Quelle: ntv – 08.03.2022
Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“
Der russische Überfall auf die Ukraine ist steckengeblieben, nun droht der Zivilbevölkerung noch größeres Leid. Zugleich laufen Verhandlungen. Aber kann Russland noch ein Partner sein? Und wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf NATO-Gebiet oder gar eines Atomschlags? Der Experte für Sicherheitspolitik von der Universität der Bundeswehr in München, Frank Sauer, antwortet darauf im Interview.
ntv.de: Der Krieg dauert schon fast zwei Wochen. Hat sich das russische Militär blamiert?
Frank Sauer: Mit vorschnellen Schlussfolgerungen muss man vorsichtig sein, weil wir nur einen Ausschnitt des Geschehens sehen. Wir sehen vor allen Dingen das ukrainische Narrativ. Aber ich kann inzwischen schon mit Bestimmtheit sagen, dass Russland in verschiedenen Bereichen, auch im Militärischen, deutlich schlechter abschneidet als erwartet.
Manche sagen ja, da wird jetzt erst mal das alte Material vorgeschickt und irgendwann kommen die neuen Panzer. Gibt es dafür aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte?
Wir sehen überwiegend natürlich die Sachen, von denen Russland viel hat. Wir sehen T72-Panzer, den T80, wir sehen diese Schützenpanzer, die teils noch aus den 70er und 80er Jahren stammen. Von neuen Panzern wie dem T14 Armata hat Russland vielleicht zwanzig Stück – und ob davon überhaupt zehn fahren, geschweige denn gefechtsbereit sind, wage ich zu bezweifeln. Insofern überrascht mich das nicht, und es ist auch nicht so, dass da noch irgendwelche Hightech-Waffen in der Hinterhand gehalten werden.
Glauben Sie, dass es jetzt blutiger wird, dass Russland jetzt eine Taktik wie in Syrien anwendet?
Ich befürchte das, ja.
Kann man noch einschätzen, was Putin eigentlich erreichen will? Nüchtern betrachtet hat er nicht mehr viel zu gewinnen.
Ich sehe noch keinen Anlass, davon auszugehen, dass Putin etwas anderes will als das, was er von Anfang an kommuniziert hat. Ich gehe davon aus, dass er die territoriale Integrität der Ukraine, die Souveränität der Ukraine und die Ukraine als eigenständiges Land beseitigen will. Dazu muss er die Selenskyj-Regierung beseitigen und eine Regierung installieren, auf die er direkten Einfluss nehmen kann. Dass er dieses politische Ziel, selbst wenn er militärisch auf lange Sicht gewinnen sollte, auf keinen Fall mehr erreichen kann, scheint ihn bisher nicht weiter zu irritieren. Das ist zumindest das, was man von außen konstatieren kann.
Am Donnerstag sollen sich die Außenminister der Ukraine und Russlands treffen. Was erwarten Sie davon?
Nicht viel. Ich glaube, dass Russland weiterhin auf seiner Maximalforderung beharren wird. Im Prinzip verlangt Russland ja die vollständige Kapitulation der Ukraine und eine Verhandlung nach russischem Diktat. Dazu scheint mir Putin auf militärischem Wege die Verhandlungsbedingungen zu seinen Gunsten verändern zu wollen. Wenn das gelingt, muss die Ukraine unter Umständen irgendwann Konzessionen machen. Aktuell sieht es nicht so aus, als ob die Ukraine das möchte, und so bleiben diese Verhandlungen festgefahren. Russland verlangt im Prinzip die totale Selbstaufgabe. Nachvollziehbarerweise weigert sich die Ukraine und wehrt sich vehement.
Kann Russland überhaupt noch ein Verhandlungspartner sein? Man braucht doch eigentlich ein Mindestmaß an Vertrauen.
Ich komme ja eigentlich aus der Rüstungskontrolle und habe im Kleinklein so die Schwierigkeiten miterlebt, die Russland der internationalen Gemeinschaft oder zumindest westlichen Verhandlungspartnern in den letzten paar Jahren bereitet hat.
Das Vertrauen, das man über bestimmte Rüstungskontrollinstrumente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat aufbauen können, ist mit dieser Invasion Putins nahezu vollständig verpufft. Wir werden über Jahre und Jahrzehnte vermutlich unter großer Mühe hoffentlich wieder an einen Punkt kommen, wo wir Vertrauen zurückgewinnen können, um Risiken für alle Beteiligten kollektiv zu reduzieren. Niemand will wieder in so eine ultra-angespannte Kalte-Kriegs-Situation zurück, wo sich zwei völlig unversöhnliche Blöcke gegenüberstehen und sich permanent mit der nuklearen Eskalation bedrohen.
Nur eins ist klar: Putin hat uns da um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insbesondere Westeuropa entwickelt deswegen jetzt ganz andere Positionen und nimmt dafür zu Recht auch die eigene Wehrhaftigkeit viel stärker in den Blick.
Haben Sie eine Vorstellung, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte?
Es sind verschiedene Varianten denkbar. Etwa eine Konsolidierung der Spaltung der Ukraine. Über den Süden kommt Russland ja noch am besten voran. Und wenn Odessa unter russische Kontrolle gerät und ein oder zwei weitere Städte im Süden und es eine Landbrücke von der Krim in den Osten der Ukraine gibt, dann könnte man schon davon ausgehen, dass das schwer zurückzudrehen sein wird.
Wenn zusätzlich auch noch Kiew fällt, dann ist natürlich noch eine neue Variante möglich. Dann hätte man eine Teilung des Landes, die viel weiter westlich läge als an der Grenzlinie zu den Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Es ist aber auch möglich, dass das System Putin implodiert und der Krieg auf diese Weise endet. So könnte die Ukraine sich dann möglicherweise gänzlich vom russischen Einfluss befreien. Ich kann nicht in die Glaskugel gucken. Zurzeit rechne ich auf jeden Fall nicht damit, dass der Krieg sehr bald endet. Ich glaube, dass Putin an seinen militärischen Zielen festhält und diese langsam, deutlich langsamer als von ihm selbst erwartet, aber stoisch weiterverfolgen wird. Mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine.
Halten Sie einen Angriff Russlands auf NATO-Gebiet für realistisch?
Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für wahrscheinlicher, dass Russland versucht, im Cyberraum Nadelstiche zu setzen. Denkbar ist aber ein versehentlicher Angriff. Dass ein Konvoi mit Waffenlieferungen beschossen wird. Oder dass ein russisches Flugzeug versehentlich in den Luftraum eines baltischen Staates eindringt. Diese Gefahr ist absolut real. Mit einem gezielten konventionellen Angriff auf NATO-Territorium rechne ich nicht, weil Putin keinerlei Geräusche in diese Richtung gemacht hat. Nachdem was ich weiß, zeichnet sich auch auf dem Boden dahingehend nichts ab. Vielleicht nicht zuletzt auch, weil die NATO ja sofort reagiert und ihre Kräfte in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten verstärkt hat.
Wie schätzen Sie das ein, dass Putin die „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft versetzt hat? Ein Atomschlag wäre doch Selbstmord, oder?
Na ja, das hängt sehr davon ab. Seine Äußerung war eindeutig erstmal nur ein politisches Signal. Mit Blick auf die tatsächlichen Bewegungen im nuklearen Apparat in Russland gibt es keinerlei besonderen Vorkommnisse, die vermuten ließen, dass da etwas vorbereitet wird oder irgendwie eine Alarmstufe in nennenswerter Weise erhöht worden wäre. Es sind ein paar U-Boote ausgelaufen, aber auch wieder welche zurückgekommen. Es sind ein paar mobile ballistische Interkontinentalraketen in den Wald gefahren, aber das könnte durchaus eine normale Rotation sein. Nichts hat sich da zahlenmäßig dramatisch erhöht.
Es deutet nichts darauf hin, dass man da in einem überschaubaren Zeitraum mit irgendetwas Atomarem auf dem Gefechtsfeld rechnen müsste. Insofern kann man Putins Botschaft aktuell einfach nur zur Kenntnis nehmen. NATO und US-Administration haben das getan und ganz richtig reagiert, also es gelassen hingenommen und nicht etwa mit gleichen Mitteln erwidert. Putin hat eben auf sein Nukleararsenal gezeigt und gesagt: Das vergesst ihr bitte nicht bei all euren Sanktionen und bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Und von einem Schlagabtausch mit strategischen Atomwaffen sind wir sicher noch weiter entfernt. Auch Putin weiß: Wer als Erster schießt, ist als Zweiter tot. Gerade als jemand, der sich schwerpunktmäßig mit diesen Fragen beschäftigt, raubt mir das aktuell keinen Schlaf. Die Lage der Zivilbevölkerung macht mir die größeren Sorgen.
Viele Experten sagen, am Ende werde sich Russland durchsetzen. Ist der Widerstand der Ukrainer da überhaupt sinnvoll?
Das haben nicht wir zu entscheiden. Das entscheidet die Ukraine. Wir haben lange genug immer nur über deren Köpfe hinweggeredet. Wenn die Ukraine kämpfen will, und zur Selbstverteidigung hat sie jedes Recht, dann kann und muss man sie nach Kräften unterstützen. Aber das jetzt von außen zu beurteilen und nach dem Motto: „Ergebt euch doch lieber! Dann wird es auch nicht so schlimm.“ Nein, das ist nicht meine Haltung.
Mit Frank Sauer sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de
Dr. Frank Sauer lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ diskutiert.