Die Sicht und Expertise von Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung Tübingen – aus IMI-Analyse 2022/02 (Update: 4.2.2022)
NATO-Aggression und Russlands Reaktion – Warum sich Russland betrogen und bedroht fühlt – und warum da einiges dran ist
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 24. Januar 2022
Ob ein russischer Angriff auf die Ukraine tatsächlich vor der Tür steht, wie es diverse Akteure derzeit glauben machen wollen, lässt sich nur schwer beurteilen. Aktuell reduzieren jedenfalls die USA ihr Botschaftspersonal, haben eine Reisewarnung herausgeben, Truppen in Alarmbereitschaft versetzt und aus US-Regierungskreisen heißt es, eine russische Invasion der Ukraine könne „jeden Moment stattfinden.“ Andererseits schreibt die FAZ unter Berufung auf deutsche Geheimdienstquellen: „Um es klar zu sagen: Bisher ist kein westlicher Geheimdienst zu dem Schluss gekommen, dass der russische Präsident einen Angriff auf die Ukraine schon befohlen hat – auch die amerikanischen Dienste nicht.“
Was sich aber sicher sagen lässt ist, dass die jüngste Eskalation von der NATO dazu benutzt wird, um genau die Maßnahmen weiter auszubauen, die Russland ohnehin bereits als eklatante Verletzung seiner Sicherheitsinteressen empfindet. Und was sich ebenfalls sagen lässt ist, dass viele der russischen Vorwürfe, die derzeit so empört als Hirngespinste zurückgewiesen werden, alles andere als aus der Luft gegriffen sind. Man muss deshalb die militärische Drohkulisse, die Moskau an der ukrainischen Grenze und jetzt auch in Belarus errichtet hat, noch lange nicht gutheißen und kann dennoch verstehen, dass die Ursachen für die neuerliche Eskalation bei der NATO liegen.
Betrachtet man die am 17. Dezember 2021 präsentierten Vorschläge zur Entschärfung der Lage so wird deutlich, dass Russland vor allem drei Dinge umtreiben: Erstens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; zweitens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; und drittens vor allem die dauerhafte, aber auch die temporär im Zuge immer häufigerer Manöver erfolgende Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen. Betrachtet man weiter die jüngsten Entwicklungen wird ebenfalls deutlich, dass diese Sorgen nur allzu berechtigt sind und zwar in allen drei Dimensionen. Dennoch treffen die russischen Bedenken aktuell nur bei wenigen westlichen Akteuren auf offene Ohren, die überwiegende Mehrheit ist leider weiter auf Krawall gebürstet, weshalb augenscheinlich auch ernsthaft darüber diskutiert wird, die Truppenpräsenz an der NATO-Ostflanke weiter zu erhöhen und sogar erstmals SoldatInnen dauerhaft im Südosten des Bündnisgebietes zu stationieren.
Probleme der Russlandpolitik als Friedenspolitik – Kritische Anmerkungen zur Russland-Ukraine-Diskussion
„Wir sind in der gefährlichsten Situation, die wir seit Ende des Kalten Krieges erlebt haben“,
warnt Johann Wadephul im Berliner Tagesspiegel. „Es droht nicht weniger als ein Krieg in
Europa.“ Die Warnung ist begründet. Seine und die Ursachenerklärungen und Handlungsempfehlungen anderer Politiker und Pressekommentatoren greifen dagegen zu kurz. Stephan-Götz Richter, Michael Roth und Josef Joffe finden starke Worte für einen aus ihrer Sicht angemessenen Umgang mit Russland.
Der Bundesregierung empfiehlt Richter für die bevorstehenden USA-Russland- Sicherheitsgespräche (und folgende NATO-Russland-Gespräche), die russischen Vorschläge „eindeutig zurückzuweisen“. Berlin müsse „Russland die Stirn bieten“. Begründung: „Putin zielt auf ein „Rollback“ all dessen, was seit 1990 in Europa in puncto nationaler Befreiung erreicht worden ist“.
Michael Roth erklärt: „Das östliche Europa inklusive der Ukraine ist doch nicht der Vorhof
der Macht von Herrn Putin. Wir müssen endlich das Denken in nationalen Einflußsphären
des 19. Und 20. Jahrhunderts überwinden.“ – „Wir sollten nicht auf Putins Propaganda reinfallen. Niemand verlangt von Ländern, die sich der EU annähern wollen, sich von Moskau abzuwenden oder ihre traditionellen wirtschaftlichen oder kulturellen Beziehungen zu Russland abzubrechen.“
Josef Joffe meint: „Seit 2008 befindet er (der russische Präsident Putin) sich auf Expansionskurs: Georgien, Krim, Donbas, Intervention in Syrien, Belarus, Kasachstan.“ – „Er hat noch viel zu tun: Die inoffizielle Wiederherstellung des alten Sowjetimperiums, zumindest im „Nahen Ausland“.
Diese zentralen Behauptungen der Autoren entsprechen weder der Entwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten noch den Hintergründen der gegenwärtigen Konfliktlage. Sie bieten daher keinen geeigneten Ansatz zur Konfliktlösung.
Der Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine. Die Reaktion der USA und der Europäer. Diplomatische Bemühungen, wirtschaftliche Drohkulissen und die Frage aller Fragen: Was will Putin? Udo Lielischkies war lange TV-Korrespondent und ARD-Studioleiter in Moskau. Er hat lange in Russland gelebt. Er kennt das Land, die Menschen und das politische System. Und er hat für seine kritische Arbeit viele Preise und Auszeichnungen bekommen.
Bundestag: Aussprache zu den Spannungen zwischen Russland und der Ukraine am 27.1.22 –59.191 Aufrufe
Die Spannungen an der russisch-ukrainischen Grenze waren am Donnerstag, 27. Januar 2022, Thema einer Vereinbarten Debatte im Bundestag. Die gut einstündige Aussprache stand unter dem Thema „Frieden in Europa sichern – Territoriale Integrität der Ukraine darf nicht in Frage gestellt werden“
Mit den Sprechern: 00:00 Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin 10:35 Friedrich Merz (CDU/CSU) 18:35 Lars Klingbeil (FDP) 26:10 Stefan Keuter (AfD) 30:45 Alexander Graf Lambsdorff (FDP) 35:42 Gregor Gysi (Die Linke) 40:58 Robin Wagner (Die Grünen) 45:16 Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) 51:07 Michael Roth (SPD) 57:26 Petr Bystron (AfD) 1:01:27 Bijan Djir-Sara (FDP) 1:06:53 Johannes Schraps (SPD) 1:12:35 Florian Hahn (CDU/CSU) 1:17:54 Joe Weingarten (SPD)
„In einer Grundsatzdebatte haben die Fraktionen im Bundestag am Mittwoch, 12. Januar 2022, über die Außen-, Europa- und Menschenrechtspolitik und die Vorhaben der neuen Bundesregierung auf diesen Feldern debattiert. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine und die darin liegende Bedrohung für Europa.
Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) stellte fest: „Die Souveränität der Ukraine und die Unverrückbarkeit der Grenzen in Europa sind für uns nicht verhandelbar.“ Eine militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine würde für Moskau „ein hohes Preisschild“ tragen. Die Lösung könne nur Diplomatie sein, „um die aktuellen Spannungen zu lösen“.
Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU) attestierte dem Koalitionsvertrag der Ampelparteien ein hohes Maß an außenpolitischem „Realismus und Pragmatismus“. Gleichwohl würden, etwa in der Bewertung russischer Aggression gegenüber der Ukraine, erste Bruchlinien sichtbar.
Dr. Nils Schmid (SPD) betonte, dass auf eine Aggression Russlands gegenüber der Ukraine wirtschaftliche Sanktionen folgen würden. „Die Optionen liegen auf dem Tisch“ – und zwar abgestimmt innerhalb der EU und mit den USA. Schmid hob die Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU „nach innen wie nach außen“ als ein zentrales Vorhaben der Ampelkoalition hervor.
Petr Bystron (AfD) richtete seine Kritik insbesondere gegen die Grünen, die er mit Blick auf die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg 1999 als „Kriegstreiber“ bezeichnete. Außenministerin Baerbock suche zum Beispiel gegenüber Russland sofort die Konfrontation, obgleich Deutschland im hohen Maße auf Energieimporte angewiesen sei. Sie lege sich auch gleich mit China an, wohin 40 Prozent der in Deutschland produzierten Autos exportiert würden: „Welche Hybris!“
Alexander Graf Lambsdorff (FDP) bezeichnete „strategische Souveränität und strategische Solidarität“ als zentrale Vorhaben der Außenpolitik der Ampelkoalition und kündigte für den Herbst dieses Jahres eine nationale Sicherheitsstrategie an, in der das Drei-Parteien-Bündnis seine außen- und sicherheitspolitischen Ziele, Interessen und Werte definieren und bündeln wolle.
Dr. Gregor Gysi (Die Linke) ging mit der Außenministerin ins Gericht. Im Fall Julian Assange habe sie „vor ihrem Ministeramt“ eine klare Meinung gehabt. Das gelte nun offenbar nicht mehr, „und das geht eben nicht, wenn man eine wertebasierte Außenpolitik“ für sich beanspruche.
Mit Blick auf den Russland-Ukraine-Konflikt erinnerte Gysi daran, dass der russische Präsident Putin 2001 sicherheitspolitisch die Hand ausgestreckt habe, der Westen aber „arrogant“ darüber hinweggegangen sei. Zudem werde mit zweierlei Maß gemessen: Niemals würden die USA und mit ihr die Nato es durchgehen lassen, wenn zum Beispiel auf Kuba oder in Mexiko russische Truppen stationiert würden. „Warum billigen Sie der USA Sicherheitsabstand zu, Russland aber nicht?“ (ahe/12.01.2022)