Friedrich Merz: „Wir haben in Deutschland 2,5 Millionen Arbeitslose auf 1,9 Millionen offene Stellen – da funktioniert der Arbeitsmarkt nicht“

„Da funktioniert der Arbeitsmarkt nicht“: Diese Folgerung, die Friedrich Merz aus der Gegenüberstellung der Zahl der Arbeitslosen (2,5 Mio.)  und der offenen Stellen (1,9 Mio.) zieht, ist nichtssagend und banal.  Merz macht „den Arbeitsmarkt“ – wer auch immer das sein soll – als Verantwortlichen aus – für die „Nicht-Ausschöpfung“ der „Potenziale, die wir schon jetzt haben“.  Jetzt könnte man natürlich sagen: besser „dem Arbeitsmarkt“ den Schwarzen Peter zuschieben als „den Arbeitslosen“. Richtig. Aber wenn man „den Arbeitsmarkt“ doch etwas konkreter macht, dann sind das die Anbieter von Arbeitskraft und die Nachfrager nach dieser Arbeitskraft.

Zur Seite der Anbieter bzw. Nicht-Anbieter von Arbeitskraft: In der Blockade des Bürgergeldgesetzes  hat die CDU dafür gesorgt und kräftig selbst daran mitgewirkt, dass die Rede vom Sozialstaat als sozialer Hängematte für Arbeitsscheue wieder mal in die Öffentlichkeit gespült wurde. Der leitende Spiegel-Redakteur Alexander Neubacher witterte eine „Verhöhnung der Arbeit“, der CSU-Chef Markus Söder sprach vom „Schlag ins Gesicht aller Arbeitnehmer“ und der CDU-Generalsekretär Mario Czaja behauptete, das Bürgergeldgesetz schädige „die Motivation der Arbeitslosen“, sich eine Arbeit zu suchen.

Über die Seite der Nachfrager nach Arbeitskraft lesen wir weniger in der Presse. Das fängt schon damit an, dass „die Arbeitslosen“, 2,5 Millionen an der Zahl, häufig – mangels der notwendigen Differenzierung und Aufschlüsselung – als große, anonyme Masse empfunden werden.

1,03 Millionen dieser anonyem Masse waren 2021 sog. „Langzeitarbeitslose, Menschen, die zwölf Monate oder länger arbeitslos sind. Ihre Zahl ist  erstmals seit 2014 wieder gestiegen.

Auf der Website Sozialpolitik-aktuell der Universität Essen finden sich interessante Texte, Analysen und Studien zum Thema „Arbeitslosigkeit“, etwa den IAB-Kurzbericht 17/2022 mit dem Titel „Langzeitarbeitslosigkeit aus betrieblicher Perspektive – Betriebliche Vorbehalte gegenüber Langzeitarbeitslosen sinken leicht in Krisenzeiten“ – 

Zusammenfassend wird in diesem Kurzbericht festgestellt:

Der Anteil der Betriebe, die Bewerbungen von Langzeitarbeitslosen im Einstellungsprozess grundsätzlich berücksichtigen, lag im Jahr 2021 bei rund 39 Prozent.

54 Prozent der Betriebe geben an, dass eine Besetzung offener Stellen mit Langzeitarbeitslosen für sie generell nicht infrage kommt. Ein entscheidender Hinderungsgrund scheint hierbei die Unsicherheit hinsichtlich des Leistungsvermögens der langzeitarbeitslosen Personen zu sein. Denn rund 55 Prozent dieser Betriebe würden im Einzelfall Langzeitarbeitslose berücksichtigen, wenn eine Empfehlung über private oder berufliche Kontakte erfolgen würde.

Bei gegebenen Stellenangeboten steigt die betriebliche Bereitschaft zur Berücksichtigung von Langzeitarbeitslosen in Rezessionen leicht an. Das liegt unter anderem daran, dass das mit Langzeitarbeitslosigkeit verbundene Stigma aufgrund einer generell höheren Arbeitslosigkeit in Krisenzeiten geringer ausfällt.“

Aha. (Nur) vier von zehn Betrieben berücksichtigen die Bewerbungen grundsätzlich – das heißt aber noch nicht, das – bei entsprechender Bewerber*innen-Lage – Langzeitarbeitslose dann auch zum Zug kommen.

Erweitert wird der Blick durch das, was der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Sell auf seiner Website am 20.2.2022 schreibt:

Stefan Sell  titelt. Corona-Verlierer auf dem Arbeitsmarkt: Langzeitarbeitslose:

„Gerade wenn sich überall die Meldungen über die Rückkehr zu einer „Normalität“ der Vor-Krisen-Zeit auf dem Arbeitsmarkt häufen, lohnt ein genauerer Blick hinter die Kulissen, denn bekanntlich gibt es in derart komplexen Systemen wie den heutigen Arbeitsmärkten Nicht-Betroffene von krisenhaften Entwicklungen, Gewinner und eben auch Verlierer, die oftmals, wenn man nur auf großen Zahlen schaut, in der Schattenwelt der Nicht-Beachtung hängen bleiben.

»Gute Nachrichten auf dem Arbeitsmarkt: Das Vorkrisenniveau ist fast wieder erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Januar nur knapp 40.000 über dem Stand von Januar 2020.« In den zurückliegenden zwei Corona-Jahren gab es zwischenzeitlich 600.000 Arbeitslose mehr als zur Zeit vor der Krise.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat aber bereits in der Überschrift Wasser in den Wein gegossen: Arbeitsmarkt: Gewinner und Verlierer der Krise. Zu den Verlierern gehören nicht nur Minijobber und Selbstständige: »Vor allem gibt es deutlich mehr Langzeitarbeitslose als früher. Im vergangenen Monat zählte die Bundesagentur für Arbeit noch 270.000 mehr Langzeitarbeitslose als im Januar 2020.« Auch die Bundesagentur für Arbeit selbst schreibt in ihrem Arbeitsmarktbericht für Januar 2022: »Die Corona-Krise hat zu einer deutlichen Verfestigung der Arbeitslosigkeit geführt. Im Vergleich mit dem Monat vor Einsetzen der Corona-Krise, dem März 2020, hat die Zahl der Langzeitarbeitslosen, also der Personen, die länger als 12 Monate arbeitslos waren, um 281.000 oder 40 Prozent auf 990.000 zugenommen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist in diesem Zeitraum von 30,3 auf 40,2 Prozent gestiegen.«

Lesenswert ist auch, was der DGB (Abteilung Arbeitsmarktpolitik) in senem Info Nr. 1 / Februar 2022 zur „Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit während der CoronaKrise“ schreibt:

Handlungsbedarf zeigt sich vor allem im Bereich der Weiterbildung. Denn: 66
Prozent des Anstiegs der Langzeitarbeitslosen gegenüber dem Vorkrisenniveau sind
auf Personen ohne Berufsausbildung zurückzuführen. Auch bei den Arbeitslosen im
Anforderungsniveau „Helfer“ gab es einen starken Anstieg.

Langzeitarbeitslosigkeit zeichnet sich durch vielfältige Lebenssituationen aus. Das
gilt sowohl für den Zeitraum vor als auch nach Eintritt der Corona-Pandemie. Es
kann daher keine Patentlösung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit geben,
sondern bedarf individueller und bedarfsgerechter Lösungsansätze.

Für Langzeitarbeitslose gestaltet sich der Weg zurück in den Arbeitsmarkt besonders
schwierig. Laut Daten der BA waren sie während der Pandemie mit besonders
geringen Abgangschancen konfrontiert und nur ein Bruchteil der
Langzeitarbeitslosen hat einen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt geschafft.


Von den nahezu 980.000 Langzeitarbeitslosen im Dezember 2021 fallen knapp 88
Prozent unter den Rechtskreis SGB II. Aber auch im Rechtskreis SGB III ist die Zahl
der Langzeitarbeitslosen merklich angestiegen. Es zeigt sich dementsprechend vor
allem im Rechtskreis SGB II, aber auch im SGB III Handlungsbedarf. Es bedarf hier
insbesondere der Verhinderung von Wechseln aus dem Versicherungssystem in die
Grundsicherung mit Bedürftigkeitsprüfung.

Als wesentliche Gründe für die Verfestigung gelten neben mehr Entlassungen und
weniger Beschäftigungsaufnahmen auch die geringere Zahl an Maßnahmen der
aktiven Arbeitsmarktpolitik.


Der DGB fordert von der Bundesregierung die schnelle Umsetzung wirksamer
Maßnahmen, um die bestehende Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen und drohende
Übertritte in die Langzeitarbeitslosigkeit sowie Rechtskreiswechsel frühzeitig zu
verhindern. Der DGB begrüßt daher die vorgesehenen Verbesserungen im
Koalitionsvertrag zu den Weiterbildungsförderungen für Arbeitslose sowie die
Verbesserung des Betreuungsschlüssels in den Jobcentern.“