Kontroverse: Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz –

Harald Welzer und Jagoda Marinic über den offenen Brief an Kanzler Scholz | 02.05.2022 – 5.890 Aufrufe – 02.05.2022


Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Anton Hofreiter um den Offenen Brief der 28 an Bundeskanzler Olaf Scholz80.056 Aufrufe – 01.05.2022


Offener Brief an Kanzler Olaf Scholz

Der Brief im Wortlaut

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.

Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.

Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.

Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.

Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.

Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.

Wir hoffen und zählen auf Sie!
Hochachtungsvoll

DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN

Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker


(Freundliche) Kommentierungen

https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/offener-brief-an-olaf-scholz-der-geist-und-die-geisterfahrer

Offener Brief an Scholz: Der Geist und die Geisterfahrer

Kampagne Für Prominente wie Alice Schwarzer, Martin Walser, Lars Eidinger und andere besteht derzeit die höchste moralische Verantwortung darin, einen Weltkrieg zu verhindern. Sie haben es verdient, nicht diffamiert zu werden – Lutz Herden 149


https://www.freitag.de/autoren/raul-zelik/debatte-um-waffenlieferungen-denkbar-schlechte-verbuendete

Debatte um Waffenlieferungen: Denkbar schlechte Verbündete

Ukraine-Krieg Linksliberale und Grüne überschlagen sich plötzlich mit Forderungen nach Waffenlieferungen in die Ukraine. Für den Kampf gegen autoritäre Regime ist das aber eine intellektuelle Bankrotterklärung – Raul Zelik


https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-neo-bellizisten-wollen-von-eskalation-nichts-wissen

Die neuen Schlafwandler: Neo-Bellizisten wollen von Eskalation nichts wissen

Waffenlieferungen Ob Justizminister Marco Buschmann oder Grünen-Politiker Anton Hofreiter – viele fordern die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Doch wie die Neo-Bellizisten das Risiko einer katastrophalen Eskalation nonchalant übersehen, macht Angst

Christoph Schwennicke | Ausgabe 17/2022


 https://www.spiegel.de/politik/olaf-scholz-und-der-ukraine-krieg-interview-es-darf-keinen-atomkrieg-geben-a-ae2acfbf-8125-4bf5-a273-fbcd0bd8791c

Bundeskanzler Scholz im SPIEGEL- »Es darf keinen Atomkrieg geben«

»Was noch verfügbar gemacht werden kann, liefern wir auf jeden Fall«: Im SPIEGEL verspricht Bundeskanzler Scholz weitere Waffen für die Ukraine. Er sagt auch, warum er in dieser Krise zögerlich agiert und welche Fehler die SPD in ihrer Russlandpolitik gemacht hat.

Ein SPIEGEL-Gespräch von Melanie Amann und Martin Knobbe – 22.04.2022, 16.59 Uhr • aus DER SPIEGEL 17/2022