Untergraben wir den Kapitalismus! Wie die Linke utopisch und realistisch zugleich sein kann

Quelle: Blätter für deutsche und internationale PolitikOktober 2017

Untergraben wir den Kapitalismus!

Wie die Linke utopisch und realistisch zugleich sein kann

von Erik Olin Wright

Die großen strategischen Vorschläge des 20. Jahrhunderts, wie auf die Übel des Kapitalismus zu reagieren sei, sind für die meisten Menschen nicht mehr überzeugend. Die sozialdemokratische Hoffnung auf eine Zähmung des Kapitalismus durch eine über gezielte staatliche Interventionen verlaufende Neutralisierung seiner schädlichen Auswirkungen ist massiv unterlaufen worden – zum einen durch die Globalisierung und Finanzialisierung des Kapitals, zum anderen dadurch, dass sich die sozialdemokratischen Parteien in den letzten 25 Jahren selbst zu „milden“ Varianten des Neoliberalismus bekannt haben.

Angesichts der tragischen Folgen der Revolutionen des 20. Jahrhunderts haben zudem revolutionäre Bestrebungen an Glaubwürdigkeit verloren, den Kapitalismus abzulösen durch eine auf dem Bruch mit bestehenden Verhältnissen beruhende Ergreifung der Staatsmacht, eine erzwungene Auflösung kapitalistischer Institutionen und deren Ersetzung durch eine emanzipatorische Alternative. Kurzum: Sowohl Reform als auch Revolution – die beiden grundlegenden Transformationsmodelle des 20. Jahrhunderts – scheinen ihre Möglichkeiten erschöpft zu haben. Was aber wäre der Ausweg?

Die meisten großmaßstäblichen gesellschaftlichen Veränderungen der Menschheitsgeschichte vollziehen sich „hinter dem Rücken“ der Menschen, als kumulative Auswirkung unbeabsichtigter Handlungsfolgen. Will man dagegen über eine „Strategie“ gesellschaftlicher Veränderung verfügen, dann muss es möglich sein, die gewünschten gesellschaftlichen Veränderungen durch bewusstes, vorsätzliches Handeln herbeizuführen. Das stellt eine besonders große Herausforderung dar, wenn das Ziel der Strategie darin besteht, etwas so Komplexes wie den „Kapitalismus“ durch ein alternatives sozioökonomisches System zu ersetzen. Es genügt nicht, die Schwere der Missstände zu benennen, die die Welt in ihrem jetzigen Zustand hervorbringt, und es genügt auch nicht, über vernünftige Gründe für den Glauben an Wünschbarkeit und Gangbarkeit einer Alternative zu verfügen. Es muss darüber hinaus auch die Möglichkeit geben, im Hier und Jetzt so zu handeln, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Umsetzung der Alternative erhöht.

Dafür braucht es reale Utopien. Anstatt den Kapitalismus durch Reformen „von oben“ zu zähmen oder mittels eines revolutionären Bruchs zu zerschlagen, sollte, so der Kerngedanke, der Kapitalismus dadurch erodiert werden, dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut werden und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird. Reale Utopien sind somit Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt werden können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voran bewegen.

Im hybriden Kapitalismus: Der Vorschein einer anderen Welt

Bereits bestehende Wirtschaftssysteme kombinieren den Kapitalismus mit einer ganzen Reihe anderer Möglichkeiten, die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu organisieren: unmittelbar durch den Staat; innerhalb der intimen Beziehungen der Familie zur Befriedigung der Bedürfnisse der Familienangehörigen; über die auf Grundlage der Gemeinschaft agierenden Netzwerke und Organisationen der sogenannten Sozialwirtschaft oder solidarischen Ökonomie; durch Kooperativen, die sich im Besitz ihrer Mitglieder befinden und von diesen demokratisch verwaltet werden; durch gemeinnützige, marktorientierte Organisationen; durch Peer-to-peer-Netzwerke, die sich kooperativen Produktionsprozessen widmen etc.

Einige dieser Verfahren zur Organisierung wirtschaftlicher Tätigkeit lassen sich als Mischformen betrachten, da sie kapitalistische mit nichtkapitalistischen Elementen kombinieren, einige sind zur Gänze nichtkapitalistisch, und einige sind antikapitalistisch. Wir bezeichnen ein solches komplexes Wirtschaftssystem dann als „kapitalistisch“, wenn der Kapitalismus die vorherrschende Kraft ist, die die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der meisten Menschen und deren Zugang zu den Möglichkeiten des Lebensunterhalts bestimmt. Diese Vorherrschaft ist ungeheuer destruktiv.

Eine Art, den Kapitalismus anzufechten, besteht darin, innerhalb dieses komplexen Systems bei jeder Gelegenheit demokratische, egalitäre und partizipative Verhältnisse und Organisationen aufzubauen und politisch um die Erweiterung und Verteidigung solcher Räume zu kämpfen, indem man die Spielregeln der kapitalistischen Gesellschaft verändert. Das erfordert wiederum Bemühungen um die Ausweitung des demokratischen und partizipativen Charakters der Staatsmacht. Das Konzept einer Untergrabung des Kapitalismus beinhaltet die Vorstellung, dass diese Alternativen langfristig in der Lage sein werden, sich bis zu dem Punkt auszuweiten, an dem der Kapitalismus seine Vorherrschaft verliert.

Dieser strategische Rahmen kombiniert Ideen aus früheren revolutionären und reformistischen Traditionen mit einigen Intuitionen des zeitgenössischen Anarchismus. Unter Rückgriff auf die revolutionäre Tradition postuliert er als langfristiges Ziel die Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer demokratischen, egalitären, solidarischen Wirtschaft und Gesellschaft; die Vorstellung, dies lasse sich durch einen sofortigen Bruch mit den bestehenden Machtstrukturen erreichen, wird jedoch zurückgewiesen.

Auf die anarchistische Tradition geht zurück, dass die Bedeutung des Aufbaus von Alternativen im Hier und Jetzt betont wird: Alternativen, die jetzt bereits, in der Welt, wie sie heute beschaffen ist, emanzipatorische Bestrebungen verkörpern. Zurückgewiesen wird jedoch die Vorstellung, ein solcher Aufbau könne vollständig außerhalb des Staates geschehen. Aus der sozialdemokratischen Reformtradition stammt die Betonung der Bedeutung, die staatlicher Politik bei der Förderung fortschrittlicher Ideale zukommt; zurückgewiesen wird jedoch die Vorstellung, dies sei ausschließlich eine Frage des staatlichen, von oben herab betriebenen Einsatzes zentralisierter Macht zur Neutralisierung kapitalistischen „Marktversagens“. Im Ergebnis benötigen wir eine reale Utopie, nämlich ein gesellschaftliches und politisches Projekt, das im Kampf um reale Demokratie innerhalb von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft verankert ist.

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Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 13.09.2017

Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 530 Seiten. ISBN 978-3-518-29792-6. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2192.

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Thema

Es gibt keine Alternative – dieser Slogan hat nicht nur die wirtschaftsliberale Umwandlung der kapitalistischen Ökonomien begleitet, sondern ist das Etikett einer globalen Ordnung, die ebenso dynamisch („Wachstum“) wie am Ziel der menschlichen Bestimmung sein will. In der geschlossenen Welt, in der es nichts Neues unter der Sonne gibt außer dem dernier cri der Technik, der Mode und der Drohung mit der finalen Zerstörung, die freilich auch schon in die Jahre gekommen ist, wird jede soziale Alternative mit dem Begriff der Utopie belegt.

Dieser Begriff soll im pejorativen Sinn verstanden werden und das Unmögliche bezeichnen. Aber seit Thomas Morus, der das Wort zu Beginn der Neuzeit geschaffen hatte, meinte Utopie die gedankliche Konstruktion einer besseren Gesellschaft, die aus der Kritik der Bestehenden hervorgeht und eine moralische Verbindlichkeit besitzt. An diese Bedeutung von Utopie knüpft das hier zu besprechende Werk an. Es gibt der Frage der Utopie einen besonderen Akzent, indem es Erfahrungen präsentieren will, die mit dem Versuch, der stationären Dynamik des Kapitalismus zu entrinnen, gemacht worden sind und immer noch, abseits der hot spots medialer Aufmerksamkeit, gesammelt werden. Deshalb geht es um reale Utopien.

Autor

Erik Olin Wright, Jg. 1947, ist Professor für Soziologie an der Universität Wisconsin, USA.

Entstehungshintergrund

Wright war zwischen 1970 und 1990 vornehmlich mit der Klassentheorie beschäftigt. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Staatssozialismus hat er sich den Fragen der Utopie zugewandt und das „Real Utopias Project“ initiiert. Bis zum Jahre 2009 waren aus dem Projekt sechs Bücher verschiedener Autoren hervorgegangen. (S. 29) Das vorliegende Buch, das siebte der Reihe, entstand aus dem Plan, über „Sociological Marxism“ zu schreiben. Es stellt die Verselbständigung und Erweiterung des für dieses Buch ursprünglich vorgesehenen Schlusskapitels dar.

Aufbau und Inhalt

„Reale Utopien“ ist in drei Teile gegliedert, die von zwei einleitenden Kapiteln und einem Schlusswort umrahmt werden.

Das Vorwort zur deutschen Ausgabe umreißt den Kerngedanken: „Anstatt den Kapitalismus durch Reformen ‚von oben‘ zu zähmen oder mittels eines revolutionären Bruchs zu zerschlagen, sollte [er] dadurch erodiert werden, dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird. Reale Utopien sind Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt werden können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voran bewegen.“ (S. 11) Ziel ist das, was Wright die gesellschaftliche Ermächtigung nennt, gerade auch im Hinblick auf die Wirtschaft. Und eben dies wäre das Kernelement von Sozialismus.

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