Quelle: SPIEGEL 26.10.22
Aufgezeichnet von Jan Petter –
Proteste in Iran »Viele der Verletzten haben inzwischen Angst, den Notruf zu wählen«
Sie studiert in Deutschland, wollte nur ihre Familie in Teheran besuchen – und geriet mitten in die blutigen Proteste. Hier erzählt eine 27-jährige Iranerin, was sie bei dem Kampf der Frauen erlebt hat.
Wenn Parisa Sadeghi spricht, reibt sie sich manchmal die Augen. So, als müsste sie kurz innehalten, sich orientieren, oder vor Müdigkeit wieder konzentrieren. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in einer deutschen Großstadt, draußen vor dem Fenster laufen ältere Männer mit Dackeln vorbei. Drinnen, in einer unauffälligen Wohnung, stehen schwarzer Tee und ein Teller Kekse auf dem Tisch, an der Wand hängt ein Bild von Schopenhauer. Es ist keine zehn Tage her, da stand Sadeghi in Teheran in der Mitte eines Kreisverkehrs und rief »Frauen! Leben! Freiheit!« Es ist der Schlachtruf der aktuellen Proteste.
Seitdem am 16. September die Studentin Jina Mahsa Amini in Obhut der iranischen Sittenpolizei starb, kommt das Land nicht zur Ruhe. Das Regime unterdrückt sämtlichen Widerstand mit Gewalt, selbst auf Kinder und Jugendliche wird jetzt geschossen, laut NGOs starben bislang mehr als 200 Menschen. Detaillierte Berichte von vor Ort sind nur schwer zu bekommen. Ausländische Journalisten werden nicht ins Land gelassen, soziale Netzwerke und Internetseiten immer stärker zensiert – und viele Menschen haben Angst zu sprechen.
DER SPIEGEL hat in den vergangenen Tagen mithilfe von Verschlüsselungssoftware, Sprachnachrichten und am Telefon bereits mehrere Berichte aus dem Land veröffentlicht, die Anatomie des Aufstands ausführlich erklärt. Parisa Sadeghi kann diese Geschichten mit ihrer eigenen Perspektive ergänzen, die eine besondere ist: Als eine von wenigen Protestierenden befindet sie sich in Sicherheit, sie kann frei und in Ruhe über ihre Erfahrungen in den vergangenen Wochen in Iran berichten. Nachprüfen lassen sich ihre Berichte nicht, sie decken sich jedoch mit den Beschreibungen anderer Gesprächspartnerinnen. Zu ihrem eigenen Schutz ist ihr Name dennoch geändert.
Anatomie des Aufstands in Iran: »Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass dieses Land uns gehört«
»Ich bin Ende September nach Iran gereist, um meine Familie zu besuchen. Meine Eltern sind dort, die ganze Familie lebt in Teheran, auch Freunde. Als ich landete, war Jina Amini keine Woche tot. Schon auf dem Weg in die Stadt waren überall Graffiti gegen das Regime zu sehen, viele Frauen liefen ohne Hidschāb durch die Straßen. Früher wurde die Kopftuchpflicht selbst in Autos mit Kameras kontrolliert. Wer erwischt wurde, musste ein Bußgeld zahlen. Jetzt ignorieren viele Frauen die Mahnungen einfach. Noch am ersten Abend bin ich auf die Straße.«
Parisa Sadeghi ist 27. Sie gehört einer Generation an, die mit Protesten gegen das Regime aufgewachsen ist. Es ging um gefälschte Wahlen, Grundrechte, die wirtschaftliche Not. Jetzt geht es um all das zusammen, ganz besonders aber die Rechte von Frauen. Ihr Freund stammt ebenfalls aus Iran. Zu Beginn des Gesprächs fragt er höflich, ob er sich dazusetzen dürfe. Während der folgenden drei Stunden wird er nicht viel sagen, meist nur interessiert zuhören. Er ist studierter Ingenieur, in Deutschland hat er sich einer feministischen Gruppe angeschlossen, er sagt, die Lage in seinem Heimatland habe ihn politisiert.
»Mein Freund sagt immer: Das iranische Schiitentum ist das beste Programm, um Menschen zu Atheisten zu machen. Ich denke, es gibt wenige islamische Länder, in denen so viele Menschen den Glauben aufgeben wie in Iran. Wir sehen wie im Alltag jedes Unrecht mit der Religion begründet wird. Wir sehen, wie damit gelogen wird. Wie soll man da noch ehrlich religiös sein? Als ich neun war, sagte mein Vater zu mir: Ich glaube nicht mehr an Gott. Als ich elf war, brachte man mir bei, dass ich den Hidschāb tragen muss. Mit 17 spürte ich zum ersten Mal Tränengas. Mit 18 bin ich dann fürs Studium ins Ausland. Ich wollte nicht abhauen, einfach nur leben. Iran ist auch heute noch mein Land.«
Sadeghi erzählt, wie ihre Mutter sie und ihren jüngeren Bruder zu den Protesten begleitet habe, um sie zu beschützen. Aber auch aus eigener Wut. Bereits am ersten Abend wurden sie mit Gummigeschossen attackiert, Frauen in der Nachbarschaft gewährten ihnen Zuflucht in ihren Wohnungen.