Presseclub: Comeback von Kohle, Gas und Öl: Ist das Klima noch zu retten?

Informative und faire Diskussion im Presseclub am 6. Novbember 2022 : Comeback von Kohle, Gas und Öl: Ist das Klima noch zu retten?   phoenix 17.688 Aufrufe Vor 21 Stunden live gestreamt

Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den politischen Kampf gegen den #Klimawandel ausgebremst. Seither fahren wir kurzfristig wieder Kohlekraftwerke hoch, importieren Flüssiggas und nutzen Öl zur Stromerzeugung. Eine globale Tendenz. Langfristig hält die Weltgemeinschaft aber nach wie vor an ihrem Versprechen fest, die #Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wie das trotz zunehmender Konflikte gelingen kann, darüber diskutieren ab Sonntag rund 200 Staaten zwei Wochen lang im ägyptischen Badeort Scharm El-Scheich #COP27 Ist das Ziel überhaupt noch zu schaffen oder frommer Selbstbetrug?

Darüber diskutiert WDR-Chefredakteurin Ellen Ehni mit den Gästen: – Ulrike Herrmann, taz.die tageszeitung – Petra Pinzler, DIE ZEIT – Jakob Schlandt, Der Tagesspiegel – Horst von Buttlar, Capital

Kampf um die Deutung der Neuzeit“ – Hauke Ritz | Im Gespräch

Professor Klaus Gestwa kritisiert Gabriele Krone-Schmalz: „Chance zum kritischen Diskurs …leichtfertig verspielt“

Quelle: t-online.de

Interview von Michael Ströbel – 3.11.2022

Professor Klaus Gestwa kritisiert Gabriele Krone-Schmalz: „Die Chance zum kritischen Diskurs hat die VHS Reutlingen leichtfertig verspielt“

Eine ehemalige Moskau-Korrespondentin geht auf YouTube viral und wird von einer Volkshochschule gefeiert. Den Osteuropa-Forscher Klaus Gestwa entsetzt das.

Ein Vortrag der ehemaligen Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen geht derzeit auf YouTube viral. Hunderttausende haben sich das Video inzwischen auf dem Kanal der Volkshochschule (VHS) Reutlingen angesehen. Viele Kommentatoren feiern die „andere Perspektive“, die die Journalistin in den rund eineinhalb Stunden aufzeigt. Doch Osteuropa-Experten sehen die Person und ihre Inhalte mehr als nur kritisch.

Einer von ihnen ist Prof. Klaus Gestwa von der Universität Tübingen, die nur rund zehn Kilometer von Reutlingen entfernt liegt. Mit den Worten „Zu Gabriele Krone-Schmalz gibt es so viel zu sagen, um vor ihrer manipulativen Art zu warnen“, erklärte er sich zu einem Interview mit t-online bereit.Auf seine ganz eindrückliche Art nimmt er darin die Kernargumente von Krone-Schmalz auseinander. Auch an der VHS Reutlingen lässt er kaum ein gutes Wort.

Zur Person: Prof. Dr. Klaus Gestwa ist seit 2009 der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Er forscht zur Zeitgeschichte Russlands und der Ukraine. Während der vergangenen Jahre war er an mehreren internationalen Forschungsprojekten mit russischen und ukrainischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Bis zum Ausbruch der Corona-Epidemie war er regelmäßig zu Forschungsaufenthalten sowohl in Russland als auch in der Ukraine.

t-online: Herr Prof. Gestwa, wie bewerten Sie den Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen und dass er von der VHS auf YouTube veröffentlicht wurde?

Prof. Klaus Gestwa: Der Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz ist mittlerweile 790.000 Mal aufgerufen worden. Wenn es der VHS um Reichweite ging, dann dürften sich die Verantwortlichen auf die Schulter klopfen. Dafür ist dann ihre politische Verantwortung auf der Strecke geblieben. Wir können seit Jahren die Strategie der Schuldlastumkehr beobachten, die darauf zielt, nicht Putins Russland als den Ausgangspunkt von Aggressionen und den seit 2014 stattfindenden Krieg gegen die Ukraine auszumachen, sondern die Schuld dafür stattdessen der Ukraine und dem Westen zuzuweisen. Das ist genau das, was der Kreml, der mit seinen Trojanischen Pferden schon seit Langem die europäische, vor allem die deutsche Politik beeinflusst, erreichen will.

Können Sie das konkretisieren?

Gabriele Krone-Schmalz verbreitet seit Jahren die politisch bedenkliche Mär, der Westen habe stets „Putins ausgestreckte Hand zurückgewiesen“ und Russland „nicht auf Augenhöhe behandelt“. Dann wird die Annexion der Krim mal schnell als politische „Notwehr unter Zeitdruck“ gerechtfertigt. Die Kritik an der großen Empathie von Krone-Schmalz für die russische Politik und die Blindheit gegenüber deren zunehmenden Konfrontations- und Kriegskurs ist weithin bekannt. Sie kommt nicht nur aus den Reihen der Wissenschaft, sondern auch von vielen Journalisten, an deren Arbeit Krone-Schmalz seit Jahren auch kein gutes Haar lässt, obwohl es in unseren Qualitätsmedien doch vielfach eine gute Berichterstattung gibt. Kollegen-Bashing gehört zum rhetorischen Grundinventar von Gabriele Krone-Schmalz. Die Nähe zu den russischen Narrativen hat Gabriele Krone-Schmalz in den Medien und im Internet den Ruf einer Kremlapologetin eingebracht. Diese Kritik war der VHS in Reutlingen bekannt. Sie hatte aber schon vor einem Jahr Krone-Schmalz zu einem Vortrag eingeladen. Wir haben es also mit einem Wiederholungsfall zu tun.

Was genau kritisieren Sie nun an dem Vortrag in Reutlingen?

Ärgerlich sind nicht nur die bedenklichen Narrative, die Gabriele Krone-Schmalz verbreitet, sondern auch, wie sie vonseiten der VHS zelebriert worden ist. Der Leiter der VHS fällt in seiner Einleitung gleich mit einem merkwürdigen Vergleich auf, indem er Putin mit einem Bankräuber vergleicht, der in der gegenüberliegenden Sparkasse Geiseln erschießt und droht, die Stadt in die Luft zu sprengen. Deshalb müsse man die Gründe seines Überfalls analysieren und verstehen, um deeskalieren zu können. Vergleiche hinken immer, dieser aber besonders. Ich dachte immer, Bankräuber werden verhaftet und verurteilt.

Kritik an Krone-Schmalz: Volkshochschul-Vortrag empört Russland-Experten

Im weiteren Verlauf des Vortrags von Krone-Schmalz geht es dann aber darum, Putin einen „gesichtswahrenden Ausweg“ aufzuzeigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Reutlinger Polizei das für eine richtig gute Idee hält.

Wenn am Ende der VHS-Leiter dann Gabriele Krone-Schmalz für die „Differenzierung“ des deutschen Diskurses dankt und sie dazu auffordert, damit weiterzumachen trotz aller „Anfeindungen“ und Proteste, dann wird damit genau die Opferrolle betont, die sich Krone-Schmalz immer selbst bescheinigt, wenn sie die vermeintlich zu „engen Meinungskorridore“ in Deutschland beschwört und für sich mehr Respekt einfordert. Wer eine umstrittene Person zum Vortrag einlädt, sollte dieser nicht eine große öffentliche Bühne zur Selbstinszenierung bieten, sondern die diskutablen Aussagen kritisch begleiten. Im Fall der VHS Reutlingen gab es vor allem Lobhudelei. Das wirft Fragen auf.

Das Interview ist noch viel länger – die weitere Lektüre lohnt

Geldpolitik der EZB: Zinsen rauf, Verstand runter

Quelle: Website Relevante Ökonomik

Heiner Flassbeck28. Oktober 2022

Zinsen rauf, Verstand runter

Die Europäische Zentralbank hat sich offenbar entschlossen, den restriktiven Pfad, auf den sie im Sommer eingeschwenkt ist, mit Gewalt durchzuziehen – selbst wenn jeden Tag deutlicher wird, dass er falsch ist. Auch große, auf Rationalität aufgebaute Institutionen wie die EZB können ein solch kindisches Trotzprogramm fahren, wenn ihre Führung intellektuell überfordert ist und sich einmal dem politischen Druck vollständig ergeben hat. Christine Lagarde ist zu Recht zum Symbol dieses Versagens geworden, weil sie mangels Sachkenntnis nicht in der Lage war und ist, dem primitiven öffentlichen Verständnis von Inflation und Geldpolitik auch nur das Geringste entgegenzustellen.

Insgesamt kann man schon jetzt konstatieren, dass die Politik im weitesten Sinne beim zweiten Auftreten von Preissteigerungen, die aus einer Kombination von globalen Angebotsschocks und Spekulation herrühren, mindestens so hilflos ist wie beim ersten Mal in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Natürlich werden Politiker ausgetauscht und eher per Zufall gewählt, erschreckend ist dennoch die völlige Unfähigkeit des Systems, aus einmal gemachten Erfahrungen zu lernen.

Was muss man wissen?

Die wenigen logischen Schritte, die man braucht, um die fatalen Fehler zu erkennen, die derzeit gemacht werden, müsste eigentlich jeder Ökonomikstudent im dritten Semester problemlos aufsagen können. Angebotsschocks schaffen in den Ländern, die vorwiegend Konsumenten von Rohstoffen sind, ein Verteilungsproblem und ein Nachfrageproblem. Insgesamt steht für die Volkswirtschaft weniger Einkommen zur Verfügung, das konsumiert oder investiert werden könnte. Das Verteilungsproblem können die Gewerkschaften nicht mit Gewalt zu ihren Gunsten lösen, weil die Arbeitgeber (wie hier z. B. erklärt) immer am längeren Preishebel sitzen. Die Finanzpolitik kann allerdings einiges tun, um den Verteilungskonflikt zu entschärfen.

Das Verteilungsproblem kann natürlich auch die Geldpolitik nicht lösen, sie kann es allerdings dramatisch verschärfen, wenn sie (wie die EZB derzeit) unterstellt, die Gewerkschaften würden auf jeden Fall unvernünftig sein und es würde ihnen gelingen, aus einem temporären Preisschock eine dauernde Inflation zu machen. Denn sie erhöht die Zinsen, ohne den Tarifpartnern (und der Finanzpolitik!) eine Chance zu geben, eine vernünftige Lösung des Verteilungsproblems zu finden. Das ist einfach dumm.

Es ist besonders dumm, wenn man ausblendet, dass derzeit in der EWU die Zeichen eindeutig auf Rezession stehen. Der Weg, auf dem eine Notenbank Preissteigerungen dämpfen kann, läuft ja immer über eine Schwächung der Investitionstätigkeit durch hohe Zinsen, die eine rezessive Wirkung hat und die Lohnpolitik bremst. Folglich glaubt die Notenbank implizit, dass eine Rezession eine bremsende Wirkung auf Lohnforderungen und Lohnabschlüsse hat, tut aber gleichzeitig so, als ob die schon im Gange befindliche Rezession keine Wirkung auf die Lohnverhandlungen hätte.

Die Position der Notenbank ist verantwortungslos, da es erste und klare Anzeichen dafür gibt, dass unter rezessivem Druck vernünftige Lösungen der Tarifpartner möglich sind. In der deutschen Chemieindustrie gibt es einen Abschluss, der ohne Zweifel eine inflationäre Entwicklung im Sinne einer Preis-Lohn-Preisspirale ausschließt (bei regulären Lohnerhöhungen von maximal 3,25 Prozent für jedes der nächsten beiden Jahre) und gleichzeitig für einen gewissen Einkommensausgleich durch deutliche Einmalzahlungen (von zwei Mal 1500 Euro für alle Lohngruppen) sorgt (Details findet man hier). Erweisen sich die derzeit gehandelten Inflationsprognosen für 2024 als viel zu hoch, haben die Arbeitnehmer einen wirklich guten deal gemacht.

Auf diese Weise haben die Tarifpartner das Verteilungsproblem gelöst, ohne inflationär zu sein. Schließt sich der Staat in intelligenter Weise an und fördert direkt die Einkommen derjenigen, die wenig verdienen, aber nicht in den Genuss von solchen Tarifverträgen kommen, ist das getan, was man sinnvollerweise tun kann, um den Verteilungskonflikt zu entspannen.

Es kommt hinzu, dass auch auf der Angebotsseite klare Zeichen für Entspannung zu erkennen sind. Die Preise fast aller Rohstoffe, die im Zentrum der ursprünglichen Angebotsschocks standen, sind inzwischen deutlich rückläufig. Man muss gar nicht auf die spektakuläre Wende beim Gaspreis verweisen, um zu erkennen, dass einige spekulative Blasen geplatzt sind und das Angebot bei vielen Rohstoffe sich wieder normalisiert. Kommt es nicht zu neuen Schocks, ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahr schon die Inflationsraten auch ohne Zutun der Notenbanken deutlich sinken werden.

Das Mandat der Notenbank

Das alles zu ignorieren, ist ein Versäumnis der Europäischen Zentralbank, das kaum hart genug verurteilt werden kann. Eine Institution, der man eine so große Unabhängigkeit eingeräumt hat, muss auch den Mut haben, sich auf der Basis einer klaren und klar kommunizierten Diagnose der Lage dem politischen und medialen Mainstream entgegenzustellen.

Christine Lagarde sagte nach der Zinserhöhung, sie kommentiere politische Debatten grundsätzlich nicht. Doch genau diese Einstellung ist falsch. Wer denn sonst als die EZB kann den allzu einfachen Vorurteilen der Politik sachlich etwas entgegensetzen? Nicht zu kommentieren und einfach umzufallen, wenn der politische Druck zu groß wird, ist ein Armutszeugnis ersten Ranges.

Auch der naive Glaube von Frau Lagarde, die EZB habe ein klares Mandat, nämlich die Preisstabilität wiederherzustellen, ganz gleich, was die Ursachen der Preissteigerungen waren, ist falsch. Preisstabilität auf mittlere Frist durchzuhalten, heißt nicht, jede Preiserhöhung zu bekämpfen. Es kann nur heißen, inflationäre Prozesse zu unterbinden, die das Potenzial haben, das Vertrauen der Bevölkerung in die grundsätzliche Stabilität der Währung zu untergraben.

Man muss es zugestehen: Die Europäische Notenbank kämpft an viel mehr Fronten um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als eine normale nationale Notenbank. Aber weil das so ist, kommt es bei ihr auch viel mehr als bei einer nationalen Notenbank darauf an, überzeugende Argumente und fundierte sachliche Analysen mit der Öffentlichkeit und mit der Politik im gesamten Währungsgebiet zu diskutieren. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und die politische Ignoranz in deren Gefolge sind die besten Beispiele für die Notwendigkeit, viel offensiver zu kommunizieren.

Das genau tut die EZB immer weniger. Sie verschanzt sich hinter ihrem Mandat und beharrt auf ihrer formalen Unabhängigkeit. Das aber ist eine Strategie, die scheitern muss, weil am Ende nur zählt, ob sie den Kampf um den Verstand derer gewinnt, die in der Lage sind, die Geldpolitik auf der höchsten Ebene der Politik mit guten sachlichen Argumenten zu verteidigen.

Richard David Prechts und Harald Welzers Buch „Die Vierte Gewalt“ – kritische und sehr lesenswerte Replik von „Übermedien“

Quelle: Übermedien, 25. Oktober 2022

„Die Vierte Gewalt“: Das Buch von Precht und Welzer ist fast so richtig wie die Bahn pünktlich

von Stefan Niggemeier

„Es ist eine durchaus bedeutende kulturelle Veränderung, wenn auf einmal jeder Trottel alles beurteilen können soll.“ Richard David Precht und Harald Welzer in: „Die Vierte Gewalt“

„Stern“-Interview mit Richard David Precht und Harald Welzer über: „Die Vierte Gewalt“

Frage:Ist es nicht manchmal besser zu schweigen, wenn man wie Sie kein Experte ist?“

Richard David Precht:Soll das heißen, man darf sich nur noch in der Öffentlichkeit äußern, wenn man ausgewiesener Experte ist, der über ein sicheres Zukunftswissen verfügt?“

Fehler? Nichts Gravierendes

Am Freitag habe ich auf der Frankfurter Buchmesse mit Richard David Precht und Harald Welzer über ihr Buch „Die Vierte Gewalt“ diskutiert. Ich habe dabei kritisiert, dass es so viele Fehler enthält und wirkt, als sei es gar nicht lektoriert worden – wenn wir bei Übermedien so schlampig arbeiten würden, wären wir längst bankrott.

Welzer sagte, er hätte „gar nicht den Anspruch, ein fehlerfreies Buch zu schreiben“, und verglich das mit der Bahn, die sich zum Ziel setzte, zu 80 Prozent pünktlich zu sein. „Da würde man sich wünschen, sie wären zu 100 Prozent pünktlich, aber sie wissen, dass es bestimmte Probleme in der Realisierung dieses Zieles gibt“. Bei den Büchern, die er geschrieben habe, habe er „bei größter Akribie und ganz doller Anstrengung hinterher immer wieder feststellen müssen, es gab da Fehler drin“.

Tatsächlich ist es eine besondere Ironie dieses Buches, dass die Autoren – zurecht – von den Qualitätsmedien mehr Qualität und dabei auch „mehr Sorgfalt“ fordern, selbst aber diese Sorgfalt vermissen lassen.

Der erstaunlich laxe Umgang von Precht und Welzer mit der Wahrheit

Einige Beispiele dafür haben wir hier schon behandelt. Es gibt falsche Unterstellungen und strategische Auslassungen. Es fehlen Hinweise auf Interessenskonflikte, wenn das Buch den konstruktiven Journalismus von „FuturZwei“ als beispielhaft erwähnt, ohne zu erwähnen, dass Welzer daran beteiligt ist. Und es gibt immer wieder scheinbare Belege für Prechts und Welzers Thesen, die sich bei genauerem Hinsehen als unpassend entpuppen.

Hier weiterlesen:


  1. Alle Impfpflicht-Freunde außer eine?

Precht hat den Begriff „Cursor-Journalismus“ erfunden: Journalisten orientierten sich ängstlich und peinlich genau am „zappeligen Cursor des Zeitgeistes“ – und grenzten alles aus, was sie davon zu weit entferne. „Wichtig ist, dass man dort steht, wo die Mehrheit der Kollegen steht.“ Dabei wechsle dieser „Cursor“ sogar immer wieder seine Position.

Precht und Welzer zeigen die Wirkung am Beispiel einer Talkshow:

So sah sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler im November 2021 in der „Hart aber Fair“ mit gleich vier Gegenspielern konfrontiert, die sich allesamt für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug legten, einschließlich des ebenso meinungsfreudigen Moderators Frank Plasberg. Die Leitmedien fielen anschließend fast geschlossen über die Philosophin her, ließen jeden Anstand vermissen und griffen sie persönlich an. Dabei hatte sich Flaßpöhler sehr wohl für das Impfen ausgesprochen, nicht aber für die pauschale undifferenzierte Verunglimpfung aller Ungeimpften und nicht für einen allgemeinen Impfzwang – eine Position, die der geltenden deutschen Rechtslage entsprach. Wenige Monate später wechselten auch die leitmedialen Impfplicht-Freunde wieder ins Lager der Skeptiker und Gegner über.“

Ich würde die „Hart aber fair“-Sendung tatsächlich als furchtbar misslungen bezeichnen, was nicht zuletzt daran lag, dass der Moderator einen ernsthaften Austausch von Argumenten immer wieder unterband. Es entstand unbestreitbar – und sogar in der Sendung thematisiert – auch eine ungute Alle-gegen-eine-Dynamik. Aber es war keineswegs so, wie Precht und Welzer es darstellen und möglicherweise aus dem Gedächtnis erinnerten: Keiner der vier Gegenspieler legte sich „für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug“. Im Gegenteil: Alle formulierten unterschiedlich starke Bedenken gegen eine solche Impfpflicht, teilweise auch gegen eine Impfpflicht für Pflegepersonal.

Die Diskussion drehte sich darum, durch welche Maßnahmen erreicht werden könnte, dass sich mehr Menschen impfen lassen – ohne eine Impfpflicht einführen zu müssen. Der Publizist Georg Mascolo sagte in der Runde: „Es ist eine der schrecklichsten Ideen, Impfpflichten zu verhängen.“

Der Dissens zu Flaßpöhler entstand dadurch, dass alle anderen sich für unterschiedliche Arten aussprachen, Druck auf Ungeimpfte auszuüben oder sogar drastisch zu verschärfen, was sie prinzipiell ablehnte und dafür plädierte, mündige Bürger nicht wie Kinder zu behandeln und ihnen Selbstverantwortung zuzugestehen.

Die Sendung taugt tatsächlich als Negativ-Beispiel dafür, wie wichtige gesellschaftliche Diskussionen nicht geführt werden sollten und welche Ausgrenzungs-Dynamiken in dieser Phase der Pandemie entstanden. Aber wenn man das kritisiert, muss man sich schon mit dem tatsächlichen Verlauf der Sendung befassen und kann nicht falsch behaupten, es hätten sich alle bis auf eine, dem imaginären „Cursor“ folgend, für eine Impfpflicht ausgesprochen, nur um kurz darauf auf unerklärliche Weise alle das Gegenteil zu wollen.

Aber so genau wollten sich Precht und Welzer wohl nicht damit befassen.

Sie kritisieren – zurecht – dass Medien Themen „verzweiseitigen“, das heißt: auf eine von zwei Extrempositionen, schwarz oder weiß, reduzieren. „Dass in der Migrationsfrage, der Frage der Coronamaßnahmen oder der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine viele Menschen in Deutschland keine eindeutige, sondern eine unentschiedene Meinung vertreten, kommt leitmedial praktisch kaum vor.“

Precht und Welzer selbst tun aber regelmäßig in ihrem Buch genau das und reduzieren etwa die Frage, ob Talkshows richtig besetzt sind, auf die Zahl der Vertreter, die sie vorher in genau solche binären Positionen einsortiert haben – auch wenn das deren tatsächlicher komplexer Meinung oder dem Diskussionsverlauf nicht wirklich entspricht.