Zeitenwende wohin? Die moralische Empörungsspirale als Sackgasse

Blätter für deutsche und internationale Politik – Ausgabe Juli 2022

Zeitenwende wohin?

Die moralische Empörungsspirale als Sackgasse

von Hans-Jürgen Urban

Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass sich die Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus in einem tiefgreifenden Umbruch befinden. Die Spezifik der historischen Situation besteht im Aufeinandertreffen säkularer Umbrüche mit einer Serie externer Schocks. Während etwa die Globalisierung, die Digitalisierung sowie der Klimawandel zu den großen Umbrüchen gehören, lassen sich die Covid-19-Pandemie, massive Lieferkettenprobleme sowie der Ukraine-Krieg als unvorhergesehene äußere Schockereignisse fassen. Aus dieser Gleichzeitigkeit gehen Probleme hervor, die an Tiefe und Komplexität ihresgleichen suchen.

Das hat Folgen für die Politik. Strukturell überfordert steht sie vor Problempanoramen, in denen unterschiedliche Logiken wirken, die kaum zu managen sind. Dabei wächst das Risiko in dem Maße, in dem sich die Problemdeutungen von ökonomischen Gewinn- und politischen Machtinteressen entfernen.

Die Folge sind suboptimale Problemlösungen, die den Konflikten befristet ihre Brisanz nehmen, aber oftmals weit entfernt von einer abschließenden Lösung sind. Die so erzwungenen „Muddling-Through“-Politiken erscheinen als Handlungsunfähigkeit und subjektives Versagen der handelnden Akteure und nagen an der Legitimation demokratischer Entscheidungsprozeduren.[1]

Um Ansehensverlust zu vermeiden, bietet es sich an, kommunikativ die Komplexität der Problemlagen zu reduzieren und eine einzelne Ursache als die alles Entscheidende hervorzuheben, die dann mit moralisch unterlegter Entschlossenheit und inszenierter Schlagkraft angepackt werden kann. So entsteht der Eindruck von normativer Verlässlichkeit und politischer Handlungsfähigkeit. Das schafft Vertrauen und dient dem Image als zupackendem Entscheider, was sich letztlich an der Wahlurne auszahlt. Die durch die Digitalisierung beschleunigten Medien, denen komplexe Problemanalysen ohnehin ein Graus sind, assistieren dabei gerne.

Mehr Zeit in Anspruch nehmende Versuche der Politik, durch sachgerechte Analysen zu sachgerechten Politiken vorzustoßen, werden als Unentschlossenheit, Führungsschwäche und mangelnde Tatkraft abgewertet. Auch das hat Konsequenzen bei der jeweiligen nächsten Wahl.

Der Ukraine-Krieg als Exempel

Die Positionierung der deutschen Politik gegenüber dem Ukraine-Krieg kann als Beispiel einer solchen Konstellation herangezogen werden.

Der ganze Beitrag, hier als pdf (Fettschreibung; Gelbfärbung H.D.): Hans_Jürgen Urban Zeitenwende wohin Blätter 07_2022 (002)

Sozial-ökologische Transformation: „Das Thema ist an Dringlichkeit kaum zu überbieten“

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung  https://www.boeckler.de/de/interviews-17944-sozial-oekologische-transformation-das-thema-ist-an-dringlichkeit-kaum-zu-ueberbieten-41407.htm

Sozial-ökologische Transformation: „DAS THEMA IST AN DRINGLICHKEIT KAUM ZU ÜBERBIETEN“

20.05.2022

Christina Schildmann erläutert, wieso Transformation einer „Arena“ gleicht, in der verhandelt wird, wie Menschen in Zukunft arbeiten und leben werden und welche Rolle der Forschungsverbund „Sozial-ökologische Transformation“ hierbei spielen soll.

Transformation: Großes Wort – mit vielen Bedeutungen in unterschiedlichen Zusammenhängen. Welche Transformation spielt für die Hans-Böckler-Stiftung und ihre Forschungsförderung eine Rolle? Und wieso?

Aus unserer Sicht geht es nicht um unterschiedliche Transformationen, die zufällig zur gleichen Zeit ablaufen, sondern um eine umfassende Transformation unserer Wirtschaft und damit der Arbeitswelt und der Gesellschaft insgesamt. Die Transformation findet gleichzeitig lokal und global statt, sie geht quer durch alle Branchen. Sie ist getrieben von Digitalisierung und der Notwendigkeit, den Klimawandel zu stoppen. Aus unserer Sicht muss diese Transformation sozial sein, damit der gesellschaftliche Zusammenhalt erhalten bleibt – denn Umbrüche dieser Dimension setzen, wenn es nicht gelingt, sie gerecht zu gestalten, die Fliehkräfte von Gesellschaften in Bewegung. Uns geht es darum, dass die Transformation für alle Arbeitnehmer*innen gut ausgeht.

Die Hans-Böckler-Stiftung befasst sich in all ihren Instituten und Abteilungen mit der Transformation – aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Transformation ist aus unserer Sicht die „Arena“, in der aktuell verhandelt wird, wie Menschen in Zukunft arbeiten und leben werden. Darum betrachten wir es als einen zentralen Auftrag für uns, Gestaltungswissen für die Transformation zur Verfügung zu stellen.

Der Forschungsverbund „Sozial-ökologische Transformation“, der diese Woche startet, wird einen großen Beitrag dazu leisten.

INFORMATIONEN ZUR PERSON

Christina Schildmann ist seit März 2022 Leiterin der Abteilung Forschungsförderung. Von 2015-2018 leitete sie bereits die Kommission „Arbeit der Zukunft“.

Kannst du erläutern, was die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung genau macht und was man unter einem Forschungsverbund versteht?

In der Hans-Böckler-Stiftung wird zum einen selbst geforscht – das machen die Institute (IMK, WSI, HSI, I.M.U.). Zum anderen finanzieren wir spannende Forschungsprojekte von Wissenschaftler*innen an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen – dafür sind wir als Forschungsförderung zuständig. Wir betreuen die Bewerbungsverfahren, begleiten und beraten die Forschenden und bereiten die Erkenntnisse aus den Forschungsprojekten für die interessierte Öffentlichkeit, für die politische Debatte und die Akteur*innen der Mitbestimmung auf.

Wir fördern nicht jede beliebige Forschung, sagen wir mal, zur Quantenphysik, sondern insbesondere Projekte, die sich mit den Veränderungen der Arbeitswelt und den Möglichkeiten befassen, dieses zu gestalten. Wenn uns ein Thema besonders wichtig und zukunftsträchtig erscheint, schreiben wir einen sogenannten Ideenwettbewerb aus, um zu diesem Thema gleich mehrere, möglichst innovative Projekte „anzuwerben“, die sich gut ergänzen und dafür eignen, ein Cluster zu bilden. Das heißt: ein wissenschaftliches Ökosystem, in dem sich die Forschenden gegenseitig inspirieren und in engem Austausch mit der Praxis forschen. Diese Cluster nennen wir Forschungsverbünde.

Bei uns laufen inzwischen mehrere Forschungsverbünde. Darunter der Forschungsverbund „Ökonomie der Zukunft“, der sich damit beschäftigt, wie sich globale Lieferketten verändern und wie sich soziale Standards in diesen Lieferketten durchsetzen lassen. Dieser Forschungsverbund ist fast am Ende seiner Laufzeit – hier liegen schon zahlreiche Befunde vor, die wir nun Stück für Stück veröffentlichen.
Nachdem zur digitalen Transformation 2021 ein Forschungsverbund gestartet wurde, in dessen Rahmen Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Forschungsprojekten arbeiten, legt nun auch der Forschungsverbund sozial-ökologische Transformation los. Kannst du uns etwas zu den beiden Forschungsverbünden erzählen?

In unserem Forschungsverbund „Digitale Transformation“ wird erforscht, wie digitale Technologien die Wirtschaft und die Arbeitswelt verändern. Hier wird zum Beispiel analysiert, wie Plattformen zur Vermittlung von Reinigungskräften arbeiten und wie sich das auf die Arbeitsbedingungen der Reinigungskräfte auswirkt. Oder wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz die Arbeit in Krankenhäusern, bei Paketdiensten oder in Büros verändert. Oder wie auf Basis der Blockchain-Technologie Unternehmen zusammenarbeiten, die eigentlich im Wettbewerb miteinander stehen. Oder wie sich „Technostress“ am Arbeitsplatz mindern oder die junge „digitale Bohème“ in Unternehmen für die betriebliche Mitbestimmung begeistern lässt.

Nun starten wir zusätzlich den Forschungsverbund „Sozial-ökologische Transformation – diese Woche treffen die Wissenschaftler*innen zum ersten Mal aufeinander, um sich ihre Projekte vorzustellen und sich zu vernetzen. Wir sind sehr froh, dass es losgeht, denn das Thema ist an Dringlichkeit kaum zu überbieten. Der Umbau der Wirtschaft, der nötig ist, um die Klimaziele zu erreichen, kann nur gelingen, wenn er demokratisch, fair und sozial nachhaltig gestaltet wird. Das ist unsere Ausgangsperspektive. Die Akteur*innen der Transformation brauchen fundiertes, belastbares Wissen, um Veränderungen, Einflüsse, Zusammenhänge und Folgewirkungen zu verstehen und die Veränderungen mitgestalten zu können.

Wir gehen zunächst mit neun Projekten an den Start. Dazu gehört ein Projekt, das erforscht, wie Wasserstoff in der Stahlindustrie eingesetzt werden kann, welche Weichenstellung dafür nötig sind und welche Qualifikationsanforderungen das für die Arbeitnehmer*innen mit sich bringt. Ein anderes Projekt schaut sich an, wie Kommunen und Unternehmen der Daseinsvorsorge zu Schlüsselakteuren der Klimawende werden und welche Rolle die Beschäftigten und Betriebsräte dabei spielen. Ein drittes Projekt beforscht die verteilungspolitischen Auswirkungen unterschiedlicher Technologien und klimapolitischer Ansätze. Also: Wir machen uns auf den Weg. Und wir stehen allen, die neugierig geworden sind, gerne für Fragen zur Verfügung.

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