Das Interview führte Lutz Reiche
09.09.2022, 17.00 Uhr
Insolvenzexperte der Allianz „Die hohe Verschuldung der Unternehmen ist besorgniserregend“
Droht Deutschland eine Insolvenzwelle? Noch nicht, sagt Insolvenz-Chefanalyst Maxime Lemerle vom weltgrößten Kreditversicherer Allianz Trade – auch weil der Staat hilft. Doch die Risiken steigen an vielen Fronten, warnt der Experte. Er gibt Firmen einen wichtigen Ratschlag. Maxime Lemerle ist der leitende Analyst für Insolvenzprognosen bei der Allianz Trade Gruppe. Er verfügt über rund 30 Jahre Erfahrung in der Analyse von Branchen- und makroökonomischen Risiken sowie der Insolvenzforschung
manager magazin: Herr Lemerle, Mitte Mai sagte Allianz Trade noch eine recht moderate Steigerung der Insolvenzen für Deutschland voraus. Interessenverbände der Industrie und des Handwerks warnen nun ob explodierender Energiekosten vor einer Pleitewelle. Jeder dritte Betrieb sehe seine Existenz gefährdet , so der BDI für seine Klientel. Teilen Sie diese pessimistische Einschätzung?
Maxime Lemerle: Teilweise. Im bisherigen Jahresverlauf waren die Fallzahlen in Deutschland weiterhin rückläufig und auf einem sehr niedrigen Niveau. Aktuell sehen wir, dass sich diese Entwicklung langsam dreht und wieder mehr Insolvenzen drohen. Trotzdem dürfte es für das Gesamtjahr 2022 bei einem moderaten Anstieg bleiben, der vor allem aus den Basiseffekten resultiert, weil die Fallzahlen im ersten Halbjahr so niedrig waren. 2023 dürfte das Insolvenzgeschehen angesichts der drohenden Rezession dann aber merklich anziehen – stärker als ursprünglich erwartet.
Bei der Entwicklung spielen aber viele Faktoren eine Rolle. Aktuell ist vieles abhängig von staatlichen Unterstützungsmaßnahmen: Die Insolvenzentwicklung hatte sich in den zwei vergangenen Pandemie-Jahren durch die starke staatliche Unterstützung für die Firmen von der wirtschaftlichen Entwicklung ja weitgehend entkoppelt. Die Zahl der Insolvenzen fiel damit auf ein künstlich niedriges Niveau. Angesichts der Energiepreisexplosion dürften weitere Maßnahmen folgen. Das könnte eine Normalisierung bei den Insolvenzen weiter verzögern.
Nochmal nachgehakt. Übertreiben die Lobbyverbände vielleicht mit ihren Warnungen, schließlich wollen sie für ihre Klientel möglichst viel und direkte finanzielle Hilfen erlangen.
Die Risiken steigen aktuell an vielen Fronten, sowohl für Privathaushalte als auch für Unternehmen. Unterstützungsmaßnahmen werden deshalb vielerorts auf den Weg gebracht. Fakt ist: Die Risiken steigen aktuell, die staatlichen Gegenmaßnahmen aber auch – und die Pandemie hat gezeigt, dass das eine signifikante Wirkung hat. Zudem sind nicht alle Branchen von allen Risiken gleichermaßen betroffen.
Sie sagen, Risiken steigen an vielen Fronten – wo genau?
Rasant gestiegene Energiepreise und die drohende Gasknappheit sind ja aktuell in aller Munde. Die Inflation hinterlässt in einigen Branchen ebenfalls deutliche Bremsspuren, ebenso wie steigende Zinsen und Finanzierungskosten sowie der daraus resultierende Refinanzierungsbedarf – und das in der unguten Kombination mit einer bevorstehenden Rezession, einer deutlich sinkenden globalen Nachfrage und zurückhaltenden Verbrauchern. Weiterhin bestehende Lieferengpässe oder unterbrochene Lieferketten sind zusätzliche Risiken. Im ersten Halbjahr 2022 ist als Konsequenz der Kapitalbedarf für den laufenden Betrieb der Unternehmen bereits deutlich gestiegen, vor allem durch einen Anstieg sowohl der Außenstände als auch der Vorräte.
Wie hoch schätzt Allianz Trade vor dem aktuellen Hintergrund den Anteil der gefährdeten Unternehmen? Wieviel Insolvenzen erwarten Sie dieses Jahr?
Allianz Trade (ehemals Euler Hermes) ist der weltweit führende Warenkreditversicherer mit Sitz in Paris. Die Tochter des Allianz-Konzerns ist zugleich Spezialist für Bürgschaften, Garantien, Inkasso sowie Schutz gegen Betrug oder politische Risiken. Allianz Trade bietet seinen Kunden umfassende Finanzdienstleistungen an, um sie im Liquiditäts- und Forderungsmanagement zu unterstützen.
Über das unternehmenseigene Monitoring-System verfolgt und analysiert Allianz Trade täglich die Insolvenzentwicklung von mehr als 80 Millionen kleiner, mittlerer und multinationaler Unternehmen. Insgesamt umfassen die Expertenanalysen Märkte, auf die 92 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts entfallen. Mindestens 66.000 Kunden sichern ihre Geschäfte und deren Bezahlung bei Allianz Trade ab. Das Unternehmen ist in mehr als 50 Ländern vertreten und beschäftigt rund 5500 Mitarbeiter weltweit. 2021 erwirtschaftete Allianz Trade 2,9 Milliarden Euro Umsatz und versicherte weltweit Geschäftstransaktionen im Wert von 931 Milliarden Euro.
Der Anteil der gefährdeten Unternehmen in Deutschland hat sich 2021 von 7 Prozent auf 6 Prozent reduziert. Die staatlichen Hilfen laufen derzeit weiter. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Insolvenzen in Deutschland in diesem Jahr – auch mit den jüngsten Entwicklungen – nur moderat steigen werden. Im kommenden Jahr dürfte sich dieser Trend aber wie gesagt intensivieren. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir uns aktuell auf einem historisch niedrigen Niveau befinden und sich das Insolvenzgeschehen damit schlicht normalisieren würde.
Das heißt, die aktuelle Situation ist nur die Spitze des Eisbergs und das Schlimmste steht noch bevor?
Spätestens im vierten Quartal dürfte die deutsche Wirtschaft in eine Rezession rutschen, die sich auch im kommenden Jahr fortsetzen dürfte. Eine leichte Erholung ist aktuell erst ab dem zweiten Halbjahr 2023 in Sicht. Das sind trübe Aussichten, die auch steigende Risiken für Unternehmen mit sich bringen – in allen Branchen. Und in allen Branchen gibt es Unternehmen, die gut aufgestellt sind und andere, für die es eng werden könnte.
Was erwarten Sie konkret bis zum Jahresende?
Die deutsche Wirtschaft muss sich auf einen langen und harten Winter einstellen, in dem es sehr ungemütlich werden kann. Wir schätzen, dass mehr als 8 Prozent der deutschen Privathaushalte Gefahr laufen, dass ihnen ihre Energiekosten über den Kopf wachsen. Auch an Unternehmen geht die Energie-Kostenexplosion nicht spurlos vorbei. Andere Branchen wiederum kämpfen eher mit Inflation oder den steigenden Zinsen. Zuletzt ist etwa der Zinsaufwand insbesondere in Sektoren wie Textilien, Metalle, Hotels, Elektronik, Einzelhandel und Automobilbau drastisch angestiegen, das belegen die Finanzdaten von börsennotierten Unternehmen in diesen Branchen.
Sehen Sie Branchen, die derzeit stärker insolvenzgefährdet sind?
„Im Baugewerbe und Energiesektor sind die Insolvenzen bis Mai um 10 Prozent und mehr gestiegen“
Im bisherigen Jahresverlauf waren die Insolvenzen in Deutschland insgesamt rückläufig. Allerdings gilt dies nicht für alle Branchen. Im Energiesektor sind die Pleiten von Januar bis Mai 2022 beispielsweise um 11 Prozent gestiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im Baugewerbe war es ein Plus von 10 Prozent und dort haben wir auch die meisten Fälle verzeichnet, sogar mehr als im Handel, der traditionell viele Insolvenzen hat. Im Bereich Transport, Gesundheit und Soziales sowie im Finanzsektor und in der Immobilienbranche zeichnet sich 2022 ebenfalls schon eine leichte Trendwende ab.
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Die Energiekrise trifft einzelne Branchen besonders hart. Welche haben Sie noch im Blick?
Ja, energieintensive Branchen wie die Papier-, Metall- und Chemieindustrie haben bekanntlich einen besonders schweren Stand. Aber auch bei Energieversorgern, Eisenbahngesellschaften oder auch Bäckereien ist die Lage teilweise kritisch. Jüngst haben wir allerdings auch einige prominente Insolvenzen gesehen, deren Branche auf den ersten Blick nicht so energieintensiv sind.
Sind jüngere Unternehmen, etwa Technologie-Start-ups, denen Investoren zusehends die Gefolgschaft aufkündigen, anfälliger für externe Schocks, wie wir sie derzeit sehen?
„Auch bei Eisenbahngesellschaften oder Bäckereien ist die Lage teilweise kritisch“
Jüngere Unternehmen sind in der Tat anfälliger für Insolvenzen als etablierte Unternehmen. Aber das lässt sich nicht pauschalisieren. Gerade unter den Start-ups gibt es auch Einhörner und unter den etablierten Unternehmen „Zombies“. Weder das Alter noch die bekannte Marke schützen vor Insolvenzen – oder umgekehrt.
Sie sprachen gerade einige Risiken an. Wenn Unternehmen jetzt in finanzielle Schieflage geraten, was vor allem führt dazu? Sind es die Energiekosten, eine zu dünne Kapitaldecke, steigende Zinsen, säumige Schuldner oder gar eigenes Missmanagement?
Gründe für Insolvenzen sind seit jeher vielfältig. Meistens ist es auch nicht nur eine Ursache, sondern eine Kombination aus mehreren Faktoren. Wenn sich schon vor den aktuellen Entwicklungen Probleme aufgetürmt haben, wird es jetzt umso schwieriger, wenn eine wahre Flut an neuen, gravierenden Herausforderungen hinzukommt.
Während der Pandemie wurde Kritik laut, die großzügigen staatlichen Hilfen, Garantien und Übergangsregelungen hielten schon vor der Krise kränkelnde Unternehmen am Leben. Robert Habeck versprach diese Woche für kleine und mittlere Unternehmen weitere Hilfen. Vergrößert die Bundesregierung damit womöglich das Heer der Zombie-Firmen, verhindert sie damit Anpassung und Marktbereinigung?
Es sind keine Details zu diesen Plänen bekannt, insofern wäre das jetzt reine Spekulation. Wie so oft gibt es auch hier zwei Seiten der einen Medaille. Viele staatliche Maßnahmen in den vergangenen Jahren hatten das Ziel, Unternehmen, die vor der Pandemie gesund waren und unverschuldet in eine schwierige Lage kamen, zu unterstützen. Dieses Ziel haben sie auch häufig erreicht – auch wenn dies etwa die Insolvenzentwicklung von den wirtschaftlichen Mechanismen weitgehend entkoppelt hat und auch sogenannte „Zombies“ teilweise dadurch überlebt haben. Tatsächlich ist mit den steigenden Zinsen der aktuell sehr hohe Verschuldungsgrad der Unternehmen durchaus besorgniserregend. Einigen Unternehmen könnte das jetzt über den Kopf wachsen.
Was bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Ankündigung der Bundesregierung, sie wolle das Insolvenzrecht vorübergehend lockern?
Auch das wäre mangels Details reine Spekulation. Eine Lockerung des Insolvenzrechts haben wir auch schon während der Pandemie gesehen – oft war das aber an recht spezifische Voraussetzungen geknüpft. Vorher gesunden Unternehmen kann dies unter bestimmten Umständen helfen. Bei angeschlagenen Unternehmen wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein und würde Schwierigkeiten nur hinauszögern. Verschoben ist nicht aufgehoben, eine Wunderheilung gibt es dadurch nicht.
Wirtschaft ist zu einem Großteil von Psychologie bestimmt. Krisen können sich hochschaukeln, weil sich Verbraucher und Kunden von Gefühlen leiten lassen und nicht immer rational handeln. Was sollten Unternehmen jetzt auf keinen Fall tun? Was sollten sie jetzt auf jeden Fall anpacken?
„Risiken verringern, Lieferketten und Finanzen sorgfältig im Blick behalten, Investitionen genau planen“
Unternehmen sollten möglichst Ruhe bewahren und wachsam bleiben. Sie sollten keine unnötigen Risiken eingehen, diese, wo möglich, so gut es geht verringern, ihre Lieferketten und Finanzen sorgfältig im Blick behalten und Investitionen genau planen. Aber sie sollten auch nicht in Panik verfallen. Schockstarre hilft nicht und zu langes Warten birgt oft auch die Gefahr, den Zug zu verpassen.