Schicksalsjahr 2024 – Putin, Hamas, Trump und die Logik der Zerstörung
Zwei Kriegsschauplätze haben das vergangene Jahr – jedenfalls aus westlicher Sicht – entscheidend geprägt: die Ukraine und Israel/Palästina. In beiden Fällen bestreiten die Angreifer, Russland wie die Hamas, das Existenzrecht ihrer Gegner. Gemeinsam ist beiden zudem absolute Menschenverachtung, die selbst vor der eigenen Bevölkerung nicht Halt macht – ob als massenhaft verheizte Soldaten im Falle Putins oder gar als ganz bewusst geopferte Zivilisten im Falle der Hamas. Beide Akteure verbindet schließlich, trotz aller Unterschiede zwischen der Terrormiliz und der imperialistischen Diktatur, ein zentrales Moment: die Logik der Zerstörung als Basis eines stetig wachsenden strategischen Vorteils gegenüber dem Westen.
2024 könnte damit zu einem Schicksalsjahr werden. Beide Kriege sind blutig festgefahren. Doch während der Krieg in Gaza immer mehr Zivilisten das Leben kostet, droht das aktuelle Patt in Putins Krieg spätestens dann in eine Niederlage der Ukraine umzukippen, wenn am Ende des Jahres tatsächlich Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden sollte und er mit seiner Ankündigung ernst machen könnte, den Krieg binnen eines Tages zu beenden, sprich: die Ukraine im Stich zu lassen. Bereits jetzt gaben die Republikaner einen Vorschein dieser möglichen neuen Lage, indem sie im Senat eine weitere Unterstützung der Ukraine blockierten.
Damit droht das Pendel in den nächsten Monaten zugunsten der Aggressoren auszuschlagen. Putin und die Hamas eint ein strategischer Grundansatz: Da eine Überwindung des Gegners durch eigene Attraktivität oder die Eroberung des gegnerischen Territoriums (bisher jedenfalls) nicht möglich ist, setzen sie auf ein anderes Mittel – das der reinen Destruktion. Im Falle Russlands ist diese Strategie evident: Seit Moskau an der schnellen Eroberung Kiews gescheitert ist, hält es sich an der Zerstörung der Ukraine „schadlos“. Die Strategie der Hamas dagegen ist komplexer und perfider: Sie zielte mit ihrem brutalen Massaker an israelischen Zivilisten von Anfang an darauf ab, den Gegner zu einer massiven Reaktion zu provozieren, was Israel mit der flächendeckenden Zerstörung Gazas prompt erfüllte.
Die Regierung von Benjamin Netanjahu unterliegt dabei einem fatalen Irrtum, falls sie annimmt, dass sich die Wut der Palästinenser primär gegen die eigene Führung richten werde. Das Gegenteil ist der Fall: Indem Israel die Verbrechen der Hamas mit eigener massiver Zerstörung beantwortet, geht die Rechnung der Terrormiliz auf – die Wut auf Israel immer größer werden zu lassen und dadurch wenn möglich genau jenen „dauerhaften Kriegszustand an allen Grenzen Israels“ zu erzeugen, auf den die Terroristen letztlich abzielen.[1] Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Hamas jederzeit bereit, die eigenen Untertanen im Dschihad, im „heiligen Krieg“, zu opfern, ob als Terroristen oder auch als hilflose Zivilisten.
Somit haben wir es heute mit einer Form des heißen Krieges zu tun, in dem die Aggressoren weniger auf die Eroberung als vor allem auf die Zerstörung ihres Gegners abzielen und dabei strategisch zu gewinnen drohen.
Vom Wettstreit der Systeme zur Vernichtung des Feindes
In dieser Logik der Zerstörung liegt der zentrale Unterschied zum alten Systemkonflikt des Kalten Krieges. Dieser war letztlich, trotz seiner Möglichkeit zu atomarer Vielfachzerstörung (overkill), paradoxerweise immer auch ein konstruktiver Konflikt, bei dem die beiden Kontrahenten versuchten, im Wettstreit die je andere Seite zu übertrumpfen.
Die kompetitive Logik begann spätestens dann, als die Sowjetunion 1957 mit dem „Sputnik“-Schock – ausgelöst durch die erste Raumsonde in einer Erdumlaufbahn – den Westen ins Hintertreffen geraten ließ. Es war John F. Kennedy, der 1963 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen einerseits das andere System anerkannte, auch um den Frieden zu sichern, aber andererseits klarstellte, dass man im Sinne einer friedlichen Koexistenz den Wettbewerb aufnehmen werde, auch um auf diesem Wege das möglichst beste Ergebnis zu erzielen: „Im Wettstreit um ein besseres Leben wird die gesamte Welt der Sieger sein.“ Dieser Wettkampf fand auf fast allen Gebieten statt, von der Raumfahrt über die Wirtschaft bis zum Sport.[2] Und er endete erst mit der großen Rede Michail Gorbatschows 1988 an gleicher Stelle, mit der der sowjetische Staats- und Parteichef aus der Ära der Konkurrenz in eine Ära der produktiven Zusammenarbeit unter dem Dach der Vereinten Nationen eintreten wollte[3] – durchaus auch der Einsicht folgend, dass das starre Sowjetsystem der Dynamik des Kapitalismus nicht gewachsen war.
Heute hingegen ist das Verhältnis zwischen Ost und West aus Sicht des Kremls wieder ein radikal antagonistisches, fundamental feindliches, und damit ist diese Position exemplarisch für viele radikal anti-westliche, anti-liberale Bewegungen, wie etwa die islamistische Hamas.
Die einzige Chance für Russland, so die Lehre Putins aus dem Scheitern der Sowjetunion und angesichts der Attraktivität der westlichen Lebensweise für die russischen Anrainerstaaten, besteht darin, das andere System so stark wie möglich zu schwächen. Wenn wir den Westen angesichts eines russischen Bruttosozialprodukts, das unterhalb des italienischen liegt, nicht auf konstruktive Weise herausfordern können, müssen wir ihn mit den Waffen der Destruktion bekämpfen, sprich: von außen wie innen heraus zerstören, so die Putin‘sche Konsequenz aus dem wirtschaftlichen Niedergang Russlands. Deshalb gehen die russischen Truppen in der Ukraine ohne jede Hemmung vor, wenn sie weite Teile des Landes verminen und sie so auf viele Jahre faktisch unbewohnbar machen. Derartige Zerstörung ist ein Kinderspiel, aber der Wiederaufbau dauert lang und ist immens teuer. Und Putin weiß genau, dass der Westen letztlich dafür aufkommen wird. Auf diese Weise betreibt er ganz gezielt die systematische Chaotisierung jener Staaten, die (noch) über eine rechtstaatlich-demokratische Ordnung verfügen.
Und während Putin auf die maximale Zerstörung der kritischen Infrastruktur des Feindes setzt, sucht er zugleich nach möglichen Alliierten in den Demokratien. Das beste Beispiel dafür ist sein instrumentelles, aber auch ideologisch grundiertes Verhältnis zu Rechtsradikalen wie Marine Le Pen oder der AfD. Indem er diese auch finanziell unterstützt, sichert er sich willige Gehilfen in den demokratischen Systemen, um diese von innen zu unterwandern und auszuhöhlen.
Bei dieser Strategie spielt die zynische Instrumentalisierung von Menschen eine zentrale Rolle. Dass Putin gezielt und massenhaft ukrainische Flüchtlinge erzeugt, erfüllt für ihn einen doppelten Zweck: Es destabilisiert die Ukraine, aber zugleich die Aufnahmeländer, also die Staaten der Europäischen Union. Ganz ähnlich das Kalkül der Hamas: Man nimmt die palästinensischen Toten und Binnenflüchtlinge bewusst in Kauf, um den Protest gegen Israel zu schüren. Und die Zerstörung des äußeren Feindes korrespondiert mit der des inneren Gegners. Seit ihrer Machterlangung im Jahr 2007 hat die Hamas jede weitere Wahl unterbunden und ist mit aller Brutalität gegen die konkurrierende Fatah von Mahmud Abbas vorgegangen. Derweil werden in Russland die Restbestände von Rechtsstaatlichkeit insbesondere gegenüber kritischen Journalisten systematisch zerstört. Am Ende herrscht reine Willkür, wodurch die nächsten Präsidentschaftswahlen im März zur reinen Putin-Show verkommen werden.