Kampf um die Deutung der Neuzeit“ – Hauke Ritz | Im Gespräch

Professor Klaus Gestwa kritisiert Gabriele Krone-Schmalz: „Chance zum kritischen Diskurs …leichtfertig verspielt“

Quelle: t-online.de

Interview von Michael Ströbel – 3.11.2022

Professor Klaus Gestwa kritisiert Gabriele Krone-Schmalz: „Die Chance zum kritischen Diskurs hat die VHS Reutlingen leichtfertig verspielt“

Eine ehemalige Moskau-Korrespondentin geht auf YouTube viral und wird von einer Volkshochschule gefeiert. Den Osteuropa-Forscher Klaus Gestwa entsetzt das.

Ein Vortrag der ehemaligen Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen geht derzeit auf YouTube viral. Hunderttausende haben sich das Video inzwischen auf dem Kanal der Volkshochschule (VHS) Reutlingen angesehen. Viele Kommentatoren feiern die „andere Perspektive“, die die Journalistin in den rund eineinhalb Stunden aufzeigt. Doch Osteuropa-Experten sehen die Person und ihre Inhalte mehr als nur kritisch.

Einer von ihnen ist Prof. Klaus Gestwa von der Universität Tübingen, die nur rund zehn Kilometer von Reutlingen entfernt liegt. Mit den Worten „Zu Gabriele Krone-Schmalz gibt es so viel zu sagen, um vor ihrer manipulativen Art zu warnen“, erklärte er sich zu einem Interview mit t-online bereit.Auf seine ganz eindrückliche Art nimmt er darin die Kernargumente von Krone-Schmalz auseinander. Auch an der VHS Reutlingen lässt er kaum ein gutes Wort.

Zur Person: Prof. Dr. Klaus Gestwa ist seit 2009 der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Er forscht zur Zeitgeschichte Russlands und der Ukraine. Während der vergangenen Jahre war er an mehreren internationalen Forschungsprojekten mit russischen und ukrainischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Bis zum Ausbruch der Corona-Epidemie war er regelmäßig zu Forschungsaufenthalten sowohl in Russland als auch in der Ukraine.

t-online: Herr Prof. Gestwa, wie bewerten Sie den Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen und dass er von der VHS auf YouTube veröffentlicht wurde?

Prof. Klaus Gestwa: Der Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz ist mittlerweile 790.000 Mal aufgerufen worden. Wenn es der VHS um Reichweite ging, dann dürften sich die Verantwortlichen auf die Schulter klopfen. Dafür ist dann ihre politische Verantwortung auf der Strecke geblieben. Wir können seit Jahren die Strategie der Schuldlastumkehr beobachten, die darauf zielt, nicht Putins Russland als den Ausgangspunkt von Aggressionen und den seit 2014 stattfindenden Krieg gegen die Ukraine auszumachen, sondern die Schuld dafür stattdessen der Ukraine und dem Westen zuzuweisen. Das ist genau das, was der Kreml, der mit seinen Trojanischen Pferden schon seit Langem die europäische, vor allem die deutsche Politik beeinflusst, erreichen will.

Können Sie das konkretisieren?

Gabriele Krone-Schmalz verbreitet seit Jahren die politisch bedenkliche Mär, der Westen habe stets „Putins ausgestreckte Hand zurückgewiesen“ und Russland „nicht auf Augenhöhe behandelt“. Dann wird die Annexion der Krim mal schnell als politische „Notwehr unter Zeitdruck“ gerechtfertigt. Die Kritik an der großen Empathie von Krone-Schmalz für die russische Politik und die Blindheit gegenüber deren zunehmenden Konfrontations- und Kriegskurs ist weithin bekannt. Sie kommt nicht nur aus den Reihen der Wissenschaft, sondern auch von vielen Journalisten, an deren Arbeit Krone-Schmalz seit Jahren auch kein gutes Haar lässt, obwohl es in unseren Qualitätsmedien doch vielfach eine gute Berichterstattung gibt. Kollegen-Bashing gehört zum rhetorischen Grundinventar von Gabriele Krone-Schmalz. Die Nähe zu den russischen Narrativen hat Gabriele Krone-Schmalz in den Medien und im Internet den Ruf einer Kremlapologetin eingebracht. Diese Kritik war der VHS in Reutlingen bekannt. Sie hatte aber schon vor einem Jahr Krone-Schmalz zu einem Vortrag eingeladen. Wir haben es also mit einem Wiederholungsfall zu tun.

Was genau kritisieren Sie nun an dem Vortrag in Reutlingen?

Ärgerlich sind nicht nur die bedenklichen Narrative, die Gabriele Krone-Schmalz verbreitet, sondern auch, wie sie vonseiten der VHS zelebriert worden ist. Der Leiter der VHS fällt in seiner Einleitung gleich mit einem merkwürdigen Vergleich auf, indem er Putin mit einem Bankräuber vergleicht, der in der gegenüberliegenden Sparkasse Geiseln erschießt und droht, die Stadt in die Luft zu sprengen. Deshalb müsse man die Gründe seines Überfalls analysieren und verstehen, um deeskalieren zu können. Vergleiche hinken immer, dieser aber besonders. Ich dachte immer, Bankräuber werden verhaftet und verurteilt.

Kritik an Krone-Schmalz: Volkshochschul-Vortrag empört Russland-Experten

Im weiteren Verlauf des Vortrags von Krone-Schmalz geht es dann aber darum, Putin einen „gesichtswahrenden Ausweg“ aufzuzeigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Reutlinger Polizei das für eine richtig gute Idee hält.

Wenn am Ende der VHS-Leiter dann Gabriele Krone-Schmalz für die „Differenzierung“ des deutschen Diskurses dankt und sie dazu auffordert, damit weiterzumachen trotz aller „Anfeindungen“ und Proteste, dann wird damit genau die Opferrolle betont, die sich Krone-Schmalz immer selbst bescheinigt, wenn sie die vermeintlich zu „engen Meinungskorridore“ in Deutschland beschwört und für sich mehr Respekt einfordert. Wer eine umstrittene Person zum Vortrag einlädt, sollte dieser nicht eine große öffentliche Bühne zur Selbstinszenierung bieten, sondern die diskutablen Aussagen kritisch begleiten. Im Fall der VHS Reutlingen gab es vor allem Lobhudelei. Das wirft Fragen auf.

Das Interview ist noch viel länger – die weitere Lektüre lohnt

Geldpolitik der EZB: Zinsen rauf, Verstand runter

Quelle: Website Relevante Ökonomik

Heiner Flassbeck28. Oktober 2022

Zinsen rauf, Verstand runter

Die Europäische Zentralbank hat sich offenbar entschlossen, den restriktiven Pfad, auf den sie im Sommer eingeschwenkt ist, mit Gewalt durchzuziehen – selbst wenn jeden Tag deutlicher wird, dass er falsch ist. Auch große, auf Rationalität aufgebaute Institutionen wie die EZB können ein solch kindisches Trotzprogramm fahren, wenn ihre Führung intellektuell überfordert ist und sich einmal dem politischen Druck vollständig ergeben hat. Christine Lagarde ist zu Recht zum Symbol dieses Versagens geworden, weil sie mangels Sachkenntnis nicht in der Lage war und ist, dem primitiven öffentlichen Verständnis von Inflation und Geldpolitik auch nur das Geringste entgegenzustellen.

Insgesamt kann man schon jetzt konstatieren, dass die Politik im weitesten Sinne beim zweiten Auftreten von Preissteigerungen, die aus einer Kombination von globalen Angebotsschocks und Spekulation herrühren, mindestens so hilflos ist wie beim ersten Mal in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Natürlich werden Politiker ausgetauscht und eher per Zufall gewählt, erschreckend ist dennoch die völlige Unfähigkeit des Systems, aus einmal gemachten Erfahrungen zu lernen.

Was muss man wissen?

Die wenigen logischen Schritte, die man braucht, um die fatalen Fehler zu erkennen, die derzeit gemacht werden, müsste eigentlich jeder Ökonomikstudent im dritten Semester problemlos aufsagen können. Angebotsschocks schaffen in den Ländern, die vorwiegend Konsumenten von Rohstoffen sind, ein Verteilungsproblem und ein Nachfrageproblem. Insgesamt steht für die Volkswirtschaft weniger Einkommen zur Verfügung, das konsumiert oder investiert werden könnte. Das Verteilungsproblem können die Gewerkschaften nicht mit Gewalt zu ihren Gunsten lösen, weil die Arbeitgeber (wie hier z. B. erklärt) immer am längeren Preishebel sitzen. Die Finanzpolitik kann allerdings einiges tun, um den Verteilungskonflikt zu entschärfen.

Das Verteilungsproblem kann natürlich auch die Geldpolitik nicht lösen, sie kann es allerdings dramatisch verschärfen, wenn sie (wie die EZB derzeit) unterstellt, die Gewerkschaften würden auf jeden Fall unvernünftig sein und es würde ihnen gelingen, aus einem temporären Preisschock eine dauernde Inflation zu machen. Denn sie erhöht die Zinsen, ohne den Tarifpartnern (und der Finanzpolitik!) eine Chance zu geben, eine vernünftige Lösung des Verteilungsproblems zu finden. Das ist einfach dumm.

Es ist besonders dumm, wenn man ausblendet, dass derzeit in der EWU die Zeichen eindeutig auf Rezession stehen. Der Weg, auf dem eine Notenbank Preissteigerungen dämpfen kann, läuft ja immer über eine Schwächung der Investitionstätigkeit durch hohe Zinsen, die eine rezessive Wirkung hat und die Lohnpolitik bremst. Folglich glaubt die Notenbank implizit, dass eine Rezession eine bremsende Wirkung auf Lohnforderungen und Lohnabschlüsse hat, tut aber gleichzeitig so, als ob die schon im Gange befindliche Rezession keine Wirkung auf die Lohnverhandlungen hätte.

Die Position der Notenbank ist verantwortungslos, da es erste und klare Anzeichen dafür gibt, dass unter rezessivem Druck vernünftige Lösungen der Tarifpartner möglich sind. In der deutschen Chemieindustrie gibt es einen Abschluss, der ohne Zweifel eine inflationäre Entwicklung im Sinne einer Preis-Lohn-Preisspirale ausschließt (bei regulären Lohnerhöhungen von maximal 3,25 Prozent für jedes der nächsten beiden Jahre) und gleichzeitig für einen gewissen Einkommensausgleich durch deutliche Einmalzahlungen (von zwei Mal 1500 Euro für alle Lohngruppen) sorgt (Details findet man hier). Erweisen sich die derzeit gehandelten Inflationsprognosen für 2024 als viel zu hoch, haben die Arbeitnehmer einen wirklich guten deal gemacht.

Auf diese Weise haben die Tarifpartner das Verteilungsproblem gelöst, ohne inflationär zu sein. Schließt sich der Staat in intelligenter Weise an und fördert direkt die Einkommen derjenigen, die wenig verdienen, aber nicht in den Genuss von solchen Tarifverträgen kommen, ist das getan, was man sinnvollerweise tun kann, um den Verteilungskonflikt zu entspannen.

Es kommt hinzu, dass auch auf der Angebotsseite klare Zeichen für Entspannung zu erkennen sind. Die Preise fast aller Rohstoffe, die im Zentrum der ursprünglichen Angebotsschocks standen, sind inzwischen deutlich rückläufig. Man muss gar nicht auf die spektakuläre Wende beim Gaspreis verweisen, um zu erkennen, dass einige spekulative Blasen geplatzt sind und das Angebot bei vielen Rohstoffe sich wieder normalisiert. Kommt es nicht zu neuen Schocks, ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahr schon die Inflationsraten auch ohne Zutun der Notenbanken deutlich sinken werden.

Das Mandat der Notenbank

Das alles zu ignorieren, ist ein Versäumnis der Europäischen Zentralbank, das kaum hart genug verurteilt werden kann. Eine Institution, der man eine so große Unabhängigkeit eingeräumt hat, muss auch den Mut haben, sich auf der Basis einer klaren und klar kommunizierten Diagnose der Lage dem politischen und medialen Mainstream entgegenzustellen.

Christine Lagarde sagte nach der Zinserhöhung, sie kommentiere politische Debatten grundsätzlich nicht. Doch genau diese Einstellung ist falsch. Wer denn sonst als die EZB kann den allzu einfachen Vorurteilen der Politik sachlich etwas entgegensetzen? Nicht zu kommentieren und einfach umzufallen, wenn der politische Druck zu groß wird, ist ein Armutszeugnis ersten Ranges.

Auch der naive Glaube von Frau Lagarde, die EZB habe ein klares Mandat, nämlich die Preisstabilität wiederherzustellen, ganz gleich, was die Ursachen der Preissteigerungen waren, ist falsch. Preisstabilität auf mittlere Frist durchzuhalten, heißt nicht, jede Preiserhöhung zu bekämpfen. Es kann nur heißen, inflationäre Prozesse zu unterbinden, die das Potenzial haben, das Vertrauen der Bevölkerung in die grundsätzliche Stabilität der Währung zu untergraben.

Man muss es zugestehen: Die Europäische Notenbank kämpft an viel mehr Fronten um Glaubwürdigkeit und Vertrauen als eine normale nationale Notenbank. Aber weil das so ist, kommt es bei ihr auch viel mehr als bei einer nationalen Notenbank darauf an, überzeugende Argumente und fundierte sachliche Analysen mit der Öffentlichkeit und mit der Politik im gesamten Währungsgebiet zu diskutieren. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts und die politische Ignoranz in deren Gefolge sind die besten Beispiele für die Notwendigkeit, viel offensiver zu kommunizieren.

Das genau tut die EZB immer weniger. Sie verschanzt sich hinter ihrem Mandat und beharrt auf ihrer formalen Unabhängigkeit. Das aber ist eine Strategie, die scheitern muss, weil am Ende nur zählt, ob sie den Kampf um den Verstand derer gewinnt, die in der Lage sind, die Geldpolitik auf der höchsten Ebene der Politik mit guten sachlichen Argumenten zu verteidigen.

Richard David Prechts und Harald Welzers Buch „Die Vierte Gewalt“ – kritische und sehr lesenswerte Replik von „Übermedien“

Quelle: Übermedien, 25. Oktober 2022

„Die Vierte Gewalt“: Das Buch von Precht und Welzer ist fast so richtig wie die Bahn pünktlich

von Stefan Niggemeier

„Es ist eine durchaus bedeutende kulturelle Veränderung, wenn auf einmal jeder Trottel alles beurteilen können soll.“ Richard David Precht und Harald Welzer in: „Die Vierte Gewalt“

„Stern“-Interview mit Richard David Precht und Harald Welzer über: „Die Vierte Gewalt“

Frage:Ist es nicht manchmal besser zu schweigen, wenn man wie Sie kein Experte ist?“

Richard David Precht:Soll das heißen, man darf sich nur noch in der Öffentlichkeit äußern, wenn man ausgewiesener Experte ist, der über ein sicheres Zukunftswissen verfügt?“

Fehler? Nichts Gravierendes

Am Freitag habe ich auf der Frankfurter Buchmesse mit Richard David Precht und Harald Welzer über ihr Buch „Die Vierte Gewalt“ diskutiert. Ich habe dabei kritisiert, dass es so viele Fehler enthält und wirkt, als sei es gar nicht lektoriert worden – wenn wir bei Übermedien so schlampig arbeiten würden, wären wir längst bankrott.

Welzer sagte, er hätte „gar nicht den Anspruch, ein fehlerfreies Buch zu schreiben“, und verglich das mit der Bahn, die sich zum Ziel setzte, zu 80 Prozent pünktlich zu sein. „Da würde man sich wünschen, sie wären zu 100 Prozent pünktlich, aber sie wissen, dass es bestimmte Probleme in der Realisierung dieses Zieles gibt“. Bei den Büchern, die er geschrieben habe, habe er „bei größter Akribie und ganz doller Anstrengung hinterher immer wieder feststellen müssen, es gab da Fehler drin“.

Tatsächlich ist es eine besondere Ironie dieses Buches, dass die Autoren – zurecht – von den Qualitätsmedien mehr Qualität und dabei auch „mehr Sorgfalt“ fordern, selbst aber diese Sorgfalt vermissen lassen.

Der erstaunlich laxe Umgang von Precht und Welzer mit der Wahrheit

Einige Beispiele dafür haben wir hier schon behandelt. Es gibt falsche Unterstellungen und strategische Auslassungen. Es fehlen Hinweise auf Interessenskonflikte, wenn das Buch den konstruktiven Journalismus von „FuturZwei“ als beispielhaft erwähnt, ohne zu erwähnen, dass Welzer daran beteiligt ist. Und es gibt immer wieder scheinbare Belege für Prechts und Welzers Thesen, die sich bei genauerem Hinsehen als unpassend entpuppen.

Hier weiterlesen:


  1. Alle Impfpflicht-Freunde außer eine?

Precht hat den Begriff „Cursor-Journalismus“ erfunden: Journalisten orientierten sich ängstlich und peinlich genau am „zappeligen Cursor des Zeitgeistes“ – und grenzten alles aus, was sie davon zu weit entferne. „Wichtig ist, dass man dort steht, wo die Mehrheit der Kollegen steht.“ Dabei wechsle dieser „Cursor“ sogar immer wieder seine Position.

Precht und Welzer zeigen die Wirkung am Beispiel einer Talkshow:

So sah sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler im November 2021 in der „Hart aber Fair“ mit gleich vier Gegenspielern konfrontiert, die sich allesamt für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug legten, einschließlich des ebenso meinungsfreudigen Moderators Frank Plasberg. Die Leitmedien fielen anschließend fast geschlossen über die Philosophin her, ließen jeden Anstand vermissen und griffen sie persönlich an. Dabei hatte sich Flaßpöhler sehr wohl für das Impfen ausgesprochen, nicht aber für die pauschale undifferenzierte Verunglimpfung aller Ungeimpften und nicht für einen allgemeinen Impfzwang – eine Position, die der geltenden deutschen Rechtslage entsprach. Wenige Monate später wechselten auch die leitmedialen Impfplicht-Freunde wieder ins Lager der Skeptiker und Gegner über.“

Ich würde die „Hart aber fair“-Sendung tatsächlich als furchtbar misslungen bezeichnen, was nicht zuletzt daran lag, dass der Moderator einen ernsthaften Austausch von Argumenten immer wieder unterband. Es entstand unbestreitbar – und sogar in der Sendung thematisiert – auch eine ungute Alle-gegen-eine-Dynamik. Aber es war keineswegs so, wie Precht und Welzer es darstellen und möglicherweise aus dem Gedächtnis erinnerten: Keiner der vier Gegenspieler legte sich „für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug“. Im Gegenteil: Alle formulierten unterschiedlich starke Bedenken gegen eine solche Impfpflicht, teilweise auch gegen eine Impfpflicht für Pflegepersonal.

Die Diskussion drehte sich darum, durch welche Maßnahmen erreicht werden könnte, dass sich mehr Menschen impfen lassen – ohne eine Impfpflicht einführen zu müssen. Der Publizist Georg Mascolo sagte in der Runde: „Es ist eine der schrecklichsten Ideen, Impfpflichten zu verhängen.“

Der Dissens zu Flaßpöhler entstand dadurch, dass alle anderen sich für unterschiedliche Arten aussprachen, Druck auf Ungeimpfte auszuüben oder sogar drastisch zu verschärfen, was sie prinzipiell ablehnte und dafür plädierte, mündige Bürger nicht wie Kinder zu behandeln und ihnen Selbstverantwortung zuzugestehen.

Die Sendung taugt tatsächlich als Negativ-Beispiel dafür, wie wichtige gesellschaftliche Diskussionen nicht geführt werden sollten und welche Ausgrenzungs-Dynamiken in dieser Phase der Pandemie entstanden. Aber wenn man das kritisiert, muss man sich schon mit dem tatsächlichen Verlauf der Sendung befassen und kann nicht falsch behaupten, es hätten sich alle bis auf eine, dem imaginären „Cursor“ folgend, für eine Impfpflicht ausgesprochen, nur um kurz darauf auf unerklärliche Weise alle das Gegenteil zu wollen.

Aber so genau wollten sich Precht und Welzer wohl nicht damit befassen.

Sie kritisieren – zurecht – dass Medien Themen „verzweiseitigen“, das heißt: auf eine von zwei Extrempositionen, schwarz oder weiß, reduzieren. „Dass in der Migrationsfrage, der Frage der Coronamaßnahmen oder der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine viele Menschen in Deutschland keine eindeutige, sondern eine unentschiedene Meinung vertreten, kommt leitmedial praktisch kaum vor.“

Precht und Welzer selbst tun aber regelmäßig in ihrem Buch genau das und reduzieren etwa die Frage, ob Talkshows richtig besetzt sind, auf die Zahl der Vertreter, die sie vorher in genau solche binären Positionen einsortiert haben – auch wenn das deren tatsächlicher komplexer Meinung oder dem Diskussionsverlauf nicht wirklich entspricht.

Klima-Aktivisten in der Kritik – Die unmögliche Debatte um den Tod einer Radfahrerin

Quelle: Übermedien, 4.11.22

Klima-Aktivisten in der Kritik – Die unmögliche Debatte um den Tod einer Radfahrerin

von Stefan Niggemeier

Am Montag ist in Berlin eine Radfahrerin von einem Betonmischer überfahren worden. Sie erlag gestern ihren schweren Verletzungen.

Der Fall an sich ist leider so alltäglich, dass er vermutlich keine bundesweite Schlagzeilen gemacht hätte. Allerdings hatten, während er sich ereignete, mehrere Kilometer entfernt Aktivisten der „Letzten Generation“ eine Brücke über die Stadtautobahn blockiert. Die Polizei sperrte mehrere Spuren. In dem Stau, der entstand, steckte dann auch ein spezielles Fahrzeug der Feuerwehr fest, mit dem der Unfall-LKW angehoben werden sollte. Die Aktivisten sahen sich deshalb massiven Vorwürfen ausgesetzt.

Heute nun meldete die „Süddeutsche Zeitung“ allerdings, dass diese Verzögerung keine Auswirkungen auf die Rettung gehabt haben soll. Das ergebe sich aus einem internen Vermerk der Feuerwehr. Die Notärztin habe vor Ort entschieden, auf ein Anheben des LKW zu verzichten: „Selbst wenn mit Rüstwagen oder Kran andere technische Möglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, war dies die richtige Vorgehensweise.“ Das würde bedeuten, dass die Aktion der „Letzten Generation“ die Lage der Radfahrerin nicht noch schlimmer gemacht hat. Ist das eine gute Nachricht? Ändert das etwas?

Kein Anlass zum Triumph

Natürlich ist die Nachricht gut für die Klima-Aktivisten, die dem Vorwurf, sie hätten den Tod der Frau mitverschuldet, jetzt etwas entgegensetzen können. Gleichzeitig fühlt es sich falsch an, diese neuen Erkenntnisse triumphierend den Kritikern der Aktivisten entgegenzuhalten. Nicht nur, weil das der Tragödie des eigentlichen Unfalls nicht gerecht wird. Sondern vor allem auch, weil die Nachricht, dass die Proteste im konkreten Fall anscheinend die Hilfe für die Frau nicht erschwert haben, nichts daran ändert, dass sie es hätten tun können.

Der Autor Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.

Es ist gut und notwendig, wenn die genauen Umstände und Zusammenhänge geklärt werden, durch interne Berichte und journalistische Recherchen. Aber die Aufklärung ändert nichts an der Tatsache: Es war nicht auszuschließen, dass wegen dieser Aktion ein Mensch stirbt, der nicht hätte sterben müssen. Und es ist nicht auszuschließen, dass diese Klebe-Aktionen im Straßenverkehr Menschenleben gefährden, weil irgendein Arzt oder Helfer irgendwo im Stau steht und zu spät dort ankommt, wo er gebraucht wird. Das ist der Kern der seriösen Debatte: Wie gefährlich sind diese Proteste? Die neuen Erkenntnisse bedeuten in keiner Weise, dass sie ungefährlicher sind.

Aber so unangemessen jeder Triumphalismus jetzt ist, so unangemessen war er auch, als er sich von Politikern und Medien in den vergangenen Tagen gegen die „Letzte Generation“-Aktivisten richtete, nach dem Motto: Seht her, wir haben es immer gesagt, und nun habt ihr ein Menschenleben auf dem Gewissen! Die „Bild“-Zeitung hat es, natürlich, mit der Schamlosigkeit am weitesten getrieben. Sie titelte heute groß auf Seite 1 (Ausriss 1, „Bild“) und schrieb im Innern (Ausriss 2, „Bild“):

Aber auch ein eigentlich als besonnen geltender Politiker wie der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff scheute nicht davor zurück, die Aktivisten unmittelbar für den Tod der Frau verantwortlich zu machen. Er sprach in einem Tweet vom „ersten Todesopfer von @AufstandLastGen“.

Teile der Berichterstattung und Debatten der vergangenen Tage schienen so, als wünschten sich Leute geradezu, dass die Autobahn-Aktion für die Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Opfers verantwortlich ist, um die „Letzte Generation“ ein für allemal diskreditieren zu können. Es ging nicht immer nur um die Verantwortung der Aktivisten, sondern häufiger auch um die politische Instrumentalisierung eines Unfalls. Schon am Tag, an dem er sich ereignete, begann ein politisch-medialer Überbietungswettbewerb.

„Bevölkerung in Geiselhaft“

Um 8:20 Uhr überfuhr der LKW die Radfahrerin. Um 8:56 Uhr twitterte die Berliner Feuerwehr dazu. Um 10:24 Uhr meldete der Berliner Landesdienst der Deutschen Presse-Agentur (dpa): „Radfahrerin bei Unfall lebensgefährlich verletzt“.

Eine halbe Stunde später schon hatte sich der Fokus gedreht, und das Thema war brisanter geworden. Mit höherer Priorität als bei der vorherigen Meldung berichtete dpa um 10:55 Uhr: „Feuerwehr: Einsatzkräfte stehen wegen Blockaden im Stau“. Die Agentur zitierte den Feuerwehr-Sprecher Rolf Erbe mit dem Satz, der Rüstwagen habe „recht relevante Zeit“ im Stau auf der Stadtautobahn A100 gestanden. „Die Rettung hat sich dadurch zeitlich verzögert.“

Am Nachmittag sagte ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: „Spätestens jetzt sollte man sich mal vom Märchen des harmlosen Protests verabschieden.“ Bei den „Guerilla-Aktionen im Zeichen des Klimas“ werde mit der Gesundheit der Bevölkerung gespielt. Die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte: „Diese Blockierer*innen nehmen die Bevölkerung bewusst in Geiselhaft und die Gefahren in Kauf“. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich noch am selben Tag: Er kenne zwar den konkreten Sachverhalt nicht. Es wäre aber „sehr bedauerlich und sehr bedrückend“, wenn der Protest Einsatzfahrzeuge behindert hätte.

Von einem solchen Konjunktiv wollten manche professionelle Kommentatoren nichts wissen. „Am Montag musste ein Unfallopfer nun länger leiden und auf Hilfe warten“, behauptete zum Beispiel Christine Richter, die Chefredakteurin der „Berliner Morgenpost“ in einem Kommentar die Möglichkeit als Tatsache. Sie sah „eine moralische Grenze überschritten“. „Etliche Berliner sprechen inzwischen von Klima-Terroristen“, schrieb sie am Montagabend.

In der „Bild“-Zeitung vom Mittwoch …

  • forderte die CSU: „Klima-Radikale in den Knast“,
  • wurde Bundesjustizminister Marco Buschmann mit Hinweis zitiert, dass „unsere Gesetze neben Geldstrafen auch in bestimmten Fällen Freiheitsstrafen“ vorsieht und es gelte, diese Gesetze auch durchzusetzen,
  • sagte der Berliner Oberstaatsanwalt, dass die Justiz „vom geltenden Recht in vollem Umfang Gebrauch machen“ müsse,
  • verlangte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, Teilnehmer einer für eine Woche angekündigten Aktion „gleich für eine ganze Woche in Gewahrsam“ zu nehmen,
  • kündigte die Berliner Regierende Bürgermeisterin an, dass die „Mühlen der Justiz sehr gründlich mahlen“ werden.

Am Donnerstag sagte Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD): „Wenn Straftaten begangen werden und andere Menschen gefährdet werden, ist jede Grenze legitimen Protests überschritten. (…) Die Straftäter müssen schnell und konsequent verfolgt werden.“ In dem bestimmten Artikel „die“ steckte unausgesprochen schon eine Vorverurteilung.

Gute Recherche, falsches Foto

Der Berliner „Tagesspiegel“ gab sich am Donnerstag Mühe, möglichst genau zu rekonstruieren, wie lange der Rüstwagen aufgehalten wurde: Er sei nach 19 Minuten am Unfallort gewesen; bei freier Strecke hätte er 10 bis 12 Minuten gebraucht. Aber „freie Strecke“ ist auch im normalen morgendlichen Berufsverkehr die Ausnahme: „die A100 ist ständig verstopft“.

Die Sorgfältigkeit der Recherche konterkarierte die Zeitung durch ein großes eindrucksvolles Foto, auf dem man sieht, wie Aktivisten einen Rettungswagen blockieren. Es ist allerdings bereits im Januar entstanden, an einem anderen Ort der Autobahn, und es zeigt eine andere Art Fahrzeug und eine andere Art Protest. (Der Autor Julius Betschka sagt, man habe das hinterher intern kritisch diskutiert und werde künftig „bei der Fotoauswahl genauer“ sein.)

Nichts erwiesen, aber alles klar

„Die Empörung sucht sich den Zusammenhang so, wie er ihr passt“, schreibt der „Spiegel“. „Nichts ist erwiesen, aber viele haben ihr Urteil schon gefällt.“ Während auf der einen Seite immer lautere Forderungen nach immer härteren Strafen – bis hin zum Verbot der Gruppe – erhoben wurden und Vergleiche mit der RAF aufkommen, wurde auf der anderen Seite begierig jedes Indiz aufgegriffen und verbreitet, das die Verantwortung der Klima-Aktivisten minimiert: Es herrsche ja ohnehin dauernd Stau auf den Berliner Straßen, und das eigentliche Problem sei, dass Autofahrer keine Rettungsgasse bildeten.

Eine echte Debatte ist unmöglich, weil völlige Uneinigkeit darüber besteht, was das eigentliche Problem ist: Die Störungen der Aktivisten? Der Dauerstau? Die Lebensgefahr für Fahrradfahrer in Berlin? Die Klimakrise?

Formularbeginn

Formularende

Was sind berechtigte Einwände gegen die Instrumentalisierung eines Unfalls, was ist notwendiger Kontext, wann beginnt Whataboutismus? Es mag ja sein, dass falsch parkende Autos viel häufiger ein Problem für Rettungsfahrzeuge darstellen als sich auf Straßen festklebende Klima-Aktivisten, aber der Hinweis darauf ist ein Ablenkungsmanöver: Eine fahrlässig verursachte Störung des Verkehrs ist anders zu bewerten als eine mutwillig verursachte.

Aber wie ist das mit anderen Demonstrationen – zum Beispiel, wenn mehr als 1700 Bauern mit ihren Traktoren hupend durch eine Innenstadt fahren und dabei den Verkehr so lahmlegen, dass die Zahl der Krankentransporte eingeschränkt wird? Ist das auch Terror und hätte entsprechend schärfste Verurteilungen durch Politik und Medien zur Folge haben müssen?

Ich finde das einen berechtigten Vergleich, und er führt zu einer berechtigten Frage: Was macht genau die Klebe-Aktionen der „Letzten Generation“ für viele Politiker und Medien im Vergleich so viel schlimmer? Die Häufigkeit und Konsequenz ihrer Aktionen? Die Gnadenlosigkeit, die auch dazu führt, mit „Shit happens“ auf den Unfall zu reagieren (wie Aktivist Tadzio Müller, der sich wenig später dafür entschuldigte)? Die verstörende Strategie, es in Kauf zu nehmen, wenn nicht sogar darauf anzulegen, die breite Öffentlichkeit gegen sich aufzubringen?

Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit

Und dann ist da noch die Frage vom Anfang: Ist es eine gute Nachricht, wenn es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Aktion der Demonstranten auf der A100 und dem Tod der Radfahrerin gab? Ändert das etwas?

Es wäre eine gute Nachricht, wenn es zu einer Deeskalation beitrüge, zu einer Versachlichung der Debatte. Wenn es dazu führen würde, über die Anliegen und Methoden der „Letzten Generation“ zu diskutieren, über ihre Radikalität und Gefährlichkeit und Notwendigkeit – ohne dass der Vorwurf im Raum steht, dass diese Gruppe das Leben eines Menschen auf dem Gewissen hat.Aber es spricht nichts dafür, dass das passieren wird. Zu groß ist das Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit, auf beiden Seiten: Wenn die Klima-Aktivisten mit dem Tod der Radfahrerin nichts zu tun haben, so die Logik, muss man sich nicht mehr damit auseinandersetzen, dass man sich dieser Tatsache keineswegs sicher sein konnte und das schon morgen anders ausgehen kann.

Und wenn die Klima-Aktivisten skrupellose Terroristen sind, die den Tod von Menschen in Kauf nehmen, so die Logik, muss man sich mit ihnen und ihrem Anliegen nicht mehr beschäftigen. Man muss sie nur noch bekämpfen. „Bild“ hat sogar schon ein Sprachverbot erklärt: Jeder, der sie noch als „Aktivisten“ bezeichne, mache sich zum „heimlichen Verbündeten“ dieser „Täter“.