Quelle: RND – Redaktionsnetzwerk Deutschland
Matthias Koch – 23.11.2021
Homöopathie und Pandemie: Nein zum Impfen aus Liebe zur Natur.
Irgendwann hat Anton Hötzelsperger es aufgegeben. Eine Zeit lang hat er noch versucht, ungeimpfte Bekannte und Freunde zum Impfen zu überreden. Doch es hat einfach nie geklappt, in keinem einzigen Fall.
Zumindest weiß er inzwischen: Es liegt nicht an ihm. Es liegt an der Dickschädeligkeit der Impfgegner und Impfgegnerinnen um ihn herum. Hötzelsperger lebt im Landkreis Rosenheim. Die Region, eine Autostunde südöstlich von München, hat eine Inzidenz von 979 und eine der niedrigsten Impfquoten der Republik. Mitte November meldete das Gesundheitsamt 57,7 Prozent vollständig Geimpfte – und fügte alarmiert hinzu: „Die wöchentlichen Zuwächse bewegen sich nur im Zehntelprozentbereich.“ Was ist da los? Hötzelsperger seufzt. Es sei kompliziert. „Das Beste ist“, sagt er düster, „man klammert das Thema im Alltag aus.“
„Die Impfgegner sind ganz normale Leute“
Der „Toni“ kennt die Leute im Landkreis, er ist hier vernetzt wie wenige. Laptop und Lederhose: Hötzelsperger lebt das bayerische PR-Motto wörtlich vor. Er ist Gründer der „Samerberger Nachrichten“, eines kleinen, vitalen Nachrichtenportals, und er ist Mitglied im regionalen Trachtenverein. In der Tracht durfte er mal Barack Obama die Hand schütteln, im Jahr 2015, vor dem G7-Treffen auf Schloss Elmau. „Die Impfgegner hier bei uns“, sagt Hötzelsperger, „sind ganz normale Leute, tüchtig, erfolgreich, vernünftig.“ Seine Frau Rosi gibt ihm recht: „Das ist hier nichts Politisches.“
Beide berichten von Spritzenverweigerern, mit denen man sich wunderbar eine Stunde lang unterhalten könne, ohne dass sie irgendetwas Seltsames sagen. „Doch wenn die Rede aufs Impfen kommt, setzt es plötzlich aus.“ Dann höre man auf einmal Hasstiraden auf „die da oben“. Oft fielen die Namen Angela Merkel und Markus Söder „und manchmal auch Bill Gates“. In der malerischen Landschaft zwischen Inn und Chiemsee tun sich hinter hübsch getünchten Fassaden Abgründe auf. Da gibt es den Gastwirt, der nach außen hin die 2G-Regel durchsetzt – und sich selbst nicht impfen lassen will. Da gibt es Pfarrgemeinderatsmitglieder, die viel soziales Engagement zeigen – und gleichzeitig Nein sagen zum Impfen. Und da gibt es die resolute Bäuerin, Anfang fünfzig, die stolz verkündet, sie setze gerade in diesen schwierigen Zeiten auf Homöopathie. Die Pharmaindustrie jedenfalls werde ihr „nichts in den Körper spritzen“, das erspare sie auf ihrem Ökohof ja auch ihren Tieren.
Schon mit Masern gab es in Bayern Probleme
Wolfgang Hierl, Chef des Gesundheitsamts in Rosenheim, kennt seine Pappenheimer. Schon vor fünf Jahren gab es ähnliche Probleme. Da lehnten in seiner Region mehr Eltern als irgendwo sonst in Bayern es ab, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen
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Heute wie damals argumentierte Hierl händeringend, es gehe um einen hochansteckenden Erreger, der im Fall schwerer Verläufe bleibende Schäden im Organismus anrichte. Heute wie damals allerdings zeigten sich viele Rosenheimer von den amtlichen Warnungen völlig unbeeindruckt.
Nein zum Impfen aus Liebe zur Natur: Manches klingt da nach grün-alternativem Gedankengut, anderes auch nach Volksgesundheitstheorien wie zu Zeiten der Nazis. Wer gesund lebe und seine Widerstandskraft stähle, habe eigentlich nichts zu fürchten – so sahen es schon die Begründer von Homöopathie und Anthroposophie, Samuel Hahnemann (1755–1843) und Rudolf Steiner (1861–1925). In Steiners Welt ist Krankheit nichts, was unbedingt vermieden werden muss, der Krankheit wird sogar ein erzieherischer Sinn zugemessen. „Wollen wir die Stärke, die Gesundheit, dann müssen wir ihre Vorbedingung, die Krankheit, mit in Kauf nehmen“, lehrte Steiner.
Nirgendwo fand diese Einstellung eine so weite Verbreitung wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Heute sind diese drei Hochburgen der Homöopathie die drei Länder mit den höchsten Anteilen an Ungeimpften in Westeuropa.
Bayern spendiert 800.000 Euro für Homöopathieforschung
Innerhalb Deutschlands genießt die Homöopathie vor allem in Bayern und Baden-Württemberg Ansehen. Der bayerische Landtag genehmigte noch Ende 2019, kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, eine 800.000 Euro teure Studie zu der Frage, „ob durch homöopathische Mittel der Einsatz von Antibiotika reduziert werden kann“. Nach hitziger Debatte gab es aus drei Fraktionen genügend Ja-Stimmen: CSU, Freie Wähler und Grüne. SPD und FDP schüttelten sich. Die sozialdemokratische Gesundheitsexpertin Ruth Waldmann sprach von „Unfug“, der finanzpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Helmut Kaltenhauser, von unfassbarer Geldverschwendung: „Wenn das so weitergeht, schmeißt die Staatsregierung noch eine Million Euro für eine Studie aus dem Fenster, die eruieren soll, ob Exorzisten wirklich den Teufel austreiben können.“ Die Abgeordnete Susann Enders von den Freien Wählern indessen konterte, SPD und FDP sollten aufhören, auf die Homöopathie einzuprügeln: „Wer heilt, hat recht, ob es Ihnen passt oder nicht.“
Wissenschaftlich konnten positive Wirkungen der Homöopathie über Placeboeffekte hinaus weltweit nie nachgewiesen werden. Spürbar sind indessen neuerdings die negativen Wirkungen der Homöopathie auf die laufenden Impfkampagnen. Professorin Sonja Haug konnte in einer Studie des Regensburg Center of Health Sciences and Technology mittlerweile eine Korrelation nachweisen. Ob Homöopathie, Bachblüten oder traditionelle chinesische Medizin: Befragte, die viel von alternativen Heilverfahren halten, haben zugleich eine deutlich niedrigere Impfbereitschaft erkennen lassen als jene, die noch nie von Kügelchen überzeugt waren.
Heilung mit dem Gift der Buschmeisterschlange?
Werden jetzt die Homöopathen zu neuen Sündenböcken der Corona-Debatten? Wissenschaftler warnen vor Vereinfachungen. „Die aktuelle Strömung gegen das Impfen speist sich aus mehreren Quellen gleichzeitig“, sagt Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Liberale Impfverweigerer in der Großstadt wollten ihre individuelle Selbstbestimmung beweisen. Neinsager in der Provinz schraubten sich hinein in den Glauben, ihre Region sei eine eigene, bessere Welt; ein Beispiel sei das Schweizer Alpthal, wo Corona-Rebellen jüngst einen Impfbus blockierten. Der wohl mächtigste und alles überspannende Faktor aber sei eine „Heiligsprechung der Natur“.
Die Szene der Homöopathen hat keine einheitliche Linie. Die einen raten zur Impfung, ein harter Kern aber beharrt auf sehr eigenen Wegen. Jens Wurster zum Beispiel, umstrittener Heiler mit Praxis in der Schweiz, propagiert in der „Allgemeinen Homöopathischen Zeitung“ allen Ernstes eine Überlegenheit der Alternativmedizin auch bei Corona: „Von meinen Patienten konnte ich 80 Prozent erfolgreich mit Bryonia behandeln. Schwere Fälle habe ich mit Lachesis, Arsenicum album oder Carbo vegetabilis therapiert.“ Das alles klingt wissenschaftlicher, als es ist. Bryonia zum Beispiel ist die Weiße Zaunrübe, Lachesis das Gift der Buschmeisterschlange. Wie, bitte, hilft das gegen Corona?
„Einstieg in den Ausstieg aus wissenschaftlichem Denken“
Natalie Grams-Nobmann, Medizinerin und Autorin aus Heidelberg, hält dies alles für Humbug. Die 43-Jährige war zu Beginn ihrer Berufslaufbahn selbst jahrelang homöopathisch tätig, gab dies aber auf – aus Mangel an Beweisen für die Wirkung der Kügelchen und Essenzen. In Büchern, Blogs und Podcasts fordert Grams-Nobmann eine stärkere Patientenorientierung der klassischen Medizin, entlarvt aber gleichzeitig die Homöopathie als „Einstieg in den Ausstieg aus wissenschaftlichem Denken“. Natürlich liege es in der Freiheit von Patienten und Therapeuten, auch irrealen Vorstellungen nachzugehen. Doch das sei nur dann zu akzeptieren, wenn dies nachweislich niemandem schade. In der aktuellen Impfdebatte aber zeige sich, wie sehr mittlerweile ein Hang allzu vieler Menschen zum Unbewiesenen die Pandemiebekämpfung insgesamt objektiv bremse. „Wir haben schon viel zu lange die heillos gewachsene systematische Wissenschaftsleugnung im deutschen Gesundheitswesen toleriert“, sagt Grams-Nobmann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „In diesen Tagen bezahlen wir dafür einen hohen Preis.“
Weltweites Kopfschütteln mit Blick auf Deutschland
Während Deutschlands Inzidenzen steigen, sinkt zugleich das Ansehen des Landes in aller Welt. Die „New York Times“ beschrieb ihren Lesern und Leserinnen dieser Tage einen deutschen „Kulturkampf“ ums Impfen, dessen Folgen sogar noch in Italien messbar seien: mit unterdurchschnittlichen Impfquoten in den deutschsprachigen Zonen um Bozen. Das US-Nachrichtenportal Bloomberg Business fragte ungläubig bei Grams-Nobmann nach: „Homöopathie funktioniert nicht. Warum glauben so viele Deutsche daran?“
Tweet https://twitter.com/niklas_franzen/status/1461401520675737608 von Niklas Franzen
Erstaunen herrscht auch in Brasilien, wo einst das Virus besonders wütete. Inzwischen müssen Kliniken etwa in São Paulo überhaupt keine Corona-Kranken mehr aufnehmen, die Regionalregierung hat die Impfquote auf 98,7 Prozent getrieben. In einem Tweet berichtet „taz“-Korrespondent Niklas Franzen von einer Szene, die die völlige Verkehrung der Verhältnisse festhält. Eine kleine Bar in São Paulo. Am Tresen sitzen zwei Männer und trinken Bier. Im Fernsehen läuft ein Bericht über die dramatische Corona-Lage in Deutschland. Einer der Männer fragt ungläubig: „In Deutschland, echt?“ Der andere antwortet: „Ja, diese Irren la