Quelle: Deutschlandfunk – Stefan Kühl – 14. April 2024
Gesellschaft ohne WärmeDie Renaissance der Gemeinschaftsideologie
Je zersplitterter die Gesellschaft, je individualistischer die Lebensführung, desto stärker das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach einer echten und tragenden Verbindung zwischen Individuen. Diese verständliche Sehnsucht hat jedoch auch Schattenseiten.Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus erteilte die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft dem Traum großer Gemeinschaften eine Absage – durch ihren Rückzug auf die Kleinfamilie, Freundeskreise und Nachbarschaften.Wenn derzeit nun wieder unter dem Label der „Remigration“ von der ethnischen Säuberung der deutschen Gesellschaft geträumt wird, scheint die Idee der Gemeinschaft eine Renaissance zu erleben.Das wohlige Wir-Gefühl, das von dieser Idee ausgeht, ist aber wohl nur um den Preis des vollständigen Aufgehens des Individuums in der Gemeinschaft zu haben. Ob das in der Spätmoderne wünschenswert sein kann?
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zugleich berät er Unternehmen, Verwaltungen und Ministerien in Fragen der Organisations- und Strategieentwicklung. Zuletzt sind von ihm u.a. die Bücher „Der ganz formale Wahnsinn: 111 Einsichten in die Welt der Organisationen“ (Vahlen Verlag) und „Ganz normale Organisationen – Zur Soziologie des Holocaust“ (Suhrkamp Verlag) erschienen.