Quelle: Kontext – Ausgabe 476 – Von Gesa von Leesen – 13.5.2020
Querdenken an der Frontlinie
Während andere Veranstaltungen noch verboten sind, versammeln sich 10.000 Menschen auf dem Cannstatter Wasen: Friedensbewegte und Nazis, Freigeister und Geistfreie. Das durchmischte Publikum demonstriert für … Verschiedenes. Eine Maske trägt kaum jemand – bis auf Stargast Ken Jebsen, der sich unter einer Decke versteckt.
Die Trigger-Worte, bei denen die Menge an diesem sonnigen Samstagnachmittag am lautesten buht, sind: „Bill Gates“, „Impfen/Impfzwang“, „Merkel“, „gleichgeschaltete Medien“ – pfui! Am stärksten gejubelt wird bei Äußerungen wie „Wehren Sie sich“ und „Sie sind mutig“. RednerInnen, die das unterbringen, kommen deutlich besser an beim – ziemlich vielfältigen – Publikum. Einige DemonstrantInnen haben sich das Grundgesetz um den Hals gehängt. Manche sind nur gegen zu viele Einschränkungen, manche gegen alle. Viele sind gegen Bill Gates und gegen die Bundeskanzlerin. Es gibt eine gute Handvoll Deutschland-Fahnen, gehalten unter anderem von den AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Räpple und Christina Baum, die sich unter die Menge gemischt haben. Es flattern bunte Friedensfahnen, es werden Schilder in die Höhe gehalten mit „Stoppt Massentierhaltung“, „Angstfabrik Bundesregierung“, „Kein Impfzwang“, „Impfen – Nein Danke“, „Gib Gates, Soros, WHO, NWO, UNO, NATO, ID 2020 keine Chance“, „Wir wollen unser altes Leben zurück“, „Jesus rettet“ und viele mit „Kill Bill“, meist verbunden mit Gates‘ Konterfei. In den sozialen Netzwerken kursiert ein Bild, das Kameraden vom „Nationalen Widerstand“ mit Ordner-Binde zeigt. Neben der Bühne hängt sehr hoch ein Transparent: „Nie wieder Corona-Faschismus.“
Die AfD-Abgeordneten Stefan Räpple und Christina Baum (unter der Deutschland-Flagge) sind auch am Start.
Dass der Veranstalter, Michael Ballweg mit seiner Initiative „Querdenken 711“, zu so etwas kein Wort verliert, passt. Schließlich erklärt er, man sei gegen jede Form von Extremismus und Gewalt, stattdessen für Frieden, Freiheit und Demokratie. Eine Bewegung eben, die Meinungen zulasse und Schubladen wie links und rechts ignoriere. Weil Ballweg meint, Medien wie SWR, ARD und „Zeit Online“ hätten verzerrt über seine Demo berichtet, gibt er Interviews nur noch JournalistInnen, die sich schriftlich verpflichten, „wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig“ zu berichten und ihre Anschrift und Telefonnummer bei ihm hinterlassen. Verbunden mit der Bitte: „BRINGEN SIE DIE ERKLÄRUNG ZU DEN DEMOS MIT.“
Für die 7. „Mahnwache für das Grundgesetz“ ist Ken Jebsen angekündigt. Er ist gerade der Superstar der Corona-Maßnahmen-Kritiker, viele der TeilnehmerInnen – deutlich mehr Männer als Frauen – dürften vor allem seinetwegen gekommen sein. Höchstens 10.000 Demonstrierende hatte die Stadt Stuttgart genehmigt, damit der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern eingehalten werden kann. Der Veranstalter spricht von 20.000 TeilnehmerInnen. Gezählt wurden sie offenbar nirgendwo, die Polizei nennt jedenfalls keine Zahlen und groß kontrolliert wurde nicht, ob die Abstände auch eingehalten wurden. Als Richtlinie dienen Kreuze auf dem Boden, die signalisieren, wie viel Raum zu den Nebenstehenden gelassen werden soll. Das funktioniert stellenweise ganz gut, aber nicht durchgängig.
Die Hungerspiele des Merkel-Regimes
Sechs RednerInnen stehen auf dem Programm sowie ein paar musikalische Beiträge. Den Auftakt macht Stefan Homburg, Direktor des Instituts für öffentliche Finanzen an der Universität Hannover. Der Professor hat in den vergangenen Wochen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in Tageszeitungen und öfter in alternativen Medien erklärt, dass er die Corona-Maßnahmen falsch findet und für sehr überzogen hält. Das erklärt er nun noch mal. Die ganze „Panikmache“ sei Unsinn. Für den Volkswirtschaftler, der als Euro-Kritiker bekannt ist und der 2015 auf dem Bundesparteitag der AfD gesprochen hat, ist klar: „Es geht nicht darum, ihre Gesundheit zu schützen. Der Lockdown ist Zweck an sich geworden.“ Homburg fühlt sich vom Lockdown an die Hungerspiele aus der Dystopie „Tribute von Panem“ erinnert, findet die Maskenpflicht „irre“ und beklagt „im wesentlichen gleichgeschaltete Medien“ sowie „weitgehend korrumpierte“ Wissenschaftler. Dafür erntet er großen Applaus. Die politische Klasse habe „uns“ belogen, befindet Homburg, aber ganz loswerden will er sie nicht. Merkel, Spahn und Seehofer (sehr laute Buhs) müssten jedoch zur Verantwortung gezogen werden und abtreten.
In den vorderen Reihen, nah an der Bühne, kommt die Rede sehr gut an. Einzelne verfallen in geradezu hysterisches Kreischen wenn „Merkel“ erwähnt wird. Hier, weit vorne, stehen die Menschen am engsten und freuen sich am meisten, wenn es gegen die Regierung geht. Da man die Corona-Maßnahmen kritisiert, werden auf dem ganzen Platz nahezu keine Masken getragen (das macht nur Superstar Ken Jebsen bei seinem halb-heimlichen Abgang). In einiger Entfernung von der Bühne ist deutlich mehr Platz zwischen den Menschen. Hier lagern Familien und Pärchen mit Sicherheitsabstand. Eine ältere Dame in Kostüm und mit Perlenkette sitzt auf ihrem Klappstuhl, lauscht den Beiträgen. Bunt angezogene Frauen haben mit Kreide „Liebe“ auf die Erde geschrieben, an Kinderwagen hängen Schilder gegen das Impfen. Aber auch andere Gestalten treiben sich herum: eindeutig erkennbare Neonazis und Anhänger der vor allem in den USA beliebten QAnon-Verschwörung. Auch der wegen Volksverhetzung verurteilte Antisemit Nikolai Nerling, bekannt als der „Volkslehrer“, wird im Bühnenbereich gesichtet.
Dann tritt Wilfried Geissler auf, ein Hausarzt aus Stuttgart und bekannt durch seine Teilnahme bei den Protesten für Diesel und gegen Fahrverbote. Im vorigen Jahr kandidierte er bei der Wahl zur Stuttgarter Regionalversammlung für die AfD. So wie er Feinstaub und Co. nicht so schlimm fand, findet er nun auch Corona nicht so schlimm: „Ich würde lieber an Corona sterben als an einem schmerzhaften Bauchspeicheldrüsenkrebs.“ In Schweden sei alles besser, allerdings fände er es sogar noch besser, wenn es dort eine Maskenpflicht gäbe. Auch die nächste Rednerin, Krankenschwester Melanie, hat „den Eindruck, dass es gar nicht so schlimm ist. Mir geht es gut“. Sie plädiert für mehr Intuition, Objektivität, die Wahrheit und Transparenz. Einmal wird sie konkret: Man müsse weg von der Privatisierung von Krankenhäusern, denn sie fühle: „Es kann nicht richtig sein, mit Gesundheit Geld zu verdienen.“ Mittelstarker Applaus.
Putschartige Gesichtszüge
Auch Olav Müller, bis vor kurzem SPD, nun bei „Widerstand 2020“, kommt nur mittelprächtig an. Der Offenbacher ist offenbar heiser. Seine Stimme überschlägt sich, wird schrill und schwer verständlich. Sein Hauptthema: Demokratie. Die kommt ihm zu kurz und dafür führt er zum Beispiel die intransparenten Freihandelsverträge TTIP und CETA an. Und Corona? „Das hat putschartige Gesichtszüge! Lasst euch das nicht gefallen!“, schreit er. Der Applaus hält sich in Grenzen und brandet erst wieder auf bei – genau – der „Mediengleichschaltung“, die er „zum Kotzen findet“.
Es folgt Musik und der Auftritt von Sarah-Isabell Hellriegel-Rodriguez. Schwierig. Die junge Frau erzählt, sie sei in ihrer Kindheit Opfer von sexueller, physischer und psychischer Gewalt geworden und kommt über verschlungene Wege zu Kindern, die jetzt besonders gefährdet seien. Der Bezug zur Corona-Krise und zu Eingriffen in die zu verteidigenden Grundrechte ist nicht direkt ersichtlich. Hellriegel-Rodriguez möchte, dass Kinder mit Taschenlampen Zeichen geben können, wenn es ihnen schlecht geht, und dann solle man die Polizei holen.
Es ist 18:10 Uhr. Ken Jebsen ist dran. Organisator Ballweg behauptet: Es sei seine schwierigste Entscheidung gewesen, ob man Jebsen einladen sollte. Aber: „Jemand, der es schafft, ein Video mit 2,7 Millionen Abrufen zu erhalten, ist unserer Meinung nach auch qualifiziert, seine Meinung auch öffentlich zu sagen.“ Was zählt, sind Klicks.
Während sich Ballweg nicht offen als Jebsen-Fan outen wollte, verbreitet er auf seinem Twitterprofil schon seit Wochen fleißig Beiträge von KenFM – wie auch eine inzwischen wieder gelöschte Karikatur, die Bill Gates in einer SS-ähnlichen Uniform zeigt, mit einem Hakenkreuz aus Impfspritzen im Hintergrund.
Jebsen erscheint auf der Bühne. Er verspricht, kurz und langsam zu reden und dann verlässt er die Bühne. Denn: „Die Zeit ist vorbei, wo Sie sich von oben volltexten lassen müssen.“ Er rede, so die genannte Begründung, lieber auf Augenhöhe mit den Leuten. Aber anscheinend nicht mit Augenkontakt. Die leere Bühne ist ärgerlich für die vielen, die nach vorne an die Bühne gedrängt haben. Sicherheitsabstand ist nun endgültig passee. Aber das interessiert niemanden.
Hinter der Bühne wird es skurril: Zusammen mit einem Mann, der ihn per Handykamera filmt, spricht Jebsen hinter einer Decke, mit der ihn Sicherheitsdienstler abschirmen. Das hat ein bisschen was von einer improvisierten Zaubershow. In einer Twitter-Diskussion betont @TeamKenFM: „Er versteckt sich nicht! Es sind Vorsichtsmaßnahmen aufgrund von eindeutigen Androhungen der Gewalt gegen seine Person.“
Die persönliche Sicherheit scheint ihm wichtig zu sein – und offenbar nimmt Jebsen Corona einen Ticken ernster als es in seinen Videos den Anschein hat. Sofort nach seiner Rede zieht er einen Mund-Nasen-Schutz auf und lässt sich im Auto vom Festplatz bringen – bloß kein Kontakt mit Fremden.
Jebsen sagt also von hinter der Decke: „Niemand leugnet, dass es Corona gibt. Niemand leugnet, dass es Risikogruppen gibt, die einen besonderen Schutz bedürfen.“ Das dürfte so manchen Demo-Teilnehmer mit „Corona = fake“-Schild irritieren. Doch diese Enttäuschung macht der Star des Abends wieder wett: Die Corona-Maßnahmen seien „völlig überzogen“, sagt Jebsen. Das „Merkel-Regime“ habe „große Teile der im Grundgesetz verankerten Grundrechte willkürlich und dauerhaft auf Eis gelegt“. Warum? Jebsen: „Corona wird als trojanisches Pferd genutzt, um den Staat noch mächtiger und den Bürger noch ohnmächtiger zu machen.“ Von Anfang an sei eine Überwachungs-App geplant gewesen und ein indirekter Impfzwang komme über einen Immunitätsausweis auch noch. Die Stimmung steigt.
Das ist ja wie bei den Nazis
Die Tonlage in Stuttgart ist etwas gemäßigter als auf dem Portal KenFM, wo etwa Autor Rüdiger Lenz in der „Tagesdosis“ vom 22.04.2020 befindet: „Der Mundschutz ist das neue Hakenkreuz.“ Ganz ohne Vergleich zum Nationalsozialismus kommt allerdings auch Jebsen nicht aus. Damals wie heute hätten Pharmariesen verdient, die Massenmedien hätten das Volk doof gehalten, und überhaupt sei gelogen worden. Bei den Rassegesetzen hätten ein paar regierungstreue Wissenschaftler bestimmen dürfen, was gesund ist, und das sei gar nicht so weit weg von heute. Für den 52-Jährigen gibt es seit 1949 nur eine „Demokratie-Simulation“, die Coronakrise sei eine Chance, dies zu ändern. „Deutschland braucht dringend eine direkte Demokratie“. Applaus.
Was fehlt? Bill Gates. Der beeinflusse mit seinen Spenden die WHO, und außerdem erwähnt Jebsen noch die Medien, die nur eine Meinung zulassen. Die Menge ist jetzt schwer begeistert. Weitere Forderungen: ein Corona-Untersuchungsausschuss, ein demokratisches und kooperatives Wirtschaftssystem, weg mit der Globalisierung, die nur wenigen Reichen dient, Deutschland soll aufhören, Kriege zu führen auch gegen die Natur, und mehr Spiritualität. Applaus, Jubel, erfolglose „Zugabe“-Rufe. Nach insgesamt drei Stunden ist alles vorbei. Die Musiker auf der Bühne begleiten den Abzug der ProtestlerInnen, denen vor allem eine Botschaft vermittelt wurde: „Die da oben“ sind hinterhältig und haben üble Pläne. Das Establishment ist schuld, das System korrupt, man muss sich wehren.
Im Sich-Wehren haben auch diejenigen Erfahrung, die sich eine Stunde vor der Wasen-Demo vor dem Kursaal in Cannstatt getroffen haben. Dem gemeinsamen Aufruf des antifaschistischen Aktionsbündnisses, Verdi Stuttgart, des Württembergischen Kunstvereins und vielen anderen waren 250 bis 300 DemonstrantInnen gefolgt (mit Mundschutz und tatsächlichem Sicherheitsabstand). Auch sie beschäftigen sich mit den Corona-Maßnahmen, auch sie kritisieren die Einschränkung von Grundrechten, auch sie sind gegen Krieg und kaputtgesparte Gesundheitssysteme, und auch sie finden manches unlogisch. Zum Beispiel, dass es diese große Demo ein paar hundert Meter weiter gibt, aber jede noch so kleine Kulturveranstaltung verboten ist.
Hier, vor dem Kursaal, will man sich aber solidarisieren mit denjenigen, die am härtesten von der Krise getroffen sind wie KünstlerInnen und KurzarbeiterInnen. „Wir stehen für klare linke Antworten“, sagt Jens Heidrich von den Organisatoren. Die Krisenkosten dürften nicht auf dem Rücken der Beschäftigten abgeladen werden. Dass ausgerechnet linke Kreise gerade systemtreuer wirken als diejenigen, die auf dem Wasen stehen und sich als Grundgesetzschützer geben, weist Heidrich zurück. Für ihn zeige die Pandemie ja gerade wie falsch das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei. Er verstehe es, wenn Menschen verunsichert seien und Alternativen suchten. „Wir wollen ein Gegenangebot zu den bürgerlichen Rechten machen und sagen aber auch: Eine solidarische und gerechte Gesellschaft kann nie mit rechten Kreisen erstritten werden.“