Quelle: Übermedien, 25. Oktober 2022
„Die Vierte Gewalt“: Das Buch von Precht und Welzer ist fast so richtig wie die Bahn pünktlich
„Es ist eine durchaus bedeutende kulturelle Veränderung, wenn auf einmal jeder Trottel alles beurteilen können soll.“ Richard David Precht und Harald Welzer in: „Die Vierte Gewalt“
„Stern“-Interview mit Richard David Precht und Harald Welzer über: „Die Vierte Gewalt“
Frage: „Ist es nicht manchmal besser zu schweigen, wenn man wie Sie kein Experte ist?“
Richard David Precht: „Soll das heißen, man darf sich nur noch in der Öffentlichkeit äußern, wenn man ausgewiesener Experte ist, der über ein sicheres Zukunftswissen verfügt?“
Fehler? Nichts Gravierendes
Am Freitag habe ich auf der Frankfurter Buchmesse mit Richard David Precht und Harald Welzer über ihr Buch „Die Vierte Gewalt“ diskutiert. Ich habe dabei kritisiert, dass es so viele Fehler enthält und wirkt, als sei es gar nicht lektoriert worden – wenn wir bei Übermedien so schlampig arbeiten würden, wären wir längst bankrott.
Welzer sagte, er hätte „gar nicht den Anspruch, ein fehlerfreies Buch zu schreiben“, und verglich das mit der Bahn, die sich zum Ziel setzte, zu 80 Prozent pünktlich zu sein. „Da würde man sich wünschen, sie wären zu 100 Prozent pünktlich, aber sie wissen, dass es bestimmte Probleme in der Realisierung dieses Zieles gibt“. Bei den Büchern, die er geschrieben habe, habe er „bei größter Akribie und ganz doller Anstrengung hinterher immer wieder feststellen müssen, es gab da Fehler drin“.
Tatsächlich ist es eine besondere Ironie dieses Buches, dass die Autoren – zurecht – von den Qualitätsmedien mehr Qualität und dabei auch „mehr Sorgfalt“ fordern, selbst aber diese Sorgfalt vermissen lassen.
Der erstaunlich laxe Umgang von Precht und Welzer mit der Wahrheit
Einige Beispiele dafür haben wir hier schon behandelt. Es gibt falsche Unterstellungen und strategische Auslassungen. Es fehlen Hinweise auf Interessenskonflikte, wenn das Buch den konstruktiven Journalismus von „FuturZwei“ als beispielhaft erwähnt, ohne zu erwähnen, dass Welzer daran beteiligt ist. Und es gibt immer wieder scheinbare Belege für Prechts und Welzers Thesen, die sich bei genauerem Hinsehen als unpassend entpuppen.
- Alle Impfpflicht-Freunde außer eine?
Precht hat den Begriff „Cursor-Journalismus“ erfunden: Journalisten orientierten sich ängstlich und peinlich genau am „zappeligen Cursor des Zeitgeistes“ – und grenzten alles aus, was sie davon zu weit entferne. „Wichtig ist, dass man dort steht, wo die Mehrheit der Kollegen steht.“ Dabei wechsle dieser „Cursor“ sogar immer wieder seine Position.
Precht und Welzer zeigen die Wirkung am Beispiel einer Talkshow:
„So sah sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler im November 2021 in der „Hart aber Fair“ mit gleich vier Gegenspielern konfrontiert, die sich allesamt für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug legten, einschließlich des ebenso meinungsfreudigen Moderators Frank Plasberg. Die Leitmedien fielen anschließend fast geschlossen über die Philosophin her, ließen jeden Anstand vermissen und griffen sie persönlich an. Dabei hatte sich Flaßpöhler sehr wohl für das Impfen ausgesprochen, nicht aber für die pauschale undifferenzierte Verunglimpfung aller Ungeimpften und nicht für einen allgemeinen Impfzwang – eine Position, die der geltenden deutschen Rechtslage entsprach. Wenige Monate später wechselten auch die leitmedialen Impfplicht-Freunde wieder ins Lager der Skeptiker und Gegner über.“
Ich würde die „Hart aber fair“-Sendung tatsächlich als furchtbar misslungen bezeichnen, was nicht zuletzt daran lag, dass der Moderator einen ernsthaften Austausch von Argumenten immer wieder unterband. Es entstand unbestreitbar – und sogar in der Sendung thematisiert – auch eine ungute Alle-gegen-eine-Dynamik. Aber es war keineswegs so, wie Precht und Welzer es darstellen und möglicherweise aus dem Gedächtnis erinnerten: Keiner der vier Gegenspieler legte sich „für eine allgemeine Impfpflicht ins Zeug“. Im Gegenteil: Alle formulierten unterschiedlich starke Bedenken gegen eine solche Impfpflicht, teilweise auch gegen eine Impfpflicht für Pflegepersonal.
Die Diskussion drehte sich darum, durch welche Maßnahmen erreicht werden könnte, dass sich mehr Menschen impfen lassen – ohne eine Impfpflicht einführen zu müssen. Der Publizist Georg Mascolo sagte in der Runde: „Es ist eine der schrecklichsten Ideen, Impfpflichten zu verhängen.“
Der Dissens zu Flaßpöhler entstand dadurch, dass alle anderen sich für unterschiedliche Arten aussprachen, Druck auf Ungeimpfte auszuüben oder sogar drastisch zu verschärfen, was sie prinzipiell ablehnte und dafür plädierte, mündige Bürger nicht wie Kinder zu behandeln und ihnen Selbstverantwortung zuzugestehen.
Die Sendung taugt tatsächlich als Negativ-Beispiel dafür, wie wichtige gesellschaftliche Diskussionen nicht geführt werden sollten und welche Ausgrenzungs-Dynamiken in dieser Phase der Pandemie entstanden. Aber wenn man das kritisiert, muss man sich schon mit dem tatsächlichen Verlauf der Sendung befassen und kann nicht falsch behaupten, es hätten sich alle bis auf eine, dem imaginären „Cursor“ folgend, für eine Impfpflicht ausgesprochen, nur um kurz darauf auf unerklärliche Weise alle das Gegenteil zu wollen.
Aber so genau wollten sich Precht und Welzer wohl nicht damit befassen.
Sie kritisieren – zurecht – dass Medien Themen „verzweiseitigen“, das heißt: auf eine von zwei Extrempositionen, schwarz oder weiß, reduzieren. „Dass in der Migrationsfrage, der Frage der Coronamaßnahmen oder der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine viele Menschen in Deutschland keine eindeutige, sondern eine unentschiedene Meinung vertreten, kommt leitmedial praktisch kaum vor.“
Precht und Welzer selbst tun aber regelmäßig in ihrem Buch genau das und reduzieren etwa die Frage, ob Talkshows richtig besetzt sind, auf die Zahl der Vertreter, die sie vorher in genau solche binären Positionen einsortiert haben – auch wenn das deren tatsächlicher komplexer Meinung oder dem Diskussionsverlauf nicht wirklich entspricht.