Blätter Ausgabe 5/2020 – Zusammenfassung
Unsere Normalität kehrt nicht zurück
von Adam Tooze
Adam Tooze ist ein britischer Wirtschaftshistoriker.
In seinem 2018 erschienen Buch „Crashed – Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben„ erzählt er die Geschichte der Finanzkrise sehr anschaulich. manchmal auch sehr lakonisch. Das macht das Buch trotz seiner 800 Seiten sehr gut lesbar. Im Oktober 2018 hielt Tooze in Berlin in deutscher Sprache einen Vortrag zu seinem Buch.
Vor einem Jahr hatte Tooze in den „Blättern“ (Ausgabe Mai 2019) die Frage „Donald Trump oder: Das Ende des amerikanischen Zeitalters?“ erörtert.
Hier die Zusammenfassung seines aktuellen Beitrags „Die Normalität kehrt nicht zurück“:
Die Wirtschaft befindet sich derzeit nahezu in freiem Fall. Sollte sie weiter in ihrer derzeitigen Geschwindigkeit schrumpfen, läge das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in zwölf Monaten um ein Drittel niedriger als Anfang 2020. Diese Schrumpfungsrate ist vier Mal schneller als während der Großen Depression der 1930er Jahre. Noch nie zuvor ist es zu einer solchen Bruchlandung gekommen.
Noch vor wenigen Wochen, Anfang März, lag die Arbeitslosigkeit in den USA auf einem Rekordtief. Doch schon Ende März war sie auf ungefähr 13 Prozent emporgeschossen. Das ist der höchste Wert, der seit dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet wurde. Die genaue Zahl ist unbekannt, da das amerikanische System zur Registrierung von Arbeitslosigkeit nicht dafür geschaffen wurde, eine solch schnelle Zunahme zu erfassen. Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit, so der Ökonom Justin Wolfers, steigt die Arbeitslosigkeit in den USA pro Tag um 0,5 Prozent.[1] Es ist nicht länger unvorstellbar, dass sie bis zum Sommer auf 30 Prozent angewachsen sein könnte.
Die westlichen Ökonomien stehen damit einem weitaus tieferen und brutaleren ökonomischen Schock gegenüber als sie ihn je zuvor erfahren haben. Normale Konjunkturzyklen beginnen für gewöhnlich bei den verletzlicheren Sektoren der Wirtschaft – Immobilien und Bauwirtschaft beispielsweise oder Schwerindustrie. Zusammen beschäftigen diese Sektoren in den USA weniger als ein Viertel der Arbeitskräfte. Daher überträgt sich der geballte Abwärtstrend in diesen Sektoren auf den Rest der Ökonomie nur als gedämpfter Schock.
Der coronabedingte Lockdown trifft jedoch direkt die Dienstleistungen – Einzelhandel, Immobilien, Bildung, Unterhaltung, Restaurants –, in dem heute 80 Prozent der Amerikaner arbeiten. Also fällt das Ergebnis unmittelbar und katastrophal aus.
In vielen Fällen werden die Läden, die Anfang März schlossen, nicht wieder öffnen. Die Jobs werden dauerhaft verlorengehen. Millionen von Amerikanern und ihre Familien stehen vor einer Katastrophe.
Erschütternde Aussichten
Dieser Schock ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Viele europäische Länder federn die Auswirkungen des Abschwungs mit Kurzarbeitergeld ab. Dies wird den Anstieg der Arbeitslosigkeit dämpfen. Doch der Kollaps der wirtschaftlichen Aktivität lässt sich nicht verbergen. Der Norden Italiens ist nicht bloß ein luxuriöses Touristenziel, sondern erwirtschaftet 50 Prozent des nationalen BIP. Deutschlands BIP wird Prognosen zufolge stärker schrumpfen als das der Vereinigten Staaten, weil die Bundesrepublik von ihrer Exportabhängigkeit heruntergezogen wird.
In reichen Ländern wie diesen können wir wenigstens versuchen, den Schaden zu schätzen. China erließ am 23. Januar als erstes Land einen Shutdown. Laut den jüngsten offiziellen Zahlen liegt Chinas Arbeitslosigkeit bei 6,2 Prozent.
Aber diese Zahl ist eindeutig eine grobe Untertreibung der Krise in China. Inoffiziell wurden möglicherweise nicht weniger als 205 Millionen Wanderarbeiter in den Zwangsurlaub geschickt, mehr als ein Viertel der chinesischen Erwerbsbevölkerung.[2]
Von Indiens 471 Millionen Menschen umfassender Erwerbsbevölkerung haben nur 19 Prozent einen Anspruch auf Sozialleistungen, verfügen zwei Drittel nicht über einen formalen Arbeitsvertrag und sind mindestens 100 Millionen als Wanderarbeiter tätig.[3]
Die Finanzkrise abwenden
Die Bemühungen, die zur Abfederung der Auswirkungen unternommen werden, sind historisch beispiellos.
In den Vereinigten Staaten hat der Kongress schon in den ersten Tagen des Shutdowns ein Konjunkturpaket verabschiedet, das bei weitem das größte ist, das Amerika in Friedenszeiten je gesehen hat. Weltweit wurde der Geldhahn aufgedreht. Das fiskalisch konservative Deutschland hat einen Notstand erklärt und seine Begrenzung der öffentlichen Verschuldung aufgehoben. Insgesamt sehen wir die größte vereinte finanzielle Anstrengung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Eine noch dringlichere Aufgabe besteht darin, die Flaute nicht in eine immense Finanzkrise münden zu lassen. Allgemein heißt es, die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) folge dem Drehbuch von 2008. Neu ist jedoch das Ausmaß, in dem die Fed eingreift. Ende März kaufte die Fed jeden Tag Anlagen im Wert von 90 Mrd. US-Dollar. Das ist mehr pro Tag als sie in unter Ben Bernanke, der sie während der Finanzkrise leitete, in den meisten Monaten erwarb. Am Morgen des 9. April, als erneut eine erschreckende Arbeitslosenzahl veröffentlicht wurde, kündigte die Fed an, sie werde für zusätzliche 2,3 Billionen Dollar Anlagenkäufe tätigen.
Diese enormen und unmittelbaren Ausgleichsmaßnahmen haben bislang einen sofortigen globalen finanziellen Zusammenbruch verhindert.
Aber nun stehen wir einer langwierigen Periode gegenüber, in der sinkender Konsum und nachlassende Investitionen zu einer weiteren Schrumpfung führen.
73 Prozent der amerikanischen Haushalte geben an, im März einen Einkommensverlust erlitten zu haben. Für viele ist dieser Verlust katastrophal und stürzt sie in akute Not, Zahlungsverzug und Bankrott. Verspätete Zahlungen bei Privatkrediten werden zweifellos stark ansteigen und zu anhaltenden Schaden im Finanzsystem führen. Alle nicht notwendigen Ausgaben werden verschoben. Der Automarkt ist mausetot. Automobilhersteller in Europa und Asien sitzen auf gigantischen Mengen unverkaufter Fahrzeuge.
Je länger der Lockdown anhält, desto tiefere Narben wird er in der Wirtschaft hinterlassen und desto langsamer wird die Erholung ausfallen. In China kehrt die reguläre ökonomische Aktivität zwar langsam zurück.
Der kommende Schuldenstreit
Selbst wenn Produktion und Beschäftigung wieder begonnen haben, werden wir uns über Jahre mit den finanziellen Altlasten beschäftigen.
Momentan parken wir diese Schulden in den Bilanzen der Zentralbanken. Diese können auch die Zinsraten niedrig halten, wodurch der Schuldendienst nicht exorbitant sein wird. Aber das verschiebt nur die Frage, was man mit den Verbindlichkeiten anstellen soll.
Nach der konventionellen Auffassung müssen Schulden irgendwann zurückgezahlt werden, indem man Überschüsse erwirtschaftet, entweder durch Steuererhöhungen oder durch Ausgabenkürzungen.
Die Geschichte zeigt uns allerdings, dass es radikalere Alternativen gibt.
- Eine bestünde in einem Ausbruch der Inflation.
- Eine andere wäre ein Ablassjahr, was ein höflicher Name für das Nichtzahlen von Staatsschulden ist (was weniger drastisch ist, als es klingt, solange es die Schulden bei der Zentralbank betrifft).
- Manche haben sogar vorgeschlagen, die Zentralbanken sollten aufhören, staatliche Schuldscheine zu kaufen und den Regierungen stattdessen einfach ein gigantisches Kassenguthaben gutschreiben.[4]
Und am 9. April kündigte die Bank von England genau das an. Das bedeutet in jeder Hinsicht, dass die Zentralbank einfach Geld druckt. Symptomatisch ist auch, dass die Entscheidung der Bank von England bisher nicht zu einem Sturm der Entrüstung oder Panikverkäufen geführt hat, sondern auf den Finanzmärkten mit kaum mehr als Schulterzucken quittiert wurde.
Diese resignierte Haltung ist bei der Krisenbekämpfung hilfreich. Aber man sollte nicht erwarten, dass die Ruhe anhält. Wenn sich der Deckel hebt, wird die Politik wiederkehren und mit ihr der Streit über „Schuldenlasten“ und „Tragfähigkeit“. Und angesichts der Verbindlichkeiten, die jetzt schon angehäuft wurden, dürfte er hässlich werden.
Radikale Unsicherheit
Bei einem Großteil der Weltbevölkerung sind die grundlegenden Abläufe ihres Lebens radikal unterbrochen. Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, wann wir zu unseren Leben von vor Corona-Zeiten zurückkehren können. Wir mögen hoffen, dass alles „zur Normalität zurückkehrt“. Aber woher werden wir das wissen? Schließlich schien im Januar alles normal, nur Wochen bevor die Welt stehen blieb. Wenn radikale Unsicherheit zuvor eine Sorge war, wird sie nun eine immer präsente Realität sein. Jede Grippesaison wird ängstlich beobachtet werden. Um medizinische Metaphern zu vermischen: Wie lange wird es dauern, bevor wir uns symptomfrei erklären können?
Es ist möglich, dass es im Anschluss an den Lockdown zu einem Wiederanstieg der Ausgaben kommt. Aber wird das anhalten? Die naheliegendste Reaktion auf einen Schock, wie wir ihn gerade erleben, ist der Rückzug. Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen seit 2008 war der Schuldenabbau von Privathaushalten in den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Konsument, die größte Nachfragequelle der Weltwirtschaft, ist deutlich besonnener geworden. Unternehmensinvestitionen waren schwach, ebenso das Produktivitätswachstum. Die Konjunkturabschwächung beschränkte sich nicht auf den Westen, sondern erfasste auch die Schwellenländer. Wir nannten es eine „säkulare Stagnation“.[5]
Wenn die Antwort von Unternehmen und Privathaushalten auf den beispiellosen Corona-Schock in einer Flucht in die Sicherheit besteht, dann wird dies die Kräfte der Stagnation vergrößern. Und wenn die staatliche Antwort auf die in der Krise akkumulierten Schulden in Austerität besteht, wird das die Lage noch verschlimmern. Es ist daher richtig, eine aktivere und visionärere staatliche Politik zu fordern, die einen Weg aus der Krise weist. Das aber wirft natürlich die entscheidende Frage auf: Welche Form wird diese Politik annehmen – und welche Kräfte werden sie kontrollieren?
Deutsche Erstveröffentlichung eines Textes, der unter dem Titel „The Normal Economy Is Never Coming Back“ in der „Foreign Policy“ erschienen ist. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.
[1] Justin Wolfers, Unemployment Is Rising Faster Than Ever, Outpacing Official Statistics, in: „The New York Times“, 4.4.2020.
[2] Frank Tang, Coronavirus: China’s unemployment crisis mounts, but nobody knows true number of jobless, in: „South China Morning Post“, 3.4.2020.
[3] Somesh Jha, Migrant workers head home in coronavirus lockdown, exposed and vulnerable, in: „Business Standard“, 25.3.2020. Vgl. auch den Beitrag von Ellen Ehmke in dieser Ausgabe.
[4] Sony Kapoor und Willem Buiter, To fight the COVID pandemic, policymakers must move fast and break taboos, www.voxeu.org, 6.4.2020.
[5] Larry Summers, Secular Stagnation, www.larrysummers.com.