Hiroshima und Nagasaki mahnen: atomare Bedrohung ist aktueller denn je – 45 Gedenkminuten am 6.8.2020
Vor dem Hintergrund der ganz aktuellen unvorstellbaren Bedrohung durch 13.000 Nuklearwaffen haben wiram 6. August 2020 um 10.30 Uhr im Vogthausgarten (hinter der Famileinbildungsstätte). 45 Gedenkminuten an den verbrecherischen Abwurf der r ersten Atombombe über Hiroshima abgehalten.
Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader hat im Rahmen der Veranstaltung seinen persönlichen Beitritt ur weltweiten Initiative „Mayors for Peace“ (Bürgermeister*innen für den Frieden) erklärt.
Die Veranstaltung lief so ab:
- Gedichte: „Bitten der Kinder“, Bert Brecht – „Wettrüsten“, Bertha von Suttner (Cora Kannenberg)
- Lied 1: „Das weiche Wasser bricht den Stein“ (Rainer Arnold, MdB SPD, i. Ruhestand)
- Gedichte: „Das tote Mädchen“, Nazim Hikmet (in türkischer Sprache: Kübra Kaskan/deutsch: Martin Lempp)
- Begrüßung: Hans Dörr, GEW
- Gedicht: Hiroshima, Marie-Luise Kaschnitz (angefragt: Heinrich Brinker, attac Kirchheim) – Gedicht: Das Gedächtnis der Menschheit, Bert Brecht (angefragt: Heinz Pötzl, attac Kirchheim)
- Ansprache OB Bader – Erklärung zur Initiative Mayors for Peace
- Lied 2 „Traum vom Frieden“ (Rainer Arnold)
- Kampagne Hiroshima und Nagasaki mahnen: Beitritt zum UN-Atomwaffenverbot jetzt! (Karl-Heinz Wiest, Pax Christi)
- Hinweis auf den Friedensgottesdienst am 27.9.20 und den Vortrag „Sicherheit neu denken“ am 12. 10.20 (Willi Kamphausen)
- Lied 3: „We shall overcome“. Musikalischer Ausklang – gemeinsam mit Rainer Arnold.
ICAN: Informationen zum Atomwaffenverbotsvertrag
Beschlüsse der Bundesländer
Vier Bundesländer haben bereits beschlossen, den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterstützen bzw. die Bundesregierung aufzufordern, ihn beizutreten:
- Bremen, Bremische Bürgerschaft, 5. Dezember 2017
- Berlin, Berliner Abgeordnetenhaus, 10. Mai 2019
- Rheinland-Pfalz, Landtag, 22. August 2019
- Hamburg, Hamburgische Bürgerschaft, 12. Februar 2020
#ICANSave – der Städteappell
Zahlreiche Städte, Gemeinde und Landkreise in Deutschland und aller Welt haben sich bereits dem ICAN-Städteappell angeschlossen. Ist Ihre Stadt die nächste?
Warum sollten sich Städte dem Appell anschließen?
Atomwaffen stellen eine besondere Bedrohung für Städte dar. Sie sind im Ernstfall die primären Ziele eines atomaren Angriffs. Damit sind Städte direkt betroffen und sollten sich deshalb in die Diskussion zu dieser Frage einmischen. Atomwaffen sind konzipiert, um Menschen und Infrastruktur gigantischen Schaden zuzufügen. Die sogenannte nukleare Abschreckung basiert auf der Drohung, die wichtigsten Orte eines Landes anzugreifen.
Alle Atomwaffenstaaten und ihre Bündnispartner nehmen diese Bedrohung im Kauf und sehen den Einsatz mit Atomwaffen als legitime Verteidigungsstrategie. Damit setzen diese Staaten ihre Bürger*innen der Vernichtungsgefahr aus. Immer wieder sind wir in der Vergangenheit an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt. Städte tragen eine besondere Verantwortung für den Schutz ihrer Bewohner*innen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass sie sich gegen Atomwaffen aussprechen.
Das Engagement von Städten ist wichtig, um Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit diese auf den Willen der Bevölkerung achtet. Wenn Städte die Regierung dazu auffordern, dem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen beizutreten, ist dies eine spürbare Mahnung, dass die hier in Deutschland lebende Menschen Massenvernichtungswaffen ablehnen. Die Bundesregierung ignoriert diese Sicht bisher.
Ein neues Bündnis von Städten weltweit stärkt die Stimmen der Menschen überall und setzt alle Regierungen dieser Welt unter Druck, jegliche Beteiligung an der atomaren Abschreckung und jegliche Verstrickung in Atombombengeschäften zu unterlassen.
Hintergrund: Vor 75 Jahren, am 6. und 9. August 1945, wurden die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. 65.000 Menschen verdampften und verbrannten auf der Stelle, bis zum Ende des Jahres starben mehr als 200.000. Diese Opfer mahnen uns, die katastrophalen humanitären Folgen von Atomwaffen zu erkennen und für eine Welt ohne Atomwaffen einzustehen!
Heute bedrohen uns weltweit noch immer mehr als 13.000 Nuklearwaffen! Die Atommächte planen, Milliardensummen in die Aufrüstung ihrer Arsenale zu investieren – alleine 2019 gaben sie 73 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen aus. Auch in Deutschland sollen neue Trägerflugzeuge für die Atombomben in Büchel angeschafft werden. Damit würde die nukleare Teilhabe für die kommenden Jahrzehnte festgeschrieben.
Wir fordern die deutsche Bundesregierung auf:
- keine neuen Kampfflugzeuge für einen Atomwaffeneinsatz zu beschaffen
- Atomwaffen aufgrund der katastrophalen humanitären Folgen ihres Einsatzes zu ächten
- den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen zu unterzeichnen und zu ratifizieren
Gedenken Sie mit uns der Atombombenopfer!
Atomwaffen ächten noch im Jahr 2020 – pax christi fordert den Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen –
Erklärung des pax christi-Präsidenten, Bischof Peter Kohlgraf, anlässlich des 75. Gedenkens der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 2020
Vor 75 Jahren, am 6. und 9. August 1945 fielen die amerikanischen Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Sie rissen mehr als 200.000 Menschen in einen unvorstellbar grausamen Tod, die Überlebenden litten ihr Leben lang unter der nuklearen Verseuchung wie unter den psychischen Folgen, beide Städte wurden fast vollständig ausgelöscht.
Wir gedenken der unzähligen Opfer dieses furchtbaren Angriffs vor 75 Jahren. Und zugleich müssen wir uns vor Augen führen: Die Bedrohung der Menschheit durch Atomwaffen ist auch heute grausame Realität. Jede der heute existierenden Atomwaffen hat das mehrfache Vernichtungspotential der Hiroshima-Bombe und bedroht alles Leben auf der Erde. Die Menschen, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki ihr Leben verloren, mahnen uns alle eindringlich, für Abrüstung und für eine Welt ohne Atomwaffen einzutreten.
Die katholische Friedensbewegung pax christi Deutschland fordert – gemeinsam mit einem breiten Bündnis christlicher Kirchen, Religionsgemeinschaften und Friedensvereinigungen – Atomwaffen international zu ächten. An die Bundesregierung ergeht unsere Aufforderung, den Atomwaffenverbotsvertrags der Vereinten Nationen zu unterzeichnen.
Bis zum Jahr 2020, noch zu Lebzeiten wenigstens einiger Überlebender der Angriffe von 1945, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen – das war das Ziel einer breiten internationalen Kampagne, die der Zusammenschluss „Mayors for peace“ („Bürgermeister für den Frieden“) im Jahr 2003 in Hiroshima angestoßen hat und in der die internationale pax christi-Bewegung aktiv mitarbeitet.
Eine atomwaffenfreie Welt im Jahr 2020 haben wir nicht erreicht. Doch vor drei Jahren mündete die Initiative in den Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen, der die Ächtung aller Atomwaffen mit dem Verbot der Herstellung und des Besitzes in kurzer Frist festschreibt. Wir setzen jetzt die Hoffnung darauf, dass im Jahr 2020 die Zahl von 50 Staaten erreicht wird, die den Verbotsvertrag ratifizieren, damit Verbot und die Ächtung von Atomwaffen als Internationales Recht in Kraft treten.
Mit unserem Bemühen stehen wir an der Seite von Papst Franziskus, der im vergangenen Jahr die Gedenkstätten in Hiroshima und Nagasaki aufgesucht hat.
Vor den Augen der Weltöffentlichkeit hat er mit bewegenden Worten der Opfer gedacht und unmissverständlich die Existenz und den Besitz von Atomwaffen für unmoralisch erklärt: „Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus. Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen unmoralisch ist“.
Weiter mahnt Papst Franziskus: „Wenn wir tatsächlich eine gerechtere und sicherere Gesellschaft aufbauen wollen, müssen wir die Waffen aus unseren Händen legen“. (…) Wenn wir der Logik der Waffen nachgeben und uns von der Praxis des Dialogs entfernen, vergessen wir tragischerweise, dass die Waffen, noch bevor sie Opfer fordern und Zerstörung bewirken, böse Szenarien hervorrufen können (…). Wie können wir Frieden anbieten, wenn wir beständig die Drohung eines Atomkrieges als legitimes Mittel zur Konfliktlösung einsetzen? (…) Der wahre Friede kann nur ein waffenloser Friede sein“.
Die Realität ist eine andere: De facto setzen die deutsche Bundesregierung und das NATO-Bündnis weiter auf Abschreckung und halten an der Überzeugung fest, durch die Drohung mit den Massenvernichtungswaffen den Frieden erhalten zu können. Deutschland ist in die nukleare Teilhabe eingebunden, die die Mitarbeit am Einsatz von Atombomben durch die deutsche Bundeswehr bedeutet. Geplant ist die Erneuerung der in Deutschland stationierten amerikanischen Atomwaffen und die Anschaffung neuer Kampfjets für den Abwurf dieser Atombomben.
Dem stehen jedoch auch völkerrechtliche Vereinbarungen entgegen: Der Atomwaffensperrvertrag von 1968, in dem sich die fünf offiziellen Atommächte zur vollständigen nuklearen Abrüstung unter internationaler Kontrolle verpflichten und die anderen Unterzeichnerstaaten auf den Erwerb von Atomwaffen verzichten. Das Gutachten des Internationale Gerichtshof von Den Haag (IGH) von 1996, das feststellt: „Die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstoßen generell gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“ (Ziff. 105 (2) D).
Als pax christi-Bewegung stellen wir uns der Politik der atomaren Abschreckung, der Aufrüstung und der nuklearen Teilhabe entgegen. Wir bauen dabei auf den Friedenswillen und die Sehnsucht der Menschheitsfamilie nach Friede: „Einer der tiefsten Wünsche des menschlichen Herzens ist der nach Frieden und Stabilität“, sagt Papst Franziskus vor dem Friedensdenkmal in Nagasaki im November 2019. Zugleich deutet der Papst den Weg an, der zu diesem Frieden führt: „Der Frieden und die internationale Stabilität (…) sind nur möglich im Anschluss an eine globale Ethik der Solidarität und Zusammenarbeit im Dienst an einer Zukunft, die von der Interdependenz und Mitverantwortlichkeit innerhalb der ganzen Menschheitsfamilie von heute und morgen gestaltet wird. “
Am 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki gedenken wir der Opfer dieses Grauens. Und wir mahnen: Die Drohung mit der Vernichtung des Lebens durch Atomwaffen kann kein Synonym für Frieden sein. Der Verzicht auf die Abschreckungslogik der Atomwaffen und der Wille zu Vertrauensbildung und Abrüstung sind die Orientierungspunkte einer Friedenslogik der Zukunft.
Atomwaffen ächten noch in diesem Jahr Pax Christi Erklärung zum 6. und 9. August 2020
Um Rassismus zu bekämpfen, muss man die Macht der Konzerne bekämpfen.
Keine Frage der Moral
Es geht nicht um Gesinnung, sondern ums Geschäftsmodell: Um Rassismus zu bekämpfen, muss man die Macht der Konzerne bekämpfen.
Von Paul Heideman | 28.07.2020
Seit Beginn der Aufstände gegen Polizeibrutalität und ethnische Ungerechtigkeiten Ende Mai überschlagen sich die Konzerne, um Stein und Bein zu schwören, dass sie gegen Rassismus seien. Der internationale Wirtschaftsprüfungsriese KPMG veröffentlichte den Blogeintrag eines Seniorpartners, in dem dieser erklärt, warum er Juneteenth feiert, den Gedenktag zur Erinnerung an die Befreiung der Sklaven. Die Firma Gushers, ein Fruchtsnackhersteller im Besitz von General Mills, twitterte: „Gushers wäre nicht Gushers ohne die Schwarze Gemeinschaft und eure Stimmen.“ Selbst der Business Roundtable wollte nicht außen vor bleiben und erklärte sich „tief besorgt über die rassistische Voreingenommenheit, die nach wie vor ein Übel in unserer Gesellschaft ist“.
Sehr zum Bedauern der hinter diesen Aktionen steckenden Marketingberater kaufen immer weniger Menschen den Konzernen diese Aussagen ab. Wenn die Unternehmen Rassismus wirklich ernst nähmen, argumentierte kürzlich ein Autor in der Washington Post, würden sie andere Dinge tun: „strategische Maßnahmen ergreifen und mehr schwarze Fachkräfte einstellen“, „erheblich mehr Gelder in die Netzwerkgruppen schwarzer Angestellter investieren“, und „die Schwarzen um Rückmeldung und Anregungen bitten, wie der Betrieb weniger rassistisch gestaltet werden könnte“.
Diese Art von Skepsis ist absolut gerechtfertigt. Wir sollten die Aussagen der Konzerne oder ihre Tweets zu anti-rassistischen Maßnahmen nicht falsch verstehen. Gleichwohl ist das Bemerkenswerteste an der Aussage der Washington Post – die typisch für den Tenor der aus linksliberalen Kreisen kommenden Kritik ist –, dass sie den Anti-Rassismus von Konzernen allein als eine Frage des Willens betrachtet. Konzerne wollen anti-rassistisch sein oder auch nicht; und wenn nicht, ist das das moralische Versagen der Unternehmensführung.
Aber Unternehmen sind von dem Anspruch getrieben, ihre Profite zu maximieren. Es ist dieser Antrieb – nicht das Fehlen anti-rassistischer Überzeugungen –, der letztlich ethnische Hierarchien immer weiter verfestigt (und häufig vertieft). Vom Umweltrassismus bis hin zur „raffgierigen Vereinnahmung“ des Wohnungsmarktes ist es der Daseinsgrund der Konzerne an sich, der sie dazu bringt, die Lebensperspektive der Schwarzen in der US-Bevölkerung zu schmälern. Um gegen Rassismus vorzugehen, muss man gegen die Macht der Konzerne vorgehen.
Der Eintritt von Beteiligungsfonds in den Immobilienmarkt ist einer der Gründe, warum die Hauseigentumsrate in den USA noch immer nicht annähernd an die Höchstraten vor der Krise herankommt; und bei der Schwarzen Bevölkerung liegt diese Rate bei unter 45 Prozent.
Die jüngste Vergangenheit einer einzelnen Firma – der Blackstone Group – ist ein anschauliches Beispiel für diese Dynamik.
Blackstone ist eine riesige Investmentgesellschaft, die einige der weltweit größten Kapitalbeteiligungsfonds unter ihrer Kontrolle hat. Gleich nach dem Tod von George Floyd veröffentlichte Blackstone eine Erklärung, in der das Unternehmen seine Sympathie mit der Bewegung für ethnische Gerechtigkeit zum Ausdruck brachte und John Lewis‘ Worte über den „endlosen Kampf“ für Gleichheit zitierte. Die Handlungsweise des Unternehmens im letzten Jahrzehnt erzählt eine ganz andere Geschichte.
In den Jahren vor der Immobilienkrise mit den zahlreichen Zwangsversteigerungen hatten Hypothekengesellschaften vor allem die Bevölkerungsschicht der Schwarzen als Zielgruppe für Subprime-Kredite anvisiert. Als die Immobilienblase platzte, hatte das die größte Zerstörung von Vermögen schwarzer Haushalte in der US-Geschichte zur Folge. Die mit Millionen von leerstehenden Häusern konfrontierte Obama-Regierung wandte sich an amerikanische Konzerne, um eine Lösung zu finden. Im Jahr 2010 legte sie ein Programm auf, das es den Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac erlaubte, die zwangsversteigerten Häuser reihenweise an Investitionsgesellschaften zu verkaufen, die daraus Mietobjekte machten.
Die Kapitalbeteiligungsfonds von Blackstone gehörten zu den großen Nutznießern dieses Programms. Mit Investitionen von über 60 Milliarden US-Dollar in Mietmärkte verwandelte der Konzern Hunderttausende von Einfamilienhäusern in Mieteinheiten. Während Schwarze Familien in Rekordzahlen ihre Häuser verloren, war Blackstone bereit, sich die früheren Eigenheime von Schwarzen Familien, mit denen diese etwas Vermögen aufbauen wollten, unter den Nagel zu reißen und in eine weitere Quelle passiven Einkommens für ihre Anleger zu konvertieren.
Der Eintritt von Beteiligungsfonds in den Immobilienmarkt ist einer der Gründe, warum die Hauseigentumsrate in den USA noch immer nicht annähernd an die Höchstraten vor der Krise herankommt; und bei der Schwarzen Bevölkerung liegt diese Rate bei unter 45 Prozent.
Weil die Zwangsversteigerungskrise die Schwarzen Wohnviertel unverhältnismäßig härter traf, konzentrieren sich die Häuser, die jetzt von den Kapitalbeteiligungsgesellschaften vermietet werden, in genau diesen Gegenden.
Revolte gegen die Nachahmung
Rechtspopulismus als Reaktion auf erzwungene Nachahmung? Ivan Krastev und Stephan Holmes liegen zwar richtig, übersehen aber das Wichtigste.
Von Eszter Kováts, Katerina Smejkalova | 11.03.2020
„Das ist ein Lernprozess, Sie werden schon auch irgendwann soweit sein.” So berichtete Katalin Novák, ungarische Staatssekretärin für Familienpolitik, in ihrer Rede beim jährlichen Treffen des erzkonservativen World Congress of Families im Mai 2017 in Budapest über die Reaktionen auf den Standpunkt der ungarischen Regierung zur gleichgeschlechtlichen Ehe, den sie in Genf bei den Vereinigten Nationen hatte erklären müssen. „Man beschämt uns nur die ganze Zeit”, fasste sie die Einstellung des UN-Gremiums gegenüber Ungarn zusammen. „Wir sollten aber nicht ständig so belehrt werden.“
Nováks Darstellung könnte die zentrale These von Ivan Krastevs und Stephen Holmes‘ Buch „Das Licht, das erlosch“ nicht besser illustrieren. Die beiden Autoren argumentieren nämlich, dass gerade die sozialpsychologischen Folgen der Rolle des ewigen Nachahmers – also Mittel- und Osteuropa gegenüber dem Westen nach 1989 – den Populisten in den Ländern Auftrieb geben und ihre Wählerschaft mobilisieren.
Krastev und Holmes streiten nicht ab, dass die antiliberalen Herrscher durchaus pragmatische Strategen sind, die im Hintergrund ihre Macht stärken wollen und Ideologie in Form solcher Deutungsangebote dabei lediglich als Deckmantel verwenden. Richtigerweise argumentieren die Autoren aber, dass es kaum etwas bringt, sie nur als korrupte Bösewichte darzustellen, die ihre Bevölkerungen irgendwie „verhexen“.
Man muss einen anderen Blick wählen, um den Zuspruch weiter Teile ihrer Bevölkerung zu verstehen. Und diesen sehen sie „in der Demütigung, höchstens die minderwertige Kopie eines überlegenen Vorbilds zu sein und von ausländischen Gutachtern benotet zu werden, die nur vage interessiert sind und sich selten mit den Realitäten vor Ort vertraut gemacht haben.“
Die beiden Autoren arbeiten dies mit aufschlussreichen Beobachtungen und plausiblen Argumenten heraus. Zentral ist dabei die aus der Psychologie abgeleitete Dynamik, die das Nachahmen eines unerreichbaren Vorbildes zwangsläufig in eine trotzige Abneigung und das Streben nach eigener Würde durch möglichst markante Abgrenzung umschlagen lässt.
Dies fällt umso heftiger aus, da der Westen in den Augen der Ostmitteleuropäer nicht mehr das ist, was man früher durch Nachahmung erreichen wollte: Ökonomische Stabilität und Wohlstand, eine traditionelle europäische Identität oder gar – eng ausgelegt – christliche Werte, scheinen dort heute Mangelware. Stattdessen gelten scheinbar „Säkularismus, Multikulturalismus und Homo-Ehe“ als „Normalität“, als aufzuholendes „Europa“.
Hinzu kommt die ostmitteleuropäische Abwanderung in den Westen: Diese war massiv und führte zu einer demographischen Panik, die ihren Ausdruck in der vehementen Ablehnung von Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen fand. Die demographische Destabilisierung, so Krastev und Holmes, mündet in eine Politik, die den Westen in den Augen junger Menschen unattraktiv machen und sie damit von der Abwanderung abhalten soll. Diese und andere spannende und diskussionswürdige Aussagen machen ihr Buch zu einem wichtigen Baustein, um die gegenwärtige Lage in Ostmitteleuropa zu verstehen. Gleichwohl greifen die Autoren stellenweise zu kurz. Sie legen kaum dar, was sie unter „Liberalismus“ verstehen – dabei ist dies wesentlich, wenn man eine bereits im Buchtitel postulierte Abwendung analysieren will.
Guter Protest, böser Protest. Prof. Dr. Armin Nassehi im taz-FUTURZWEI-Gespräch
Quelle: https://taz.de/!171299/
taz FUTURZWEI: Herr Professor Nassehi, bei den Demos gegen die Corona-Politik wurde der vorgeschriebene Sicherheitsabstand nicht eingehalten. Was sagen Sie als Protestexperte dazu?
Das Interview ist hier nachzulesen
ARMIN NASSEHI
Der Mann: Professor für Soziologie in München und Herausgeber der legendären Intellektuellenzeitschrift Kursbuch. Geboren 1960 in Tübingen. Verheiratet. Chorsänger.
Das Werk: In diesem Jahr erschien „Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests (kursbuch.edition 2020). Rezension in der aktuellen Ausgabe von taz FUTURWEI „Die verborgene Wirklichkeit“.
In Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft (Beck 2020), beschreibt er die Digitalisierung als Antwort auf ein Bezugsproblem der Gesellschaft: ihre Komplexität und Regelmäßigkeit. Die Gesellschaft will dadurch ihre verborgenen Muster sichtbar machen.
In Die letzte Stunde der Wahrheit (Murmann 2015) hat er angefangen, Gesellschaft jenseits von links-rechts zu beschreiben. In der taz erklärte er 2019 erstmals das neue politische Konzept der »Bündnisse« von verschiedenen gesellschaftlichen Systemen.