Bernd Ulrich stellt in der ZEIT vom 9. März in einem Beitrag auf der Titelseite die These auf: „Die Öko-Partei ist in der Krise, weil die Gesellschaft die Veränderung will – und zugleich scheut.“
Er referiert, was CDU/CSU und FDP und einige Medien der Partei vorwerfen und kommt zum Schluss: „Die Grünen sind nicht in erster Linie unter Druck, weil sie etwas falsch machen, sondern weil sie etwas richtig machen – …“, bei „dem, was geschehen muss, damit Deutschland seinen selbst gesetzten Zielen beim Klimaschutz und beim Erhalt der Arten zumindest nahekommt.“
Ulrich befasst sich mit Vorbehalten, mit denen Grüne und entschiedene Verfechter einer konsequenten Klimaschutzpolitik konfrontiert werden: Es gehe „auch ohne Verbrenner-Verbot, ohne Abschaffung der Öl- und Gasheizungen, ohne Windparks und Stromtrassen, ohne weniger Fleisch.“
Diesen Behauptungen hält er die diskussionswürdige These entgegen: Keine andere Partei mache sich die Mühe, nachzuweisen, wie es – angesichts der nicht mehr vorhandenen Zeit für eine Klimaschutzpolitik, die niemand weh tut – gehen soll: „Der Wettbewerb um die besten und schnellsten Wege nach Paris (Klimaabkommen) und Montreal (Artenschutzabkommen) und neuerdings New York (Hochseeabkommen) findet schlicht nicht statt.“
Nach der Deutung dessen, was die Grünen richtig und die anderen Parteien (und die Gesellschaft) falsch machen, beschreibt er „zwei Standardfehler im Umgang mit einer zögerlichen Gesellschaft in schnellen Krisen“, die er bei den Grünen diagnostiziert:
Standardfehler 1: „Die sogenannten Realos reagieren auf öffentlichen Druck zumeist mit Abstrichen bei den eigenen Forderungen unter Absingen schmutziger Lieder über innerparteiliche und außerparlamentarische Linke.“ Dieser Weg – so Ulrich – führe in der Ökologie ins Nichts. Begründung: „Die grünen Zumutungen kommen hier aus den Sachzwängen selbst, eine allzu bekömmliche Politik führt unweigerlich dazu, dass die Klimaziele spektakulär verfehlt werden.“ Die Erklärung, die Ulrich für die grünen „Abstriche an den eigenen Forderungen“ (Fehler 1) anbietet, überzeugt allerdings überhaupt nicht. Ulrich meint, die Realos bei den Grünen schämten sich für die Radikalität, „die aus den ökologischen Notwendigkeiten erwächst“.
Den Standardfehler 2 machen seiner Auffassung nach „die Linken bei den Grünen“ (meint er damit die UGL, die Unabhängige Grüne Linke bei Bündnis 90/Die Grünen https://gruene-linke.de/ueber-uns/ ). Diese „Linken bei den Grünen“ wollen angeblich die „die Radikalität aus der ökologischen Sache noch mit allerlei Radikalitäten aus Gesinnung (Enteignung von Wohnungsbesitzern, Möblierung der Friedrichstraße) toppen.“ So entstünde „ein Milieu-Sound, der selbst in Berlin mit einer desaströsen SPD nur für kümmerliche achtzehn Prozent reichte.“
Zur „Enteignung von Wohnungsbesitzern“: Mit dem Begriff „Radikalitäten aus Gesinnung“ entwertet Ulrich den Volksentscheid für ein „Gesetz zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen“ als „Gesinnungspolitik.“ Dafür waren 59,1 Prozent der Stimmen der Berliner Wahlberechtigten parallel zur Senatswahl 2021 abgegeben worden, 40,9 Prozent stimmt dagegen.
Mit der abschätzigen Formulierung „Möblierung der Friedrichstraße“ bezeichnet Bernd Ulrich den Versuch der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch, zusammen mit Baustadträtin Almut Neumann (Grüne) Berlins historische Mitte fußgängerfreundlicher zu gestalten. Die Friedrichstraße zwischen Französischer Straße und Leipziger Straße soll komplett und dauerhaft für den Autoverkehr gesperrt werden. „Damit kann und wird es eine deutliche Steigerung der Aufenthaltsqualität geben: bessere Luft, weniger Unfälle, mehr Raum für Fußgänger“, begründete Jarasch die Maßnahme. Am 30. Januar sollten einwöchige Bauarbeiten beginnen, etwa um Sitzgelegenheiten aufzustellen, die im Sommer begrünt werden. Für Ulrich ist auch das „Radikalität aus Gesinnung“.