Ungleiche Beanspruchung des öffentlichen Raums durch die individuelle Automobilität

Der „ruhende“ Verkehr – und die Verteilung des öffentlichen Raums in unseren Städten

Wer kennt das nicht: zugeparkte Gehwege, Parkplatzsuche, kein Durchkommen für Rettungsfahrzeuge. Es ist offensichtlich: In den meisten Städten übersteigt der Bedarf an Pkw-Stellplätzen den vorhandenen Raum, und zwar unabhängig von der Stadtgröße. Parkende Autos dominieren das Erscheinungsbild der Straßen und beeinträchtigen ihre Funktionsfähigkeit. Diese „Übernutzung“ öffentlicher Straßenräume führt zu zahlreichen (Folge-)Problemen.

Die Verteilung der knappen öffentlichen Flächen beim „ruhenden“ Verkehr (= Parken; Abstellen) unter den einzelen Verkehrsarten ist extrem ungleich.

Die Forschungsgesellschaft Mobilität Austria (http://fgm.at/) hat einen Flächensplit für ruhenden Verkehr erhoben- Er dürfte„prinzipiell auf weite Teile Europas übertragbar sein.“ (Prof. Dr. Stephan Rammler, Volk ohne Wagen, 2017, S. 60): Radabstellflächen benötigen 2 Prozent, Verkehrsmittel des ÖPNV brauchen 3 Prozent und der ruhende Fußgängerverkehr verbraucht ebenfalls 3 Prozent (Straßencafés, Parkbänke etc.).

92 Prozent des öffentlichen Straßenraums werden für das Parken/Abstellen von PKWs benötigt.   

Ein Auto belegt im Stillstand 13,5 qm. Die 47,1 Mio. PKW in Deutschland (Stand 1.1.19) belegen – eng geparkt – eine Fläche von 635,85 Quadratkilometern (qkm). Das sind etwas mehr als zwei Drittel der Fläche der Stadt Berlin (900 qkm).

Im Schnitt stehen PKW mehr als 23 Stunden ungenutzt herum – im öffentlichen Raum, auf Parkplätzen von Firmen oder Privatpersonen.

Ein Drittel der Wege mit PKW in der Stadt werden für Parkplatzsuche verwendet.

Weltweit verursacht die Parkplatzsuche – laut der IBM-Studie Global Parking Survey 2011 – einen durchschnittlichen Zeitaufwand von 20 Minuten täglich.

Die genaue Zahl von Parkplätzen kann nur geschätzt werden. Laut Schätzung existieren in den Kernstaaten Westeuropas (EU-15) etwa 300 Millionen öffentliche Parkplätze. Davon sind über 80 Prozent im öffentlichen Raum. Eine Parkgebühr muss lediglich auf etwa 11 Millionen (3,6 Prozent) Abstellmöglichkeiten entrichtet werden.

Gleichzeitig werden jeden Tag kostbares Ackerland und Grünflächen versiegelt. Lt. Umweltbundesamt wurde in Deutschland von 1992 bis 2018 ca. 9.500 qkm Fläche überbaut (dies entspricht etwa der halben Fläche von Rheinland-Pfalz).

Fazit: Die weitere Steigerung der individellen Automobilität ist – unabhängig von der Antriebstechnologie – neben der ungleichen Beanspruchung des öffentlichen Raums aus vielerlei weiteren Gründen keine anstrebenswerte Option für die nötige Verkehrswende – sowohl national als auch international. Weltweit gibt es im Augenblick 1,318 Milliarden PKW. Jährlich kommen 100 Millionen weitere dazu, jede Sekunde drei weitere PKW.

Literatur: Hermann Knoflacher. Stehzeuge: Der Stau ist kein Verkehrsproblem. 2009.

Hermann Knoflacher: Wir sind vom Virus Auto befallen“ (YouTube-Video 27.11.15)

Hermann Knoflacher: Die Verkehrswende beginnt im Kopf (YouTube-Video 26.9.18)

Zeitungsanzeige zu den Ostermärschen 2020 unterstützen (bis 31.3.20)

Um die Mobilisierung für die Ostermärsche zu unterstützen, plant as Netzwerk Friedenskooperative am 04. Apri 2020  eine Zeitungsanzeige in der TAZ, im Neuen Deutschland sowie dem Freitag zu veröffentlichen.

Der Anzeigentext soll noch einmal verdeutlichen, warum es wichtig ist zu Ostern für Frieden, Abrüstung und Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen und welche zentralen Forderungen die Ostermärsche an die Politik haben.

Gleichzeitig informiert die Anzeige darüber, in welchen Städten Aktionen stattfinden, damit möglichst viele Menschen an den Ostermärschen teilnehmen.Mit der bundesweiten Zeitungsanzeige unterstützt das Netzwerk Friedenskooperative die lokalen Veranstalter*innen der Ostermärsche bei der Mobilisierung.

Die Anzeige kann sowohl von Einzelpersonen, als auch von Organisationen und Gruppen bis zum 31. März unterschrieben werden. Unter der Zeitungsanzeige werden die Unterzeichner*innen mit Vor-, Nachname und Wohnort genannt. Zur Finanzierung der Anzeige bitten wir die Unterzeichner*innen um eine Spende (Formular zur Unterschrift und Spende siehe unten).

Für Fragen zur Anzeige werden FAQs angeboten.

Text der Zeitungsanzeige

Zukunft braucht Frieden – Zu Ostern auf die Straße für Abrüstung, Entspannungspolitik und Klimagerechtigkeit!

Militär und Krieg zerstören weltweit die Lebensgrundlage von Millionen Menschen. Atomwaffen und die Klimakatastrophe bedrohen unser aller Existenz. Für eine friedliche und nachhaltige Zukunft braucht es dringend ein Umdenken – werden wir aktiv bevor es zu spät ist!

Deshalb fordern wir von der Politik:

  • Eine massive Reduktion der Rüstungsausgaben und stattdessen höhere Investitionen in Klimaschutz, Bildung, Gesundheit und Rente.
  • Den Abzug der US-Atomwaffen aus Büchel und die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbots durch Deutschland.
  • Den sofortigen Stopp von Waffenexporten in menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten sowie eine umfassende Konversion der Rüstungsindustrie.
  • Entspannungspolitik und gewaltfreie Mittel der Konfliktbearbeitung statt Kriegsmanöver wie Defender 2020 oder Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Dafür demonstrieren wir gemeinsam bei den Ostermärschen.
Mach mit und sei dabei in Deiner Stadt:

[Auflistung der Städte mit Ostermarsch]

Vorwahlen in den USA: Sanders & Socialism

Sanders & Socialism: Debate Between Nobel Laureate Paul Krugman & Socialist Economist Richard Wolff (veröffentlicht: 24.2.20)

„As Bernie Sanders’s runaway win in Nevada cements his position as the front-runner for the Democratic nomination, the Democratic Party establishment and much of the mainstream media are openly expressing concern about a self-described democratic socialist leading the presidential ticket.

His opponents have also attacked his ambitious agenda. Last week during the primary debate in Las Vegas, Bernie Sanders addressed misconceptions about socialism. Invoking the words of Dr. Martin Luther King Jr., Sanders decried what he called “socialism for the very rich, rugged individualism for the poor.”

For more, we host a debate on Bernie Sanders and democratic socialism, featuring two well-known economists. Paul Krugman is a New York Times op-ed columnist and author of many books, including his latest, “Arguing with Zombies: Economics, Politics, and the Fight for a Better Future.” One of his recent columns is headlined “Bernie Sanders Isn’t a Socialist.” Richard Wolff is professor emeritus of economics at the University of Massachusetts, Amherst, and visiting professor at The New School. He is the founder of Democracy at Work and hosts the weekly national television and radio program “Economic Update.” He’s the author of several books, including “Understanding Socialism.”“

Was lernen wir aus dem Anschlag in Hanau?

Bundestag debattiert nach Hanau über Hass und rechten Terror

Einen Tag nach dem zentralen Gedenkakt in Hanau für die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags mit zehn Todesopfern diskutierte der Bundestag über Konsequenzen aus den Morden.


ZEIT online Kommentar von Christian Bangel – 22. Februar 2020 (Auszüge)

„Rassismus: Bedingungsloses Zuhören

Was lernen wir aus dem Anschlag von Hanau? Es wäre gut, würden wir verinnerlichen, dass die Betroffenen den Rassismus besser kennen als wir, die Privilegierten.

Es gibt Menschen in unserer Mitte, die sind nicht nur betroffen und schockiert vom Hanauer TerroranschlagDie haben kalte Angst. Menschen, die sich fragen, wo es für sie noch sichere Orte gibt. … .

Man kann als Weißer ohne Migrationshintergrund, als jemand also, der Rassismus nie erlebt, nicht erfühlen, wie es ist, von solch einem Verbrechen zu erfahren. Wir sind nicht alle die Opfer dieses Anschlages, so wohlmeinend dieser Satz auch ist. Wir sind die, die eine Atmosphäre haben entstehen lassen, in der sich Täter wie der von Hanau ermutigt fühlen konnte. … .

All jene, die jetzt vom Abgrund dieses gewaltbereiten Rassismus überrascht sind, die haben, man muss das so sagen, in den letzten Jahren und Jahrzehnten einfach nicht zugehört. “ …

Wir sind längst mittendrin in einer rechtsextremen Terrorwelle, die viele so lange nicht für möglich gehalten haben und vor der andere, besonders von Rassismus Betroffene, ebenso lange warnten. ….

Es ist das zurückgekehrte Reden von der Ungleichwertigkeit ganzer Menschengruppen, von Nafris, vom Asyltourismus, von Kulturkreisen, von Umvolkung und von Invasion. Wer glaubt, dass so etwas keine Folgen hat, der lügt entweder oder er hängt in an Urteilsschwäche grenzender Naivität immer noch der Illusion an, dass Deutschland, das Land der „Aufarbeitungsweltmeister„, für immer geheilt sei von dem rassistischen Hass, der lange vor dem zweiten Weltkrieg in seiner Mitte entstand.

Bewältigungsroutine

Doch kurz nach dem Terroranschlag von Hanau hat die Bewältigungsroutine eingesetzt … . Doch es gibt inzwischen leider einige Erfahrungswerte dazu, welche konkreten Folgen diese sicher ernst gemeinte Erschütterung vieler Politiker direkt nach einer rassistischen Terrortat hat. Wie groß war die Anteilnahme für die Opfer des NSU, wie tief war das Mitgefühl nach dem Horror von Halle? Und doch trat jedes Mal bald darauf wieder dieser deutsche Normalzustand ein, der den Betroffenen das Gefühl vermitteln musste, dass sich in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts verändert hatte.

Als längst sichtbar war, dass die AfD eine seit 1945 nicht dagewesene rechtsradikale Bedrohung ist, konnte sich in Deutschland eine Erzählung ausbreiten, nach der dieses Land von den Linken bedroht sei. In einer Zeit, in der sich rechte Terroranschläge und rechte Wahlergebnisse abwechseln, begehrt kaum jemand in der CDU auf, wenn konkurrierende Anwärter um den Chefposten gedenken, die Wahlerfolge der AfD mit einem Rechtsruck der Union zu beantworten. Oder wenn ein Mann wie Friedrich Merz, der Kanzler werden will, nichts, aber auch gar nichts Substanzielles zum Thema Rassismus zu sagen hat, aber meint, ein Burkaverbot vorschlagen und damit das rassistische Stereotyp von der rückständigen, vordemokratischen Muslima füttern zu müssen.

„Nazikeule“

Dass Menschen mit Migrationshintergrund in dieser Gesellschaft immer wieder kleinen und großen rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind, dass sie permanent Anpassungsbeweise erbringen müssen, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft ihren Schutz zu einem großen Anliegen macht, ist bei uns hingegen kein Skandal. Im Gegenteil: Wer das thematisiert, zieht Wut auf sich, weil er damit angeblich Opfernarrative fördert, die Nazikeule schwingt, spaltet – oder einfach die Illusion untergräbt, dass jeder in diesem Land von Geburt an die gleiche Chance hat. Was soll eigentlich noch passieren, bis wir, die Weißen ohne Zuwanderungsgeschichte, die Bedrohung, die der Rassismus darstellt, aus Sicht der Betroffenen betrachten?

Uns kann niemand rauswerfen

Man kann als Weißer und Weiße sehr gut leben in diesem Land. Man kann in Neuköllner Shisha-Bars sitzen, einfach weil man Lust darauf hat. Man kann sich aber auch mit dem einfältigsten AfD-Wähler unterhalten und bei Bier und Korn versuchen, das Bürgerliche in ihm zu entdecken. Wir haben überall Zugang. Dass den andere Menschen ihn nicht haben, dass deren Wege auch geprägt sind von der Frage: Wo begegnet mir mehr Rassismus und wo weniger? Das interessiert viele von uns durchaus auch mal. Allerdings eher selten.

Die Empathie, die es in diesem Land für die Ängste und Sorgen von weißen Bürgern durchaus gibt, hat nie dauerhaft die miteingeschlossen, die tagtäglich mit dem Rassismus kämpfen müssen. Auch wir, die linksliberalen weißen Wohlmeinenden, belassen es meist, wenn überhaupt, beim antirassistischen Bekenntnis – ohne den Gedanken zu Ende zu führen, was es bedeutet, dass wir davon nicht betroffen sind.   

Wir können nicht darüber entscheiden, was Rassismus ist

Vielleicht, weil dieser Gedanke, der seit Jahrzehnten von Betroffenen formuliert wird, eine Verhaltensänderung erzwingen würde. Er bedeutet nämlich, dass wir Weißen, so aufgeklärt wir uns auch fühlen mögen, nie Entscheider in der Frage sein können, ob ein Verhalten rassistisch ist. Diese Erkenntnis würde wiederum dazu führen, dass wir es ernstnähmen, wenn Menschen sich vom Rassismus bedroht fühlen. Sie würde uns einfühlsamer und wachsamer machen, auch wenn es fordernd und manchmal kompliziert wäre.

Wachsamkeit und Einfühlungsvermögen würden bedeuten, dass keine Talkrunde mehr ohne Menschen mit Migrationshintergrund auskommen würde, weil ihre Perspektiven auf Arbeitsmarkt, Rechtsradikalismus, Familienpolitik, einfach auf jedes Thema wichtiger wären als die Position einer rassistischen Partei.

Es würde auch bedeuten, dass die angebliche Volkspartei CDU, lange bevor sie versucht, AfD-Wähler „zurückzuholen“, ernsthafte Versuche unternehmen würde, Menschen aus religiösen und ethnischen Minderheiten auf ihre Seite ziehen. Denn was sonst sollte eine Volkspartei bitte tun …?

Es würde auch bedeuten, dass Rassismus nicht mehr als etwas gilt, das nur in Bomberjacke auftritt, sondern, dass er in jeder und jedem von uns auf die eine oder andere Weise wirkt.

Wir werden immer dazugehören

Machen wir uns nichts vor: Der Rassismus ist seit 1945 nie verschwunden aus Deutschland. Im Gegenteil, in den vergangenen Jahren kamen vernebelnde rechte Erzählungen hinzu, die die Debatte über ihn noch erschwerten: die von der Political Correctness, von den Meinungskorridoren, dem angeblichen Rassismus gegen Weiße.

Wir, die weißen Deutschen ohne Migrationsgeschichte, haben, egal von wo wir kommen, immer das Privileg eines unangreifbaren Dazugehörens…

Selbst der rassistischste AfD-Wähler wird nie die Drohung erfahren, aus diesem Land ausgeschlossen zu werden. Immer werden Politiker der sogenannten Mitte sagen, man muss auch seine Sorgen anhören. Diese Sicherheit des Dazugehörens fehlt Deutschen nichtweißer Hautfarbe. Und wenn wir uns mit unseren Werten ernstnehmen, wenn wir also wollen, dass die Schönheit des ersten Satzes unserer Verfassung zugleich auch eine Wahrheit ist, dann schulden wir es ihnen, diese Sicherheit zu schaffen. Jetzt. Bedingungslos. Für immer.“


AfD: Skrupellos bis es kracht | extra 3 | NDR (28.2.20): „Eine Woche ist nun nach den schrecklichen Angriffen in Hanau vergangen. Und immer mehr kristallisiert sich heraus, wer das eigentliche Opfer ist. Das eigentliche Opfer ist die AfD. Wie immer.

Linke, SPD und Grüne: Linke Mehrheiten gibt es nicht durch die Hintertür

ZEIT 13. Februar 2020

„Linke, SPD und Grüne: Linke Mehrheiten gibt es nicht durch die Hintertür

Die kommende Bundestagswahl biete die Chance zum politischen Wechsel, schreibt die Linken-Vorsitzende. Diese werde ein Kampf um den grundsätzlichen Kurs der Republik.

Ein Gastbeitrag von Katja Kipping

Katja Kipping, geboren und aufgewachsen in Sachsen, ist seit 2012 Parteivorsitzende der Linkspartei. Dem Bundestag gehört die 42-Jährige seit 2005 an. Davor war sie Mitglied des sächsischen Landtags. Die Möglichkeiten für eine Mitte-Links-Regierung lotet sie auch in ihrem Mitte Februar erscheinenden Buch „Neue linke Mehrheiten – eine Einladung“ aus. 

In der antiken Mythologie ist Kairos der Gott des richtigen Augenblicks. Er hat vorn eine Haarlocke, sein Hinterkopf hingegen ist kahl. Wer die Gelegenheit beim Schopfe packen will, muss im richtigen Moment zupacken, sonst bekommt er nur den haarlosen Hinterkopf zu fassen.

Den richtigen Augenblick nicht zu verpassen, sondern die Gelegenheit für neue politische Mehrheiten jenseits der Union zu ergreifen, vor dieser Herausforderung stehen derzeit auch die fortschrittlichen politischen Parteien in Deutschland. Mit den Entwicklungen in Thüringen und dem politischen Erdbeben, dass sich aus der Öffnung der konservativen Parteien hin zur AfD ergeben hat, ist jetzt mit aller Wucht deutlich geworden: Die richtige Zeit ist jetzt, ist heute.

Die kommende Bundestagswahl bietet, mehr als vorangegangene, die Chance zum politischen Wechsel. Sie wird, und das ist spätestens durch die Rücktrittsankündigung von Annegret Kramp-Karrenbauer klar, ein Kampf um den grundsätzlichen Kurs in unserer Republik werden. Dabei geht es nicht nur darum, wie viel soziale Sicherheit wir realisieren können oder ob ein ökologischer Wandel gelingt, der nicht auf Kosten der Ärmsten geht. Es wird auch um den republikanischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft gehen. Dass dieser in Gefahr ist, haben die Ereignisse in Thüringen gezeigt.

Drei mögliche Entwicklungen

Klar ist: Angela Merkel tritt nicht wieder an. Die entscheidende Mobilisierungsfrage wird lauten: Was folgt auf die Groko? Denkbar ist, dass der Wahlkampf zu einer reinen Personaldebatte verkommt. Dass ein Zweikampf aufgeführt wird nach dem Motto: Wollt ihr Friedrich Merz oder Robert Habeck? Olaf Scholz oder Armin Laschet? Oder – und das wäre die weit bessere Variante – es gelingt eine Auseinandersetzung darum, welchen Kurs dieses Land künftig einschlagen soll.

Drei Entwicklungspfade sind dabei vorstellbar: erstens autoritärer Kapitalismus, also die Verbindung von Konservativen und völkischer Rechten. Zweitens ein modernisierter Neoliberalismus mit grünem Anstrich. Parteipolitisch steht dafür hierzulande Schwarz-Grün. Und drittens eine sozialökonomische Wende, die nur von Parteien links der Union getragen werden könnte. Nur eine gemeinsame linke Regierung wäre zu einem echten Politikwechsel in der Lage, der die Klimakrise, die militärischen Eskalationen, den Rechtsruck und die soziale Spaltung nachhaltig entschärfen könnte.

Für die Parteien links der Union ist das der Kairos-Moment: Wir müssen den Kampf um neue linke Mehrheiten für eine sozialökonomische Wende jetzt aufnehmen. Die Gelegenheit ist günstig, doch die Zeit drängt.

Mehrere Kipppunkte

Denn in gleich mehrfacher Hinsicht steuern wird derzeit auf Kipppunkte zu. Veränderungen also, die, wenn sie einmal eingetreten sind, unumkehrbare Folgen haben. Die Dringlichkeit des Klimaschutzes ist in aller Munde. Einmal geschmolzene Gletscher lassen sich nicht wieder vereisen. Darum besteht in der ökologischen Frage höchster Handlungsbedarf. Aber man darf nicht dem Irrtum erliegen, deshalb die Dringlichkeit der sozialen Frage geringer zu schätzen nach dem Motto: Den Kampf gegen die Armut können wir auch noch in zehn Jahren beginnen. Die Folgen sozialer Spaltung können für Menschen und Demokratien nicht weniger zerstörerisch sein als die Treibhausgasemissionen für das Klima. Auch die soziale Spaltung kann einen Kipppunkt erreichen.

Auch der Rechtsruck der vergangenen Jahre könnte irgendwann nicht mehr zurückzudrehen sein, wenn wir nicht handeln. Um der Verführungskraft rechter Ideologien etwas entgegenzusetzen, gilt es, auf die entfesselte Ökonomie mit einer neuen Idee des Wirtschaftens zu reagieren: mit einer Ökonomie des Gemeinsamen, die auf Demokratisierung der Wirtschaft setzt und die gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Kooperativen und Genossenschaften fördert.

Bei der sozialökonomischen Wende geht es um mehr und um weniger als Kapitalismuskritik. Um weniger, weil die konkreten Schritte notwendigerweise unter dem Anspruch einer Überwindung des Kapitalismus bleiben werden. Und um mehr, weil diese Reformen Teil eines Prozesses zur Stärkung von Produktions- und Eigentumsformen sind, die über den Kapitalismus hinausweisen und ein postkapitalistisches Morgen ermöglichen.

Schwarz-Grün wäre eine Sackgasse

Vor allem bei den Grünen gib es jedoch viele, die auf ein Bündnis mit der Union statt auf eine linke Mehrheit setzen. Doch bei Schwarz-Grün blieben die systemischen Ursachen unangetastet. Wirksamer Klimaschutz geht nur mit Mitte-Links, denn er erfordert die Bereitschaft, sich mit Konzernen anzulegen. Immerhin gehen zwei Drittel aller CO2-Emmissionen auf das Konto von 100 großen Konzernen. Hinzu kommt: Wenn sich die Menschen zwischen ihren materiellen Sorgen am Monatsende und der Angst vor dem Weltende entscheiden müssen, wird nichts Gutes dabei herauskommen. Damit Klimaschutz auch nachhaltig Rückhalt in der Bevölkerung hat, muss er Hand in Hand mit mehr sozialem Schutz gehen.

Um diese Mehrheiten links der Union zu ermöglichen, gilt es, jene zu begeistern, die schon jetzt Lust auf Veränderung haben. Und jene zu erreichen, denen das heute noch Sorgen macht, weil Veränderung für sie bisher hieß, etwas zu verlieren – den Job, Sicherheit oder Anerkennung. Solche Sorgen werden SPD, Grüne und Linke nur zerstreuen können, wenn sie offensiv für ein Bündnis werben und die Möglichkeiten aufzeigen, die damit verbunden sein können. Eine wirkliche Transformation lässt sich nicht durch die Hintertür erreichen, wie das manch ein Sozialdemokrat oder Grüner hoffen mag. Wir müssen gemeinsam für ein politisches Projekt stehen, das Hoffnung macht.

Wir brauchen Unterstützung aus der Gesellschaft

Ein solches Projekt kann allerdings nicht den Parteien allein überlassen werden. Wir brauchen einen progressiven Ruck aus unserer Gesellschaft.

Es braucht starke Stimmen aus sozialen Bewegungen, Verbänden, Gewerkschaften und Kirchen, die ein Parteienbündnis motivieren, auch herausfordern und zu Standfestigkeit zwingen. Denn das muss man immer sagen: Wer Machtverhältnisse verändern will, wird viel Gegenwind erfahren und viel Durchhaltevermögen brauchen.

Wir können in den nächsten Jahren Zeugen von sich verschärfenden Krisen bis hin zum Klimakollaps und einer autoritär-nationalistischen Aufweichung unseres demokratischen Gemeinwesens werden. Oder wir gehen die Ursachen der Krisen an und stellen dem entfesselten Markt eine neue Ökonomie des Gemeinsamen entgegen.

Neue linke Mehrheiten könnten ernst machen mit einer Politik des Friedens und des Klimaschutzes, damit wir alle eine Zukunft haben. Eine Regierungsalternative, die damit beginnt, alle vor Armut zu schützen und die Mitte besser zu stellen.

Neue linke Mehrheiten stellen der Rechten die Kraft der Solidarität entgegen. Auf dass alle ohne Angst anders sein können und zugleich das Gemeinschaftliche wachsen kann. Also: Nutzen wir den Augenblick, nutzen wir das Momentum.“