Gierflation: Wer sind die Gewinner:innen und Verlierer:innen der Inflation?
9. November 2022
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen nie dagewesene Inflationsraten auf. In Deutschland hat sie mit 11 Prozent das zweistellige Niveau erreicht, Österreich liegt ebenfalls bei über 10 Prozent.
Die EU-Bürger:innen sind mit einer Preisexplosion nicht nur bei der Energieversorgung, sondern auch in allen anderenLebensbereichen wie beispielsweise bei Lebensmitteln konfrontiert.
Gleichzeitig verzeichnen Unternehmen in bestimmten Sektoren satte Übergewinne. Da die Marktmechanismen in einer solchen Konstellation nicht mehr funktionieren, ist es die Aufgabe des Staates, ordnungspolitisch einzugreifen.
Wenn Unternehmen mehr verdienen als Gott
ExxonMobil, ein amerikanischer Energiekonzern, wird dieses Jahr voraussichtlich 43 Milliarden Dollar Gewinn einfahren und diesen somit im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln. Dasselbe gilt für den Ölkonzern BP (British Petrol), der seinen Gewinn aus dem ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum letzten Jahr mit 9,1 Milliarden Dollar verdreifacht hat. Ebenso steigerte der deutsche Energiekonzern RWE im ersten Halbjahr 2022 seinen Gewinn um mehr als ein Drittel auf 2,8 Milliarden Euro. Auch das österreichische Unternehmen OMV verzeichnete im ersten Halbjahr 2022 eine Gewinnsteigerung um 124 Prozent.
Joe Biden kommentiert den Profit von ExxonMobil und sämtlichen anderen Profiteuren der Krise mit den Worten: „Wir werden dafür sorgen, dass jeder die Gewinne von Exxon kennt. ExxonMobil hat letztes Jahr mehr Geld verdient als Gott.“ Darin schwingt der Vorwurf mit, dass der Profit von ExxonMobil nicht mit einer gesteigerten Leistung zusammenhängt, die das Unternehmen z. B. durch Investitionen und technologischen Fortschritt erarbeitet hat.
Es verdichtet sich die Überzeugung, dass Unternehmen in strategischen Oligopol- und Monopolsektoren die Abhängigkeit der Verbraucher:innen in der Krise ausnutzen und unangemessene Preise für Produkte verlangen, für die es keine Alternativen gibt.
Eine solche Konstellation wird in den USA als „Greedflation“, zu Deutsch „Gierflation“, bezeichnet. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte diesem Phänomen in ihrer Rede zur Lage der Union im September 2022 klar den Kampf an: „In diesen Zeiten ist es falsch, mit außerordentlichen Rekordgewinnen durch Ausnutzung des Krieges zum Schaden der Verbraucher:innen zu profitieren.“
Gier oder „Nachholinflation“?
Das Konzept der Gierflation stellt den traditionellen Blickwinkel auf den Markt infrage. Also jener Blickwinkel, der sich auf das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage konzentriert. Bei einer solchen Betrachtung ist in einer Marktwirtschaft die Gewinnmaximierung von Unternehmen eine logische Konsequenz und kann nicht als Gier bezeichnet werden.
Gierflation stellt hingegen zum einen infrage, dass den hohen Verkaufspreisen tatsächlich höhere Produktionskosten gegenüberstehen. Des Weiteren wird die Marktstruktur unter die Lupe genommen. Während das Angebot-Nachfrage-Modell Inflation als Phänomen in einem natürlichen Wettbewerb ansieht, definiert das Konzept der Gierflation Inflation als ein Problem, das vor allem durch pure Raffgier der Konzerne und Kartelle angetrieben wird.
Die Art und Weise, wie Gewinne erwirtschaftet werden, entspricht demnach nicht einer Leistungssteigerung der Unternehmen, angespornt durch Wettbewerb, sondern wird durch die Monopolstellung dieser Unternehmen ermöglicht. Preise können in einem solchen Markt mangels Alternativen willkürlich in die Höhe getrieben werden.
Eine derartige monopolistische Marktstruktur ist ein Strukturproblem, bei dem selbst Verfechter der freien Marktwirtschaft an der Selbstregulierungskraft der Märkte zweifeln.
Die Preisgestaltungsmacht von Unternehmen in wichtigen monopolisierten Märkten ist demnach so groß, dass damit die Inflation beschleunigt wird. Die gleichzeitig anfallenden Zufallsgewinne dieser Unternehmen führen beinahe zwangsläufig zu einer sozialen Krise, wenn die Inflation nicht durch höhere Löhne abgefedert wird.
Denn seit 2020 befindet sich das Lohn-Preis-Verhältnis in einer Abwärtsspirale. So sind beispielsweise in den USA die Preiserhöhungen zwischen 1979 und 2019 zu 61,8 Prozent, aber seit 2020 nur noch zu 7,9 Prozent auf Lohnsteigerungen zurückzuführen (siehe Grafik).
In der derzeitigen dynamischen Phase, gekennzeichnet durch starke Preiserhöhungen und sinkende Reallöhne, stellt sich daher zunehmend die Frage nach der Rechtfertigung dieser Marktordnung und nach der sozialen Macht.
Treten wir also in eine Zeit ein, „in der Tätigwerden zählt und Geschichte gemacht wird“? Eine Zeit, in der deutsche und britische Gewerkschaften in Lohnverhandlungen mit einer Forderung nach 10 Prozent Lohnerhöhung gehen oder französische Industriegewerkschaften eine Anhebung des Mindestlohns um 25 Prozent fordern?
Übergewinnsteuer als sinnvoller Ausgleich
Es gibt Ideen, wie diese Lohn-Gewinn-Spirale zurückgedrängt werden kann, um ein soziales Gleichgewicht bei der Preisbildung wiederherzustellen. Hier kommt die sogenannte Übergewinnsteuer ins Spiel, wobei sie wohl treffender Zufallsgewinnsteuer genannt werden sollte. Überproportionale Gewinne ohne signifikante Leistungssteigerung bzw. Erhöhung der Produktionskosten sollen „weggesteuert“ werden.
In den USA wurde dieser Ansatz von Bernie Sanders im März 2022 auf die Agenda gebracht.
Die Idee ist nicht neu: So etwa wurde während des Ersten und Zweiten Weltkriegs in den USA eine Übergewinnsteuer von bis zu 95 Prozent eingeführt, um Zufallsgewinne von Unternehmen, die sie durch die außergewöhnlichen Kriegsereignisse lukrierten, abzuschöpfen.
Zuletzt wurde das Instrument während der Ölkrise in den 80er-Jahren angewandt. Mittlerweile haben zahlreiche EU-Mitgliedstaaten eine Übergewinnsteuer eingeführt. In Großbritannien beläuft sich die Übergewinnsteuer auf 25 Prozent; in Spanien geht man davon aus, durch die Steuer sieben Milliarden Euro in den nächsten zwei Jahren abzuschöpfen; Norwegen erwartet dadurch in diesem Jahr 50 Prozent höhere Steuereinnahmen.
In Österreich ist die politische Zustimmung verhalten, obwohl der Österreichische Gewerkschaftsbund davon ausgeht, dass vier bis fünf Milliarden Euro damit generiert werden könnten. Doch werden viele zögerliche Regierungen möglicherweise von der Europäischen Union überholt: In der Verordnung über Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die hohen Energiepreise ist eine „Solidaritätsabgabe“ für Übergewinne im fossilen Sektor vorgesehen. Sie soll 33 Prozent des steuerlichen Gewinns betragen. Aus Gewerkschaftssicht ist klar: Der Mythos, dass Unternehmen hohe Gewinne unabhängig von der Marktstruktur „verdienen“, ist nicht haltbar – schon gar nicht in Krisen- bzw. Kriegszeiten. Oder, wie Ursula von der Leyen zu Recht festhält: „Gewinne müssen aufgeteilt werden.“ Gewerkschaften werden die Kommissionspräsidentin beim Wort nehmen und darauf achten, dass es nicht bei leeren Worten bleibt.