Der Traum der Kurden: Rojava | ARTE Reportage

Berliner Zentrum für kurdische Öffentlichkeitsarbeit

Der Traum der Kurden: Rojava | ARTE Reportage – 29. Oktober 2019

Ende März 2019 konnten die Kurden mit Unterstützung durch US-amerikanische Luftschläge die letzte Bastion des so genannten „Islamischen Staates” befreien. Für die Zeit nach dem Krieg haben alle am Konflikt in Syrien beteiligten Parteien eigene Pläne. Was aber wollen die Kurden in Rojava (wie sie ihr Gebiet in Nordsyrien nennen)?

2013 hatten sie die Kontrolle über ihr Gebiet übernommen und eine Selbstverwaltung aufgebaut. Verschiedene Volksgruppen und Religionen wollen hier zusammenleben, das Land in Eigenregie verwalten und die Gleichstellung von Mann und Frau durchsetzen. Aber ihr gesellschaftliches Experiment war von Anfang an bedroht. Vor allem die Türkei will ein unabhängiges Kurdengebiet verhindern und drohte immer wieder mit militärischen Schritten. Der Abzug der Amerikaner aus Nordsyrien und der Einmarsch der türkischen Armee hat nun eine neue Runde im Syrienkrieg eingeläutet.

Vor einem Jahr konnte ein Reporterteam durch Rojava reisen und sich ein eigenes Bild von der Situation machen: Der Film stellt unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen Aufbruchs aus Sicht der Kurden vor. Wie weit sind sie gekommen mit ihrem Experiment einer direkten kommunalen Demokratie und der Gleichstellung der Geschlechter?
Die Reise durch Rojava ist auch eine Wiederbegegnung mit Menschen und Orten, die die Reporter wenige Jahre zuvor während des Krieges besucht hatten. In der Stadt Kobanê, wo die Kurden 2014 monatelang den Angriffen der IS-Terrormiliz standhielten, erinnert wenig daran, dass sie einmal vollkommen in Trümmern lag.

Friedrich Merz: „Wir haben in Deutschland 2,5 Millionen Arbeitslose auf 1,9 Millionen offene Stellen – da funktioniert der Arbeitsmarkt nicht“

„Da funktioniert der Arbeitsmarkt nicht“: Diese Folgerung, die Friedrich Merz aus der Gegenüberstellung der Zahl der Arbeitslosen (2,5 Mio.)  und der offenen Stellen (1,9 Mio.) zieht, ist nichtssagend und banal.  Merz macht „den Arbeitsmarkt“ – wer auch immer das sein soll – als Verantwortlichen aus – für die „Nicht-Ausschöpfung“ der „Potenziale, die wir schon jetzt haben“.  Jetzt könnte man natürlich sagen: besser „dem Arbeitsmarkt“ den Schwarzen Peter zuschieben als „den Arbeitslosen“. Richtig. Aber wenn man „den Arbeitsmarkt“ doch etwas konkreter macht, dann sind das die Anbieter von Arbeitskraft und die Nachfrager nach dieser Arbeitskraft.

Zur Seite der Anbieter bzw. Nicht-Anbieter von Arbeitskraft: In der Blockade des Bürgergeldgesetzes  hat die CDU dafür gesorgt und kräftig selbst daran mitgewirkt, dass die Rede vom Sozialstaat als sozialer Hängematte für Arbeitsscheue wieder mal in die Öffentlichkeit gespült wurde. Der leitende Spiegel-Redakteur Alexander Neubacher witterte eine „Verhöhnung der Arbeit“, der CSU-Chef Markus Söder sprach vom „Schlag ins Gesicht aller Arbeitnehmer“ und der CDU-Generalsekretär Mario Czaja behauptete, das Bürgergeldgesetz schädige „die Motivation der Arbeitslosen“, sich eine Arbeit zu suchen.

Über die Seite der Nachfrager nach Arbeitskraft lesen wir weniger in der Presse. Das fängt schon damit an, dass „die Arbeitslosen“, 2,5 Millionen an der Zahl, häufig – mangels der notwendigen Differenzierung und Aufschlüsselung – als große, anonyme Masse empfunden werden.

1,03 Millionen dieser anonyem Masse waren 2021 sog. „Langzeitarbeitslose, Menschen, die zwölf Monate oder länger arbeitslos sind. Ihre Zahl ist  erstmals seit 2014 wieder gestiegen.

Auf der Website Sozialpolitik-aktuell der Universität Essen finden sich interessante Texte, Analysen und Studien zum Thema „Arbeitslosigkeit“, etwa den IAB-Kurzbericht 17/2022 mit dem Titel „Langzeitarbeitslosigkeit aus betrieblicher Perspektive – Betriebliche Vorbehalte gegenüber Langzeitarbeitslosen sinken leicht in Krisenzeiten“ – 

Zusammenfassend wird in diesem Kurzbericht festgestellt:

Der Anteil der Betriebe, die Bewerbungen von Langzeitarbeitslosen im Einstellungsprozess grundsätzlich berücksichtigen, lag im Jahr 2021 bei rund 39 Prozent.

54 Prozent der Betriebe geben an, dass eine Besetzung offener Stellen mit Langzeitarbeitslosen für sie generell nicht infrage kommt. Ein entscheidender Hinderungsgrund scheint hierbei die Unsicherheit hinsichtlich des Leistungsvermögens der langzeitarbeitslosen Personen zu sein. Denn rund 55 Prozent dieser Betriebe würden im Einzelfall Langzeitarbeitslose berücksichtigen, wenn eine Empfehlung über private oder berufliche Kontakte erfolgen würde.

Bei gegebenen Stellenangeboten steigt die betriebliche Bereitschaft zur Berücksichtigung von Langzeitarbeitslosen in Rezessionen leicht an. Das liegt unter anderem daran, dass das mit Langzeitarbeitslosigkeit verbundene Stigma aufgrund einer generell höheren Arbeitslosigkeit in Krisenzeiten geringer ausfällt.“

Aha. (Nur) vier von zehn Betrieben berücksichtigen die Bewerbungen grundsätzlich – das heißt aber noch nicht, das – bei entsprechender Bewerber*innen-Lage – Langzeitarbeitslose dann auch zum Zug kommen.

Erweitert wird der Blick durch das, was der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Sell auf seiner Website am 20.2.2022 schreibt:

Stefan Sell  titelt. Corona-Verlierer auf dem Arbeitsmarkt: Langzeitarbeitslose:

„Gerade wenn sich überall die Meldungen über die Rückkehr zu einer „Normalität“ der Vor-Krisen-Zeit auf dem Arbeitsmarkt häufen, lohnt ein genauerer Blick hinter die Kulissen, denn bekanntlich gibt es in derart komplexen Systemen wie den heutigen Arbeitsmärkten Nicht-Betroffene von krisenhaften Entwicklungen, Gewinner und eben auch Verlierer, die oftmals, wenn man nur auf großen Zahlen schaut, in der Schattenwelt der Nicht-Beachtung hängen bleiben.

»Gute Nachrichten auf dem Arbeitsmarkt: Das Vorkrisenniveau ist fast wieder erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Januar nur knapp 40.000 über dem Stand von Januar 2020.« In den zurückliegenden zwei Corona-Jahren gab es zwischenzeitlich 600.000 Arbeitslose mehr als zur Zeit vor der Krise.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat aber bereits in der Überschrift Wasser in den Wein gegossen: Arbeitsmarkt: Gewinner und Verlierer der Krise. Zu den Verlierern gehören nicht nur Minijobber und Selbstständige: »Vor allem gibt es deutlich mehr Langzeitarbeitslose als früher. Im vergangenen Monat zählte die Bundesagentur für Arbeit noch 270.000 mehr Langzeitarbeitslose als im Januar 2020.« Auch die Bundesagentur für Arbeit selbst schreibt in ihrem Arbeitsmarktbericht für Januar 2022: »Die Corona-Krise hat zu einer deutlichen Verfestigung der Arbeitslosigkeit geführt. Im Vergleich mit dem Monat vor Einsetzen der Corona-Krise, dem März 2020, hat die Zahl der Langzeitarbeitslosen, also der Personen, die länger als 12 Monate arbeitslos waren, um 281.000 oder 40 Prozent auf 990.000 zugenommen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist in diesem Zeitraum von 30,3 auf 40,2 Prozent gestiegen.«

Lesenswert ist auch, was der DGB (Abteilung Arbeitsmarktpolitik) in senem Info Nr. 1 / Februar 2022 zur „Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit während der CoronaKrise“ schreibt:

Handlungsbedarf zeigt sich vor allem im Bereich der Weiterbildung. Denn: 66
Prozent des Anstiegs der Langzeitarbeitslosen gegenüber dem Vorkrisenniveau sind
auf Personen ohne Berufsausbildung zurückzuführen. Auch bei den Arbeitslosen im
Anforderungsniveau „Helfer“ gab es einen starken Anstieg.

Langzeitarbeitslosigkeit zeichnet sich durch vielfältige Lebenssituationen aus. Das
gilt sowohl für den Zeitraum vor als auch nach Eintritt der Corona-Pandemie. Es
kann daher keine Patentlösung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit geben,
sondern bedarf individueller und bedarfsgerechter Lösungsansätze.

Für Langzeitarbeitslose gestaltet sich der Weg zurück in den Arbeitsmarkt besonders
schwierig. Laut Daten der BA waren sie während der Pandemie mit besonders
geringen Abgangschancen konfrontiert und nur ein Bruchteil der
Langzeitarbeitslosen hat einen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt geschafft.


Von den nahezu 980.000 Langzeitarbeitslosen im Dezember 2021 fallen knapp 88
Prozent unter den Rechtskreis SGB II. Aber auch im Rechtskreis SGB III ist die Zahl
der Langzeitarbeitslosen merklich angestiegen. Es zeigt sich dementsprechend vor
allem im Rechtskreis SGB II, aber auch im SGB III Handlungsbedarf. Es bedarf hier
insbesondere der Verhinderung von Wechseln aus dem Versicherungssystem in die
Grundsicherung mit Bedürftigkeitsprüfung.

Als wesentliche Gründe für die Verfestigung gelten neben mehr Entlassungen und
weniger Beschäftigungsaufnahmen auch die geringere Zahl an Maßnahmen der
aktiven Arbeitsmarktpolitik.


Der DGB fordert von der Bundesregierung die schnelle Umsetzung wirksamer
Maßnahmen, um die bestehende Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen und drohende
Übertritte in die Langzeitarbeitslosigkeit sowie Rechtskreiswechsel frühzeitig zu
verhindern. Der DGB begrüßt daher die vorgesehenen Verbesserungen im
Koalitionsvertrag zu den Weiterbildungsförderungen für Arbeitslose sowie die
Verbesserung des Betreuungsschlüssels in den Jobcentern.“


Samira El Ouassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen – taz Talk meets Buchmesse Frankfurt

Friedemann Karig: Wie wir lieben. Die sexuelle Revolution 2.0

Wirkungsvolle Protestformen – Warum die „Letzte Generation“ alles richtig macht

Quelle: Übermedien –   Friedemann Karig – November 2022

Wirkungsvolle Protestformen

Warum die „Letzte Generation“ alles richtig macht

1: Was nicht sein kann

Der Mensch weiß zu viel, über sich und die Welt. Selbst unsere eigene Endlichkeit ist uns schmerzlich klar. Einer der wichtigsten Mechanismen unserer Psychohygiene ist deshalb die Verdrängung. Würden wir bei jedem Spaziergang ausführlich bedenken, überfahren werden zu können, wären wir gelähmt vor Angst – und blieben zu Hause. Ebenso normal scheint es, jenes wissenschaftlich belegte Szenario, als Spezies milliardenfach in Tod und Elend zu laufen, im Alltag auszublenden. Wir müssen unser Leben heute leben, egal was in 20 oder 200 Jahren mit der Welt passiert. Der Alltag geht schließlich weiter, auch wenn er unsere Normalität früher oder später zerstören wird.

In diesen Wochen erleben wir vielleicht den Anfang vom Ende einer immensen kollektiven Verdrängungsleistung. Als vorvergangene Woche die Aktivistin Carla Rochel bei Markus Lanz saß, hatte der Diskursaufbruch seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: „Wie sollte ich denn sonst mit meinen 20 Jahren hier sitzen“, sagte sie, „und über die Klimakatastrophe debattieren können, wenn wir nicht [den Alltag] unterbrechen würden? Und ich weiß, dass das unangenehm ist, weil wir Tag für Tag auf die Straße oder in die Museen tragen, was wir alle so gerne ignorieren würden.“

Nur der Konjunktiv stimmt in diesen Sätzen nicht: Die meisten von uns ignorieren sehr erfolgreich und seit langem die Realität des drohenden Klimakollaps. Doch spätestens in diesem Moment musste man feststellen: Die „Letzte Generation“ hat ihre Themen, Anliegen und Persönlichkeiten mit wenig Budget innerhalb kürzester Zeit in die breite Öffentlichkeit gebracht. Über sie und ihre Schwesterorganisationen „Extinction Rebellion“ und „Just Stop Oil“ wurde so groß berichtet wie über kaum eine Gruppierung der vergangenen Jahre. Die Videos erreichten hunderte Millionen Abrufe, die „New York Times“ kommentierte, Staatschefs äußerten sich. Wer mir ein Beispiel eines quantitativ effizienteren Protests zeigt, bekommt einen unversehrten Monet.

Die qualitativen Reaktionen jedoch waren forsch bis feindlich: Man warf den Aktivist:innen Totschlag vor, stellte sie mit Terrorist:innen gleich, belehrte und beleidigte sie. Die Springer-Presse fuhr eine typische Hetzkampagne rund um den skrupellos instrumentalisierten Fall einer von einem Betonmischer überfahrenen Radfahrerin („Das ist auch eure Schuld, ihr Klimakleber“). Doch selbst in Qualitätsmedien wie dem Deutschlandfunk mussten sich Aktivist:innen schon der Schuldfrage stellen, bevor der Hergang gesichert war.

Es fanden sich genug, die mithetzten: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff twitterte vom „ersten Todesopfer“ der „Letzten Generation“, sogar Innenministerin Nancy Faeser („jede Grenze legitimen Protests überschritten“) und Justizminister Marco Buschmann sprangen mit Vorverurteilungen und Abwertungen („Dummheit“) bei. CSU-Landesgruppenleiter Dobrindt warnte vor der „Klima-RAF“, und Reinhard Müller soufflierte in der FAZ: „So kann Terror beginnen – und bei Gruppen mit anderen Zielen wäre das längst benannt worden und ein großes neues Kapitel im Verfassungsschutzbericht aufgeschlagen“.

„In Bezug auf die Klimaaktivistinnen und -aktivisten scheint keine Beschreibung zu krass und keine Bestrafungsfantasie zu haarsträubend zu sein“, schrieb Sophie Garbe im „Spiegel“ und beobachtete eine enorme „Aggressivität und Enthemmung“ in der Debatte. Die „Bild“-Zeitung fantasierte schließlich von Selbstjustiz: „Abreißen von selbst festgeklebter Haut dürfte ohne Weiteres in Kauf zu nehmen sein“, folgerichtig tauchen immer wieder Videos von gewalttätigen Übergriffen auf.

Ein Lehrstück an Feindbildpflege – von der statistischen Erfassung in den Berliner Behörden, die Verkehrsbehinderungen nur bei Klimaprotesten ganz genau dokumentieren, bis zu unzähligen Hasskommentaren und Morddrohungen im Netz. Ein Hauch von 1968 weht durch den Diskurs, als Springer mit Hilfe der rechten und konservativen Milieus so lange Stimmung gegen die Student:innen machte, bis Schüsse fielen.

Doch auch aus dem wohlmeinenden Lager der Linken und Progressiven wurde den Protestierenden – von prominenten Grünen wie Cem Özdemir bis Renate Künast, von Klimaforscher Mojib Latif bis Kulturstaatsministerin Claudia Roth, von SZ bis „Zeit“ – erklärt: Das geht nach hinten los. Die intuitive Abneigung, mit der besonders auch das linksliberale Feuilleton reagierte, verdichtete sich am absurdesten in einem Walter-Benjamin-Zitat von Autor und Kunstkenner Florian Illies: Er schrieb vom „Irrtum des Aktivismus“. Den hatte Benjamin 1932 in einem Essay einigen überheblichen Schriftstellern der späten Weimarer Republik unterstellt, weil die völlig realitätsfremd eine Herrschaft der Intellektuellen einführen wollten – also in Thema und Kontext das Gegenteil des zu besprechenden Aktivismus. Vielleicht ein Versehen, aber symptomatisch für das empörte Desinteresse, mit dem dieser Protest bedacht wurde.

In den sozialen Medien lief es nicht besser. Die Gegenargumente reichten von „dafür wird Essen verschwendet“ bis zu „jetzt redet keiner mehr über andere Proteste“ und „die volkswirtschaftlichen Schäden der Blockaden sind zu hoch“, angesichts von 30 Milliarden Aufbauhilfe im Ahrtal eine interessante Rechnung. Dass 2020 auf dem Höhepunkt der Corona-Proteste eine tatsächlich hochgradig zerstörerische Anschlagserie von Rechtsextremen, die der Koch Attila Hildmann im Kampf gegen „Satanismus“ angestachelt hatte, beinahe unbemerkt vorüber ging, zeigt, wie selektiv die Empörung anspringt.

Viele solcher Widersprüche brachte der Protest an die Oberfläche: „Kunst ist wie Kinder“, sagte ein Museumsdirektor, der befragt wurde. Sie müsse Tabu sein, unbedingt schützenswert – ohne zu merken, dass die echten Kinder aus Fleisch und Blut gerade um ihre sichere Zukunft fürchten.

Niemand rede über ihre Forderungen, schallte es den beiden Frauen von „Just Stop Oil“ entgegen, die Tomatensuppe in Richtung eines Van Gogh warfen, was lustig war, denn ihre Forderung steht im Namen, und der wurde hundertmillionenfach wiederholt. Dennoch zeigten sich auch viele derer, die sich mehr Debatte rund ums Klima wünschen, öffentlich skeptisch, ob dieser Protest sich nicht ausschließlich selbst zum Thema mache.

Am vergangenen Sonntag sah sich Aktivistin Carla Hinrichs bei „Anne Will“ mit ähnlichen Anwürfen konfrontiert und bekam gleichzeitig mehrmals die Gelegenheit, niemand geringerem als dem Bundesjustizminister live zur besten Sendezeit den Klimaschutz-Rechtsbruch seiner Regierung anzukreiden. Ihre Kollegin Aimée van Baalen erklärte bei anderer Gelegenheit, was überall zu bezeugen war: dass eine Verhandlung der Legitimität des Protests gar nicht stattfinden kann, ohne die von ihm als Hebel seiner Legitimation herangezogene drohende Katastrophe ebenso zu diskutieren.

Neben einer gewissen Analysefaulheit der Wirkung stach vor allem der nachhaltige mediale und politische Unwillen heraus, die Proteste fehlerfrei abzubilden. Noch Wochen nach den Aktionen in Museen sprach, nur ein Beispiel von vielen, der Liberale Gerhart Baum zwar vom „dummen Zeug“ des RAF-Vergleichs, aber auch von „Barbarei“ der „Zerstörung von Kunstwerken“, obwohl nach wie vor kein einziges Kunstwerk Schaden genommen hatte. In der „Zeit“ schrieb Florian Eichel stur von „Angriffen auf die Kunst“ und damit auch „auf die Freiheit und Demokratie“, um Klimaschutz an sich am Ende wiederum als „Kunst“ einzustufen, da er nur von Eliten betrieben würde.

Es brauchte Wochen, bis eine Headline des Radiosenders FM4 die Wirklichkeit korrekt formulierte: „Schutzscheibe vor Klimt-Gemälde mit ‚Öl‘ beschmiert“ – auch wenn im Text dann schon wieder davon die Rede war, das Gemälde selbst sei beschmiert worden.

Ein ganzer Diskurs schien einem Prank auf den Leim gegangen, aber nicht nur für einige Schocksekunden, in denen man einen Klimt für immer zerstört sieht, sondern wie Kinder, die noch Wochen nach dem Horrorfilm unterm Bett nachschauen, ob der böse Klimaclown dort haust. Dieser Protest scheint eine Sehnsucht nach Eskalation auszulösen, als würden sich manche fast wünschen, dass wirklich ein Kunstwerk beschädigt wird, damit endlich klare Verhältnis herrschen.

Dass hier nicht die Kunst angegriffen wird, sondern im Gegenteil, wie die Aktivist:innen auch erklärten, ihr Schutz eingefordert wurde, würde man verstehen, wenn man ihnen zuhörte. Dass nur ein ökologisch intaktes System überhaupt erst die Existenzbedingungen – Wohlstand, Frieden, Sicherheit und so weiter – für Kunst und ihre Rezeption zu erzeugen vermag, scheint banal. Markus Lanz versicherte in seiner Sendung: „Ich kenne Plätze in den Dolomiten, da kommt kein Wasser hin, da parken wir die Kunstwerke zur Not.“ Dann sprach er der Aktivistin Rochel die Liebe zur Kunst ab: „Wer so etwas tut, kann die Kunst nicht lieben.“ Das fasst die Haltung des feinsinnigen Bürgertums gut zusammen: Mit Kunst und Essen spielt man nicht, mit eurer Zukunft schon.

Schließlich gab sogar ein Mann, der bisher eher nicht mit Interesse am zivilen Ungehorsam auffiel, gratis Nachhilfe in aktivistischer Taktik: „Was hat das Werfen von Tomatensaft auf ein teures Kunstwerk (…) mit Klimaprotest zu tun? Was hat das Werfen von Brei auf ein schönes Gemälde mit Klimaprotest zu tun?“, fragte ein ratloser Olaf Scholz in einem Interview mit dem RND. Aus seiner Sicht nichts, so der Kanzler weiter. Der Protest sei „nicht richtig zu Ende gedacht“. Die Aktivist:innen sollten sich etwas anderes auszudenken, „das weniger aufregt“, sagte Scholz. Sehr lustig: der Kanzler des geräuschlosen Zauderns berät die Agenten des Aufruhrs.

Näher mit Theorie und Praxis dieser Protestformen auseinandersetzen mochte sich auch nach Wochen der Verhandlung kaum jemand. Zu genau wusste man, dass das alles nichts bringen kann. Und kam in einem gigantischen, medialen, performativen Widerspruch nicht umhin, den wohl formulierenden, wissenschaftlich argumentierenden, höflichen „Chaoten“ mehr und mehr Raum zu überlassen. Mit einem Bruchteil des Mobilisierungsaufwandes hatte man blitzschnell mehr Präsenz als die üblichen Demonstrations-Rituale. Am Ende saßen die Aktivist:innen bei Lanz und Maischberger und Will, wurden befragt und beschaut, geliebt und gehasst – aber in ihrer Strategie doch erstaunlich wenig ernst genommen.

Dabei und damit hatten sie nach dem Handbuch des disruptiven Protests alles, aber auch alles richtig gemacht. Protest ist kein Schönheitswettbewerb und keine Beliebtheitsgala, sondern ein Schlagen nach dem Alarmknopf. Und Halleluja, ist die Bundesrepublik nun alarmiert. Aber was kommt danach? Was kann man für den weiteren Klimadiskurs lernen? Ich glaube: Wir nähern uns einem entscheidenden sozialen Kipppunkt, dank dieser Proteste.

Hier den Teil 2 und 3 des Textes weiterlesen

Der Autor

Friedemann Karig schreibt Essays und Bücher. Sein Sachbuch „Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie“ erschien 2017 bei Blumenbar; 2019 folgte sein Romandebüt „Dschungel“ bei Ullstein, 2021 das Sachbuch „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen“ (mit Samira El Ouassil). Jeden Freitag bespricht Karig mit El Ouassil im Podcast „Piratensender Powerplay“ die Woche.