen folgen. Denn auch die geplanten westlichen Waffenlieferungen können die personellen Verluste der ukrainischen Streitkräfte nicht ausgleichen.

Dagegen hat Russland bisher noch nicht die Masse seiner aktiven Kampftruppen eingesetzt. Man kann daher davon ausgehen, dass Russland nach weiteren ukrainischen Verlusten in Gegenangriffen dazu übergehen wird, die annektierten Gebiete bis zu den ehemaligen Verwaltungsgrenzen auszudehnen und damit das Ziel der «militärischen Spezialoperation» zu erreichen. Möglicherweise gehört dazu auch Odessa. Falls die russischen Streitkräfte weiter defensiv operieren oder lediglich die bisherigen Eroberungen konsolidieren, so ist mit der Fortsetzung des Krieges in geringer Intensität, jedoch mit langer Dauer zu rechnen.

Ein ukrainischer Feldarzt soll sich dahingehend geäußert haben, pro hundert Meter, die die ukrainische Armee vorrückt, soll es auf ukrainischer Seite fünf bis sechs tote Soldaten geben. Das scheint mir eine enorme Zahl.

Das kann sein, verifizieren kann man das nicht. Aber der ukrainische Generalstabschef, General Saluschnij, hat sich als Reaktion auf westliche Kritik an den ausbleibenden Fortschritten der Offensive ähnlich geäußert: «Jeder Tag, jeder Meter wird mit Blut bezahlt.» Ein Grund dafür ist die asymmetrische Operationsführung beider Seiten. Die ukrainischen Streitkräfte sollen ukrainisches Territorium zurückerobern und zahlen für jeden Quadratmeter einen hohen Blutzoll, während die russischen Streitkräfte das Ziel verfolgen, die ukrainischen Streitkräfte zu dezimieren, den Gegner somit wehrlos zu machen. Außerdem sind die Verluste des Angreifers im Allgemeinen höher als die des Verteidigers, was sich durch die russische Luftüberlegenheit, den Einsatz russischer Kampfhubschrauber und die tief gestaffelten und sehr gut ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen besonders stark auswirkt.

Wissen wir außer allgemeinen Aussagen etwas Konkretes zu den Verlustzahlen?

Beide Seiten veröffentlichen die Verlustzahlen des Gegners, jedoch nicht die eigenen. Gesichert ist, dass die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn der Offensive große Verluste erlitten haben und sich in einem kritischen Zustand befinden. Je länger die Offensive dauert, desto geringer wird ihre Fähigkeit, eine strategische Wende zu erzwingen.

Westliche Politiker glauben jedoch immer noch, die Lieferung weiterer und leistungsfähigerer Waffen könnte die Ukraine in die Lage versetzen, einen militärischen Sieg zu erringen, obwohl beispielsweise der amerikanische Generalstabschef schon Anfang November vergangenen Jahres darauf hingewiesen hat, dass die ukrainischen Streitkräfte das erreicht haben, wozu sie in der Lage sind, mehr sei nicht möglich.

Dennoch erhält jede neue Waffenkategorie das Etikett «Gamechanger» wie die HIMARS-Raketenwerfer, Kampfpanzer und Schützenpanzer, die britischen Storm Shadow Marschflugkörper oder amerikanische Streumunition. Keines dieser Systeme hat die strategische Lage zu Gunsten der Ukraine verändert. Realistischerweise ist dies auch von den F-16-Kampfflugzeugen, die europäische Staaten liefern wollen, nicht zu erwarten. Zumal diese erst nach Abschluss der Pilotenausbildung im Laufe des nächsten Jahres eingesetzt werden können.

Aktuell wird wieder Druck auf die deutsche Bundesregierung ausgeübt, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper mit einer Reichweite bis zu 500 Kilometern zu liefern. Ist das nun der erhoffte «Gamechanger»?

Taurus ist ein nur sehr schwer zu bekämpfender Luft-Boden-Marschflugkörper mit großer Reichweite und hoher Durchschlagskraft. Aber er ist auch nicht die Wunderwaffe, die die strategische Gesamtlage zugunsten der Ukraine verändert.

Wegen der ausbleibenden Erfolge der Offensive hat die Ukraine die Drohnenanschläge auf Ziele in Russland und insbesondere auf Moskau verstärkt. Zurzeit sind auch die Verbindungswege zwischen Russland und der Krim wieder das Ziel von Angriffen, um die Versorgung der russischen Streitkräfte zu stören. Auch die Krim ist das Ziel von Angriffen, obwohl der amerikanische Außenminister noch vor einiger Zeit davor warnte. Die Angriffe auf russische Schiffe und Häfen des Schwarzen Meeres sowie vor allem auf das russische Kernland sollen ausgeweitet werden. Vor wenigen Tagen erklärte Selenskij nach einem Drohnenangriff auf Moskau: «Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück – in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte.» Taurus ist sowohl für Angriffe in der Tiefe Russlands als auch gegen Versorgungseinrichtungen auf der Krim geeignet. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen bereits über britische Storm Shadow, einen vergleichbaren Marschflugkörper.

Wenn schon britische Marschflugkörper in der Ukraine vorhanden sind, warum soll Deutschland das auch noch liefern?

Mit Storm Shadow und dem französischen SCALP-Marschflugkörper sind die ukrainischen Streitkräfte in der Lage, die russischen Versorgungslinien und die Krim anzugreifen. Taurus wäre allerding für einen Angriff in der Tiefe des russischen Raumes hervorragend geeignet. Deutschland würde sich deshalb in besonderem Maße gegenüber Russland exponieren, was sicherlich nicht unwichtig ist. Da die Bereitschaft der deutschen Politik, für die außen- und sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes standhaft einzutreten, offensichtlich unterentwickelt ist, und «Druck» von außen verstärkt «Druck» im Innern generiert, wird diese Forderung schließlich wie zuvor gegen jede Vernunft und ungeachtet unserer nationalen Interessen durchgesetzt.

Was würde es bedeuten, wenn die Deutschen lieferten?

Die Lieferung von Taurus wäre ein weiterer Schritt in Richtung Europäisierung des Krieges.

Denn die USA weigern sich bisher, weitreichende Waffen zu liefern, die russisches Territorium angreifen können, weil sie darin eine große Eskalationsgefahr sehen, obwohl sich die Ukraine seit fast einem Jahr um die Lieferung amerikanischer ATACMS-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 300 Kilometern bemüht. Weil sie den ukrainischen Zusicherungen nicht vertrauen, derartige Waffen nur auf ukrainischem Territorium einzusetzen, haben die USA HIMARS-Raketenwerfer nur mit Projektilen geliefert, die eine Reichweite von 85 km haben, nicht die mit 150 km Reichweite.

Die USA überlassen es den Europäern, amerikanische F-16 zu liefern, und die Abrams-Panzer lassen auch auf sich warten.

Dass die Ukraine entgegen ihrer Zusicherung kürzlich Streumunition bei einem Angriff auf das Stadtgebiet von Donezk gegen zivile Ziele eingesetzt hat, bestätigt die amerikanische Zurückhaltung. In Deutschland wird die Möglichkeit diskutiert, die Reichweite des Marschflugkörpers durch Änderung «technischer Merkmale» einzuschränken. Dies und die Möglichkeit, dass die amerikanische Regierung ihre Bedenken wegen der desperaten Lage der ukrainischen Streitkräfte zurückstellt und ATACMS in der Hoffnung liefert, eine militärische Niederlage abzuwenden, könnte die Bundesregierung veranlassen, Taurus im Tandem mit den USA abzugeben. Das wäre allerdings ein großer Eskalationsschritt, mit dem faden Beigeschmack, dass wieder deutsche Waffen Russland angreifen.

Wie weit könnte die Eskalation noch gesteigert werden?

Russland hat nach der ersten Sprengung der Kertsch-Brücke, die auch die Lebensader für die Bevölkerung der zwei Millionen Krimbewohner ist, mit wochenlangen Angriffen auf die ukrainische Versorgungsinfrastruktur reagiert. Angriffe auf Ziele tief in Russland werden ebenfalls eine massive Reaktion auslösen. Die Frage ist nur, ob diese Reaktion sich gegen die Ukraine oder auch gegen diejenigen richtet, die der Ukraine diese Angriffe ermöglichen.

Nach der Lieferung von Taurus blieben als Steigerung neben den F-16 nur noch deutsche Kampfflugzeuge, was aber eine längere Ausbildungszeit erfordert. Deshalb müsste eine seriöse strategische Lagebeurteilung bei der Entscheidung, Taurus zu liefern, den potenziell nächsten Schritt mitdenken. Falls ATACMS und Taurus die strategische Lage wider Erwarten nicht grundlegend zugunsten der Ukraine ändern, würde der Westen eine militärische Niederlage der Ukraine akzeptieren oder würde die Nato beziehungsweise eine Koalition aus Nato-Staaten in den Krieg eingreifen?

Sie haben gerade die verschiedenen Waffensysteme genannt, die der Westen der Ukraine zur Verfügung stellt und von denen bereits ein großer Teil vernichtet wurde. Es hieß doch immer, der Leopard sei unbesiegbar.

Der Leopard ist sicherlich einer der weltbesten Panzer. Aber er hat – wie jedes Waffensystem – Stärken und Schwächen. Deswegen ist es wichtig, im Einsatz die größtmögliche Synergie zu erzielen, indem die Waffensysteme im Verbund so eingesetzt werden, dass die Stärken des einen Systems die Schwächen eines anderen ausgleichen. Die Befähigung zum Gefecht der verbundenen Waffen erfordert allerdings eine langjährige Ausbildung und häufige Übungen der Kampfbesatzungen und der Vorgesetzten aller Führungsebenen. Die ukrainischen Soldaten verfügen nicht über diesen hohen Ausbildungsstand und eine jahrelange Erfahrung und Übung dieser Operationsform.

Die in manchen Medien geäußerte Kritik am Einsatz der ukrainischen Streitkräfte bei der Offensive und an der nur vier- bis sechswöchigen Ausbildung an den westlichen Waffensystemen greift deshalb zu kurz. Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen das Gefecht der verbundenen Waffen nicht, und das ist neben der russischen Luftüberlegenheit und den starken Geländebefestigungen der russischen Verteidigungslinie ein wesentlicher Grund für die geringen Erfolgsaussichten.

Wenn man sieht, was es alles braucht, um möglicherweise gegen Russland erfolgreich zu sein, scheint dieses Ziel wohl sehr unrealistisch. Aber der Krieg geht weiter, und Tausende junger Menschen sterben. Müsste hier nicht endlich ein Schlussstrich gezogen werden?

Die Ukraine hat sich im russischen Angriffskrieg durch die umfassende Unterstützung des Westens bisher als standhaft erwiesen. Aber die Entscheidung darüber, welcher Aufwand geleistet wird, damit der Krieg gegen jede Vernunft und trotz der Unerreichbarkeit der politischen Ziele weitergeführt wird, darf auf Dauer nicht allein der ukrainischen Regierung überlassen werden.

Denn das Risiko der Eskalation und der Ausweitung des Krieges auf Europa ist real. Die ständige Intensivierung der Kriegsführung hat bereits zu einer großen Zahl gefallener Soldaten und getöteter ukrainischer Zivilisten sowie zur weitgehenden Zerstörung der Infrastruktur geführt.

Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die ukrainischen Verluste und die Zerstörung des Landes, und desto schwieriger wird es, die Europäisierung des Krieges zu verhindern und einen gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden zu erreichen, der auch den Staaten Sicherheit gibt, die an der Seite der Ukraine stehen.

Deshalb ist die ukrainische Regierung gegenüber dem ukrainischen Volk, aber auch gegenüber den Staaten, die sie bei der Verteidigung ihres Landes unterstützen, verpflichtet, jede weitere Eskalation zu verhindern und einen Verhandlungsfrieden mit Russland anzustreben.

Das komplette Interview kann hier nachgelesen werden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-12-vom-22-august-2023.html#article_1545