Kirchheimer Erklärung für eine gerechte, solidarische und vielfältige Gesellschaft

Kirchheimer Erklärung für eine gerechte, solidarische und vielfältige Gesellschaft

Kirchheim. „Für eine gerechte, solidarische und vielfältige Gesellschaft – gegen Ausgrenzung, Demokratieverachtung, Hass, Hetze und Rassismus“ – diesem Ziel widmete sich eine Aktion am vergangenen Samstag vor dem Kirchheimer Kornhaus. Mehr als 25 junge und ältere Aktive aus der Kirchheimer Zivilgesellschaft führten über 300 Gespräche mit den Passant*innen und sammelten dabei 190 Unterschriften für die gleichnamige „Kirchheimer Erklärung“.

Initiiert wurde die „Kirchheimer Erklärung“ Ende Februar 2020 von fünf zivilgesellschaftlich Engagierten: Heinrich Brinker, Hans Dörr, Yakub Kambir, Willi Kamphausen und Martin Lempp. Anlass war die Festnahme des Kirchheimers Michael B. als Mitglied einer rechtsterroristischen Vereinigung am 14. Februar und die rechtsradikal und rassistisch motivierte Ermordung von neun Menschen in Hanau sechs Tage später.

Für Yakub Kambir, Vorstandsmitglied der Sultan Ahmet Moschee stehen die Morde von Hanau in einer verhängnisvollen Kontinuität muslimfeindlicher und rassistischer Gewalt. Im Gespräch mit Passanten führte er aus: „. Die Festnahme von Michael B. hat uns Musliminnen und Muslime hier in Kirchheim noch einmal in besonderer Weise erschüttert. Die Gruppe um ihn wollte Politiker, Asylsuchende und auch Muslime ermorden. Rechte Gewalt ist für uns als Muslime dadurch noch greifbarer und bedrohlicher geworden.“

Willi Kamphausen, in vielen Bereichen aktiv in der Kirchheimer Zivilgesellschaft, machte in seinen Gesprächen den Kontext rechter Gewalt deutlich: „Seit 1990 beklagen wir in Deutschland über 208 Todesopfer durch rechte Gewalt. Rechter Terror wie in Kassel, Halle, Hanau und anderswo entsteht in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Alltagsrassismus salonfähig wird. Durch das Angebot einer „Alternative für Deutschland“ entfaltet der Alltagsrassismus politische Wirksamkeit. Dadurch und durch den permanenten Aufenthalt in rechtsextremen „Echokammern“ fühlen sich gewaltbereite Rechtsradikale ermutigt, ihre Gewaltphantasien in die Tat umzusetzen.“

Hans Dörr und Heinrich Brinker, Sprecher des Kirchheimer Forums 2030 betonten die Verantwortung der Zivilgesellschaft in Kirchheim und anderswo: „Wir alle sind verantwortlich dafür, wie und wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Deshalb werden wir der Gefährdung unserer Demokratie und des gesellschaftlichen Friedens durch rassistisches, rechtspopulistisches und rechtsextremes Denken und Handeln tatkräftig entgegentreten.“

Martin Lempp erklärte am Unterschriftenstand, was mit der „Kirchheimer Erklärung“ in den nächsten Monaten beabsichtigt ist: „Nach dem heutigen guten Start werden wir bei Veranstaltungen und bei allen sich bietenden Gelegenheiten bis zu den Internationalen Wochen gegen Rassismus im März 2021 weiter möglichst viele Unterschriften für die Erklärung sammeln – auch im Internet über die Petitionsplattform openPetition. Im März 2021 werden wir dann Zwischenbilanz ziehen und das Ergebnis bekanntmachen.

Kirchheimer Erkärung Stand September 2020 Flyer Vorder_und Rückseite Kirchheimer Erkärung mit Unterschriftenliste Stand September 2020

Kirchheimer Erkärung mit Unterschriftenliste Stand September 2020

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Antikriegstag 2020 – Nie wieder Krieg! In die Zukunft investieren statt aufrüsten

Am Dienstag, 1. September 2020 erinnerten im Forum 2030 vernetzte Initiativen, Gruppierungen und Parteien beim „Mahnmal für die zivilen Opfer des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges“ auf dem Alten Friedhof in Kirchheim an das unermessliche Leid, das der Zweite Weltkrieg über die Menschheit brachte. In kurzen Statements und Gedichten anlässlich des Antikriegstags 2020 unter dem Motto „Nie wieder Krieg! In die Zukunft investieren statt aufrüsten!“ machten mehrere Redner auf drängende Herausforderungen der Gegenwart aufmerksam: die Steigerung der Rüstungsausgaben, die Modernisierung der Atomwaffen und die Zunahme der Rüstungsexporte.

Hans Dörr, Forum 2030

Liebe Engagierte in Sachen Frieden,

Nie wieder Krieg! In die Zukunft investieren statt aufrüsten! So lautet das Motto der Gewerkschaften und der Friedensbewegung für den Antikriegstag 2020.

Mit seinem Überfall auf Polen am 1. September 1939 hat  Nazi-Deutschland die Welt in den Abgrund eines Krieges gestürzt, der unfassbares Leid über die Menschheit gebracht und 60 Millionen Tote gefordert hat.

75 Jahre nach Kriegsende liegt es an uns, an den unermesslichen Schrecken von Krieg und Verfolgung – auch hier in Kirchheim – zu erinnern  und auch der Millionen von Holocaust-Opfern zu gedenken, die von den Nazis ermordet wurden. Deutschland trägt angesichts dieser Menschheitsverbrechen eine besondere Verantwortung für den Frieden. Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! So lautet die Lehre, die Gewerkschaften und Friedensbewegung aus der Geschichte gezogen haben. Für dieses Ziel müssen wir uns heute wieder mit all unserer Kraft stark machen.

Wir erleben derzeit international den Abgesang auf eine Politik der Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit. Die Hoffnung auf eine neue multilaterale, friedliche Weltordnung droht zu zerbrechen.  

Wir erleben eine Welt, die immer stärker aus den Fugen gerät. Nationalismus und Militarismus greifen wieder um sich und setzen eine neue Spirale der Aufrüstung in Gang.

75 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki erreicht der nukleare Rüstungswettlauf ungeahnte Ausmaße. Die neun Atommächte stecken Unsummen in die Modernisierung ihrer Nukleararsenale. Anfang des nächsten Jahres könnte mit dem russisch-amerikanischen „New Start“-Vertrag das letzte verbliebene Rüstungskontrollregime für Atomwaffen auslaufen.

Die Corona-Krise legt schonungslos offen, wie gravierend die Fehlverteilung der öffentlichen Mittel ist. Im Bundeshaushalt 2020 waren ursprünglich 12 Prozent der Ausgaben für den Verteidigungsetat vorgesehen, während nur ein Drittel davon in das Gesundheitssystem fließen sollte.

Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzureißen! Die Pandemie, der Klimawandel, die Digitalisierung – all diese gewaltigen Herausforderungen bedrohen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und vergrößern die soziale Ungleichheit.

Wir müssen gegensteuern! Dafür sind neben einem starken und solide finanzierten Sozialstaat immense öffentliche Investitionen nötig – in Gesundheit und Pflege, in unser Bildungssystem, in eine sozial-ökologische Gestaltung der Energie- und Verkehrswende, in die kommunale und digitale Infrastruktur und in den sozialen Wohnungsbau. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich endgültig von der Zwei-Prozent-Vorgabe der NATO zu lösen und die für Rüstungsausgaben vorgesehenen Mittel in ein sozial gerechtes Deutschland und Europa mit nachhaltigen Zukunftsperspektiven zu investieren.

Vielen Dank für euer Engangement in Sachen Frieden.

Martin Lempp trug zwei Gedichte vor: „Bitten der Kinder“ (Berthold Brecht) und „Wettrüsten“ (Bertha von Suttner)

Bitten der KinderBertolt Brecht (1898-1956)

Die Häuser sollen nicht brennen.
Bomber sollt man nicht kennen.
Die Nacht soll für den Schlaf sein.
Leben soll keine Straf sein.
Die Mütter sollen nicht weinen.
Keiner soll müssen töten einen.
Alle sollen was bauen.
Da kann man allen trauen.
Die Jungen sollen‘ s erreichen.
Die Alten desgleichen.

Wettrüsten –Bertha von Suttner (1843-1914)

Meine Rüstung ist die defensive,
Deine Rüstung ist die offensive,
Ich muss rüsten, weil du rüstest,
Weil du rüstest, rüste ich,
Also rüsten wir,
Rüsten wir nur immer zu.

(aus: Die Waffen nieder! Seite 192)

Außerdem berichtet er von einem Gespräch, das er mit seiner 95-jährigen Mutter vor einigen Tagen führt:

„Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Mutter über den 1. September 1939 gesprochen und sie gefragt, wie es für sie damals war. Sie sagte mir Folgendes: „Ich war am Kriegsbeginn 14 Jahre alt. Und ich weiß noch ganz genau, dass ich damals in einer Art freudigen Erregung war.“Jetzt können wir es den Polen heimzahlen“ sagte ich zu meinem Vater.Ich werde das Gesicht meines Vaters nie mehr vergessen, als er mir mit tieftraurigen Ton antwortete: „Oh Mädchen. Was weißt Du denn was Krieg ist!“  Später wusste ich es. Zwei meiner Brüder sind umgekommen, mein damaliger Verlobter und alle seine drei Brüder und sein Vater haben den Krieg nicht überlebt. Auch zwei Brüder meines Mannes starben jämmerlich.Jetzt bin ich 95 Jahre alt und bin froh, dass wir hier so lange im Frieden leben konnten und ich bin entsetzt über die Waffenlieferungen der Deutschen und dass wir wieder in neue Kriege verwickelt sind.“

Ansprache von Karl-Heinz Wiest, Pax Christi Kirchheim.

Liebe Freundinnen und Freunde,

heute finden aus Anlass des Antikriegstages wie hier in Kirchheim in vielen Städten kleinere oder größere Kundgebungen und Veranstaltungen statt. Und es ist dringend geboten, dass auch wir uns wieder vernehmbar auf den Straßen und Plätzen dieser Republik zeigen – in einer Zeit, wo Nazis zum Sturm auf Berlin aufrufen und sich vor dem Reichstag mit Reichskriegsflagge und der Flagge des Kaiserreichs aufbauen. Sie zeigen damit unverhohlen, wer sie sind: Die geistigen und politischen Nachfolger derjenigen, die dieses Land in zwei Weltkriege gestürzt haben! Denen können wir nicht den öffentlichen Raum überlassen!

Vor fast vier Wochen haben wir in Kirchheim im Garten des Vogthauses an die Opfer der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren erinnert.  Während die Überlebenden und Zeitzeugen, die noch vor den katastrophalen Folgen warnen konnten, immer weniger geworden sind, sind die Gefahren aus der atomaren Bewaffnung gestiegen. Denn die Zerstörungskraft moderner Atomwaffen ist um ein Vielfaches größer als 1945. Gut 13 000 nukleare Sprengköpfe gibt es heute nach der aktuellen Zählung von SIPRI. 90 % davon stehen unter Kontrolle der Regierungen Russlands und der USA, und diese haben in den letzten Jahren nichts Ernsthaftes mehr unternommen, um in Verhandlungen die Anzahl der Atomwaffen zu reduzieren.

Im Gegenteil: Mittlerweile steht auch die Verlängerung des New Start-Vertrages 2021 auf dem Spiel, der mit seinen Vorläufern zur Verringerung der Atomwaffenarsenale seit den 1990er-Jahren beigetragen hat. Heute erleben wir, wie die Atommächte ihre Bestände modernisieren und diesen in ihren Militärstrategien wieder wachsende Bedeutung zumessen. Eine neue Runde atomarer Aufrüstung hat bereits begonnen! Die Bundesrepublik Deutschland sollte in dieser Situation dringend den UN-Atomwaffensperrvertrag von 2017 unterzeichnen und ratifizieren –  10 Staaten, die ihn ratifizieren, fehlen noch, um ihn in endlich völkerrechtlich in Kraft zu setzen. Gleichzeitig fordern wir die Bundesregierung auf: Schaffen Sie keine neuen Trägerflugzeuge für die in Büchel gelagerten US-Atombomben an! Setzen Sie sich für den Abzug dieser Atombomben ein! Das hat der Deutsche Bundestag schon 2010 gefordert, und seither ist nichts passiert.

Und auch an einer anderen Stelle muss dringend etwas passieren: Folgen wir dem aktuellen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung, so wurden im Jahr 2019 Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von ca. 8,5 Mrd. € erteilt. Die Bundesrepublik Deutschland steht damit in der Rangliste der Rüstungsexporteure auf Platz 4. Nach wie vor stehen Empfänger-länder wie zum Beispiel Ägypten und die arabischen Emirate auf der Liste, die im eigenen Land Menschenrechte missachten und sich gleichzeitig in die Bürgerkriege in Libyen und im Jemen einmischen. Das ist kein Beitrag zu Frieden und Entwicklung, sondern ein Skandal! Rechtlich unverbindliche Exportrichtlinien und ein nicht transparentes Entscheidungsverfahren tragen zu diesem Skandal bei. Wir brauchen deshalb endlich ein Rüstungsexportkontrollgesetz, das die Ausfuhr von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete und in Staaten, welche die Menschenrechte missachten, verhindert und damit dem Friedensauftrag unseres Grundgesetzes gerecht wird.

Die internationale katholische Friedensbewegung Pax Christi, für die ich hier spreche, und zahlreiche andere Organisationen aus der Friedensbewegung setzen sich gemeinsam in der Aktion Aufschrei/Stoppt den Waffenhandel für dieses Ziel ein. Unterstützen Sie uns dabei!

Heinz Pötzl, attac Regionalgruppe Kirchheim u. Teck trug einen Text von Berthold Brecht aus dem Jahr 1952 vor.

Das Gedächtnis der Menschheit – Bert Brecht

Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete
Leiden ist erstaunlich kurz.
Ihre Vorstellungsgabe für kommende
Leiden ist fast noch geringer.
Die Beschreibungen, die der New Yorker
von den Gräueln der Atombombe erhielt,
schreckten ihn anscheinend nur wenig.
Der Hamburger ist noch umringt von den Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben.
Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht nass sagen viele.
Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.
Und doch wird nichts mich davon überzeugen,
dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen.
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde!
Lasst uns die Warnungen erneuern,
und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!
Denn der Menschheit drohen Kriege,
gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.

Ansprache Heinrich Brinker, Forum 2030

Wir stehen hier vor dem Denkmal der zivilen Opfer von Krieg und Faschismus von 1933 bis 1945.

Das Denkmal zeigt eine lange ignorierte Seite von Kriegen. Während auf den meisten Friedhöfen Deutschlands nur der Soldaten gedacht wird, werden hier die zivilen Opfer des Kriegen und des Faschismus gedacht. Die Zitate auf der Skulptur gedenken der Juden, Euthanasieopfer, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle, Kinder, Frauen, Männer, Mütter und Väter.

Dieses Denkmal soll die Lebenden mit den Toten und die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Die Opfer mahnen uns, die Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen.

Die Lehre aus den beiden Weltkriegen ist: „Nie wieder Krieg“. In vielen Teilen der Welt herrscht heute Krieg. Deutschland ist mit seinen Waffenexporte und Bundeswehreinsätzen ein Teil der weltweiten Aufrüstung geworden. Mit 2 Billionen Dollar haben die Militärausgaben nie gekannte Höhen erreicht. Deutschland ist in den letzten Jahren sogar Treiber der Aufrüstung geworden und setzt alles daran, 2% des Bruttosozialprodukts für die Aufrüstung zur Verfügung zu stellen. Während für Bildung, Soziales, Renten, Gesundheit und Umweltschutz nur unzureichende Mittel zur Verfügung stehen, soll künftig der Rüstungsetat um weitere 30 Mrd. Euro auf ca. 80 Mrd. Euro erhöht werden. Letztes Jahr waren es bereits 49 Mrd.

Die Militarisierung der EU zeigt, dass sie heute alles andere ist als ein Friedensprojekt. Das zeigt sich nicht nur an der militärischen Hardware. Es werden klassische Instrumente nationalistischer Ideologie eingesetzt. Zum Beispiel: Feindbildpropaganda. Seit Jahren und lange vor der Ukraine-Krise gegen Russland, jetzt auch mit wachsender Intensität gegen China. Dabei sind Demokratie und Menschenrechte nur vorgeschoben, denn bei Saudi-Arabien, Ägypten u.ä. ist das nicht nur kein Thema, sondern Rüstungsexporte und Wirtschaftsbeziehungen mit solchen Regimen blühen ungestört. Das Regelwerk des Völkerrechts wird dabei oft ignoriert.

Gleichzeitig erleben wir globale Herausforderungen, die nur gemeinsam bewältigt werden können. Der Klimawandel und die Corona Pandemie zeigen: ungeheure Mittel sind notwendig, um diese und viele weitere Problem zu lösen: Bevölkerungswachstum, Ernährungskrise, Artensterben. Wie sollen diese Aufgaben bewältigt werden, wenn die verfügbaren Mittel mit Waffen verschwendet werden.

Eckpunkte einer hilfreichen und dringend nötigen Strategie wären eine neue Politik der Koexistenz, Respekt für die verbindlichen Normen des Völkerrechts, Initiativen zur Vertrauensbildung und Entspannung mit China und Russland, Abrüstungsinitiativen, Auflösung der Militärbündnisse, Stärkung der UNO und regionaler Institutionen, sowie die Umlenkung von Ressourcen zur Finanzierung globaler Pojekte.

Was können und sollten wir hier in Kirchheim tun?

  • Wir können aufklären und informieren – und dafür Formen der Information finden, die die Menschen bei uns erreichen.
  • Wir können Veranstaltungen, Aktionen und Infostände organisieren.
  • Wir können Aktionsangebote machen, die es Menschen möglich machen, sich zu engagieren.
  • Wir können aufmerksam machen, was in unserer Stadt passiert.
  • Wir können uns vernetzen und Foren bilden.
  • Und wir können zeigen, dass wir in unserer Stadt Viele sind.

Wie eingangs schon gesagt: Dieses Denkmal soll die Vergangenheit mit der Gegenwart und die Lebenden mit den Toten verbinden. Es mahnt uns, jetzt gemeinsam für Frieden und Demokratie aktiv zu werden. Als Zeichen der Hoffnung und als Zeichen dafür, dass wir diese Verbindung und diese Mahnung sehr ernst nehmen und für wichtig halten, hinterlassen wir heute diese Blumen. 

 

 

Streit um Debattenkultur: Haltet doch mal eine andere Meinung aus!

Quelle: Berliner Zeitung

13.7.2020 – 22:20, Tomasz Kurianowicz

Streit um Debattenkultur: Haltet doch mal eine andere Meinung aus!

Songs, Filme, Meinungen werden immer häufiger aus dem Diskurs verbannt. Das ist oft richtig. Doch die „Cancel Culture“ hat eine gefährliche Kehrseite.

Berlin Um 1800 wäre es im Hause des Dichters Heinrich von Kleist fast zu einem Akt der „Cancel Culture“ gekommen. So nennt sich der jüngste Trend, unliebsame Meinungen oder künstlerische sowie publizistische Inhalte, die nicht den Regeln der politischen Korrektheit entsprechen, zu zensieren, abzubestellen, zu löschen, aus dem Diskurs zu verbannen, sie zu „canceln“. Kleist wäre diesem Impuls fast erlegen, nachdem er Immanuel Kants bahnbrechende Studie „Die Kritik der Urteilskraft“ gelesen hatte.
Die Reaktion des Dichters ist historisch nicht verbrieft. Man muss sie als Anekdote verstehen, und doch hätte sie so passiert sein können. Heinrich von Kleist soll nämlich der Legende nach von Kants Standardwerk so schockiert gewesen sein, dass er regelrecht in eine Kant-Krise verfiel. Die Studie erschien in einer Zeit, in der immer noch die christliche Theologie die Deutungshoheit hatte. Damit wollte Immanuel Kant aufräumen. Er hat den Verstandesraum neu vermessen und gezeigt, was der Mensch wissen (wenig) und was er nur glauben kann (viel). Der Text gilt als Verabschiedung des christlichen Allwissenheitsanspruchs. So wie für Kleist war die Studie für die westliche Zivilisation um 1800 ein Epochenbruch. Der Legende nach soll Kleist die „Kritik der Urteilskraft“ nach der Lektüre wütend zugeklappt und gegen die Wand geschmissen haben.

Die Flexibilität der Ideen steht auf dem Spiel

Kleist hätte die Studie am liebsten ignoriert, sie aus seinem Bewusstsein verbannt, sie „gecancelt“. Aber das ging nicht. Der Text bohrte sich in Kleists Bewusstsein. Und dann passierte etwas Magisches: Nach längerer Reifezeit gab der Dichter seiner Schockerfahrung ein künstlerisches Ventil. Sein ganzes Werk sollte von nun an um die Frage kreisen, was der Mensch wissen und wie er noch glauben kann, ohne an seinen Verstandesgrenzen zu verzweifeln. Ein Beweis dieser Auseinandersetzung ist ein Brief, den Kleist 1801 an seine Freundin Wilhelmine von Zenge verfasste: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“

Wäre Kleist heute am Leben, hätte er den Schock nicht in Prosa- und Dramentexten verarbeitet, sondern in blanken Wutkaskaden. Im schlimmsten Fall hätte er einen verkürzenden, zugespitzten Tweet über den Inhalt von Kants Studie gelesen („Gott ist tot“) und eine erboste Nachricht in die Tastatur getippt („Hab noch nie so einen Mist gelesen!“). Und genau diese Reaktionsspiralen sind heute in Diskussionen oft zu beobachten. Verkürzte Aufmerksamkeitsspannen fördern die Ignoranz gegenüber fremden, sperrigen, unliebsamen Gedanken, weil man sie impulsiv für falsch, böse, politisch inkorrekt, dem eigenen ideologischen Projekt für unzuträglich hält. Statt sich an fremden Ideen zu reiben, sie zu verstehen und zu durchdringen, sich an ihnen zu messen, sie mit guten Argumenten zum Stillstand zu bringen, reagieren wir reflexhaft mit Aggressivität und Intoleranz. Sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Beide Seiten wollen sich nicht mehr austauschen, sondern krallen sich an der eigenen Meinung wie an orthodoxen Glaubenssätzen fest. Die Flexibilität der Ideen, die jede freie Gesellschaft im Wesenskern ausmacht, steht auf dem Spiel.

Es kommt zu Shit-Stürmen

Diese Tendenz macht auch zeitgenössischen Denkern zu schaffen. Vergangene Woche haben 153 Intellektuelle aus aller Welt einen offenen Brief verfasst, in dem sie kritisieren, dass die moralischen Standards der politischen Korrektheit das Recht auf freie Meinungsäußerung bedrohen. In dem Schreiben, das unter anderem im Haper’s Magazine in den USA erschienen ist, heißt es: „Heftige Proteste gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit haben zu Forderungen nach einer Polizeireform und nach mehr gesellschaftlicher Gleichberechtigung geführt – an Hochschulen, im Journalismus, in den Künsten. Diese notwendige und überfällige Abrechnung stärkt aber auch moralische Einstellungen und politische Bekenntnisse, die jede offene Debatte und das Aushalten von Differenzen zugunsten einer ideologischen Konformität schwächen.“

Die Sorge ist, dass nuancierte Beobachter, trotz ihrer Solidarität für Schwache und Diskriminierte, sich der Sabotage und Verteidigung weißer Privilegien verdächtig machen, wenn sie ein komplexes Bild der Realität zeichnen, das in die neuen moralischen Standards der Identitäts- und Gerechtigkeitspolitik nicht passt. Da komplexe Gedanken den Aufmerksamkeitsspannen in den sozialen Medien zuwiderlaufen, entstehen Empörungswellen ohne Quellenbezug, die zu ungerechtfertigten Shit-Stürmen führen. Auch über den offenen Brief der 153 Intellektuellen wird jetzt hitzig debattiert.

Sind Goethe und Schiller toxisch-männlich?

Nuancierte Betrachter überlegen sich also im Vorfeld, ob sie sich zu besonders aufgeladenen Themen wie Polizeigewalt, Sexismus, Minderheitenrechte publizistisch äußern wollen, wenn eine aggressive Netzgemeinde förmlich darauf wartet, moralische Grauzonen aufzuspüren und unliebsame Denker abzustrafen – vielleicht weil sie sich wegen ihrer Identität („alter weißer Mann“) gar nicht hätten äußern dürfen. Auf der anderen Seite warten rechte Trolle darauf, Gerechtigkeitskämpfer mit Hassbotschaften einzuschüchtern und mundtot zu machen. Beide Strategien mögen ein Weg sein, sich eine hörbare Stimme zu verschaffen. Nur muss sich jeder bewusst sein, dass Zensur-Mechanismen eine Lagerbildung befördern, die jede Kompromiss- und Konsenssuche unmöglich machen.

Der Begriff der „Cancel Culture“ führt moderne westliche Gesellschaften in einen Widerspruch. Das muss auch die politische Linke erkennen. Niemand würde behaupten, dass es moralisch zweifelhaft wäre, Hitler-Statuen zu stürzen, Hakenkreuze zu verbieten oder Hassrede und Verleumdung unter Strafe zu stellen. Doch wo ist die Grenze? Gehören Goethe und Schiller noch gelesen? Oder sind die beiden Schriftsteller Teil einer toxischen Männlichkeit, die in den historischen Giftschrank gehört? Die Meinungsfreiheit braucht zweifellos Grenzen. Manchmal lassen sich diese Grenzen leicht ziehen. In anderen Fällen müssen sie Gegenstand einer intensiven Diskussion sein, die sich jede freie Gesellschaft im ständigen Ringen und Abwägen selbst auferlegen muss.

Den Kanon ausgewogen lesen und kritisieren

Im Kern hat die „Cancel Culture“ ihre volle Berechtigung, vor allem wenn sie Inhalte zensiert, die eindeutig die Menschenwürde verletzen oder rassistische und sexistische Rede propagieren. Darüber muss man als Demokrat nicht lange streiten. Ähnlich notwendig ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kanon. Viel zu lange hat die westliche Elite die moralischen Verfehlungen ihrer Vorfahren toleriert und kulturell vererbte Klischees blind verteidigt. Viel zu lange sind die Auswirkungen verbaler Gewalt im öffentlichen Raum ignoriert worden. Viel zu lange sind Intellektuelle und westliche Philosophen, Künstler, Entertainer, Politiker von den Institutionen verklärt und glorifiziert worden.

In den USA hat jüngst ein Nachfahre von Thomas Jefferson gefordert, die Statue seines Ahnen zu Fall zu bringen, weil dieser zwar „die Gleichheit aller Menschen“ in seinen Schriften verteidigte, aber privat ein Sklavenhalter war. Es tut gut, dass mit kanonischen Werken, historischen Figuren und den überhöhten Idealismen der Geschichte so selbstkritisch abgerechnet wird. Auch die jüngst in Deutschland geführte Diskussion um rassistische Tendenzen bei Immanuel Kant, die zweifellos existieren, ist notwendig und richtig. Man kann das große, philosophische Werk Kants würdigen, ohne gleichsam seine anthropologischen Ansichten zu verteidigen. Auch kann man Kleists Sprache feiern, ohne sein Frauenbild anzunehmen. All diese Balanceakte sind möglich, wenn wir uns Zeit nehmen, den Kanon ausgewogen zu lesen und ihn dort zu kritisieren, wo er moralische Standards verletzt.

Das biblische Rechtsverständnis

Kritische Auseinandersetzung darf aber nicht dazu führen, dass sich Andersdenkende im öffentlichen Diskursraum bedroht fühlen, nur weil sie zu anderen Urteilen kommen als die moralische Masse. Das eine ist, jemanden darauf hinzuweisen, dass er sich – vielleicht unwissentlich – einer rassistischen Tradition bedient. Das andere ist, eine unliebsame Stimme mit Schikanen und Zensur-Forderungen zum Schweigen zu bringen. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Wahr nämlich ist auch, dass jede „Cancel Culture“ eine gefährliche Kehrseite hat. Der Rassismus-Vorwurf darf nicht die Ausrede sein, die Mühen hermeneutischer Arbeit zu vermeiden. Die „Cancel Culture“ kann schlimme Schäden anrichten, wenn sie ihre utopischen Energien – wie zu Zeiten der französischen Revolution – in dystopische Nebenkämpfe verwandelt und im Eifer des Gefechts hohe Kollateralschäden erzeugt. Getreu dem Motto: Wenn Minderheiten jahrhundertelang diskriminiert wurden, haben sie jetzt das moralische Recht, mit gleicher Härte zurückzuschlagen. (Rein formal ist das übrigens eine legitime Forderung, über die sich diskutieren ließe. Doch dann würde das biblische Rechtsverständnis zurückkehren.)

Ein Kulturkampf zwischen Jung und Alt

Die taz-Satire von Hengameh Yaghoobifarah über die Polizei und ihre Beziehung zum Müll ist ein treffendes Beispiel für die verhärteten Fronten. Keine Seite des politischen Spektrums hat sich hier vorbildlich verhalten. Innenminister Horst Seehofer wollte Strafanzeige stellen und die Autorin schlichtweg „canceln“. Die freien Mitarbeiter der taz wiederum, die sich hinter Yaghoobifarah stellten, wollten ihre Chefredakteurin „canceln“, weil sie sich nicht solidarisch zeigte und in einem Leitartikel den Satire-Text angriff. Auch hier schaukelten sich die Empörungswellen gegenseitig hoch. Gezeigt hat der Konflikt vor allem, dass eine wachsende Zahl an jungen taz-Autor*Innen eine andere Debattenkultur will als ihre Vorgänger. Die jungen Journalisten sehen sich als Verfechter eines Kulturkampfs, der die „Cancel Culture“ und radikale Formen der Identitätspolitik im Gerechtigkeitsstreben unterstützt, während die älteren Journalisten einen Dialog nach liberalen Standards wollen (des „white privilege“?), in dem auch die Rechte von Polizisten ihren Platz haben.

Interessanterweise deutet sich der Konflikt zwischen Jung und Alt auch in anderen Redaktionen an. Eine Mitarbeiterin der Meinungsseite der New York Times, Bari Weiss, ist ebenfalls eine Unterzeichnerin des offenen Briefes der 153 Intellektuellen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen. Bei Twitter hat sie eine Erklärung abgegeben, warum sie unterzeichnet hat. Sie schreibt, dass in der New York Times ein Bürgerkrieg herrsche, der zwischen den Jungen und den Alten ausgetragen wird. Die Alten hätten die Jungen angestellt in der Annahme, sie würden für liberale Werte stehen. Doch das sei nicht der Fall. Die Jungen hätten eine andere Weltsicht, die man „Safetyism“ nennen könnte. Sie fordern das Recht, sich emotional sicher zu fühlen – und dieses Gefühl sei wichtiger als „freie Rede“. Mit anderen Worten: Konservativen wie Donald Trump und Steve Bannon, so die Jungen, dürfte man publizistisch kein Gehör verschaffen, da die Gefahr droht, dass ihre Rede die Gefühle von Minderheiten verletzt. Ist so eine Art von Sprechverbot legitim? Bari Weiss schreibt: „Vielleicht ist die Antwort ‚ja‘. Falls die Antwort ‚ja‘ lautet, heißt das aber auch, dass die Meinung einer Hälfte der Amerikaner als inakzeptabel gilt.“

Eine ähnliche Debatte könnte man auch in Deutschland führen. Wer darf sprechen? Wer darf schreiben? Wer darf sich äußern? Muss man rechte Positionen ignorieren? Sie verschwinden dadurch ja nicht. Auch in Deutschland wachsen die Gräben, verhärten sich die Fronten. Was in der Diplomatie mit anderen Staaten gilt, muss also auch innerhalb einer Gesellschaft gelten: Der Dialog darf nicht abbrechen. Setzen wir eine andere Brille auf. Probieren wir – wie Kleist – die grünen Gläser, um die Welt mit anderen Augen zu sehen – sei es sogar mit den Augen des Feindes. Danach können wir sie wieder absetzen, debattieren, sprechen, streiten und unseren Standpunkt verteidigen. Nur so hat unsere Meinung eine Chance, auch vom Gegner gehört zu werden. Und genau darauf kommt es ja an.


Debatte: Ach, ihr Linken! Gebt doch endlich Gedankenfreiheit

Mit kühnen Thesen riskiert man als Denker seinen Job. Cancel Culture gibt es wirklich. Die Ersten verstecken sich im Intellectual Dark Web. Ein Debattenbeitrag.  23.8.2020 – Milosz Matuschek, Berliner Zeitung.

Cancel-Culture:Kollektive Zensur

Wer die Cancel-Culture nicht ernst nimmt, schaue in die USA: Dort werden nicht nur falsche Meinungen, sondern auch Falschmeinende bekämpft. Eine Warnung. Von  12. August 2020. ZEIT online.

phoenix plus: Instrumente der Macht – Der politische Streit