Eine Vielzahl von Vereinen und Stiftungen fühlt sich durch das unklare Gemeinnützigkeitsrecht bedroht. Mehr als 130 Vereine und Stiftungen haben sich in der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ zusammen geschlossen https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/die-allianz/ , um das Gemeinnützigkeitsrecht zu modernisieren und die selbstlose politische Einmischung etwa für Grundrechte und gemeinnützige Zwecke abzusichern.
Ende Oktober 2019 hat die Kampagnen-Organisation Campact den Status einer gemeinnützigen Organisation verloren. Durch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit darf Campact keine Spendenbescheinigungen mehr ausstellen, auch Mitgliedsbeiträge sind nicht mehr steuerlich absetzbar. Die entsprechende Entscheidung hat das Berliner Finanzamt für Körperschaften dem Verein nach Prüfung der Jahre 2015 bis 2017 schriftlich mitgeteilt. Campact sei überwiegend „allgemeinpolitisch tätig gewesen und habe Kampagnen zu Themen durchgeführt, die keinem gemeinnützigen Zweck der Abgabenordnung zugeordnet werden“ könnten, begründete das Finanzamt seine Entscheidung. „Auch handelt es sich bei den Kampagnen nicht um politische Bildung. Im Vordergrund stand nicht die Information über politische Prozesse, sondern vielmehr die Einflussnahme auf diese“, hieß es im Steuerbescheid für 2016.
Der Schritt kam nicht überraschend, nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) Ende Februar dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac die Gemeinnützigkeit aberkannt hatte. Der BFH betonte damals ausdrücklich, dass es nicht um die politischen Inhalte von Attac gehe, sondern um die Grundsatzfrage, ob „allgemeinpolitische Tätigkeit“ mit der Gemeinnützigkeit vereinbar sein könne. Das verneinten die Richter, weil dies im Steuerrecht so nicht vorgesehen ist.
Nichtregierungsorganisationen fordern die Politik auf, die förderwürdigen Zwecke zu erweitern.
Der Fall Campact zeige, dass die Sorge Tausender Vereine und Stiftungen seit dem Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs berechtigt sei, sagte Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“. „Der Bundestag muss zügig Rechtssicherheit schaffen und das gemeinnützige Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit absichern“, so Diefenbach-Trommer.
Am 4. November 2019 hat das Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin der Bundesvereinigung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) e.V. die Gemeinnützigkeit entzogen. Damit verbunden sind vorerst Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe, die noch in diesem Jahr fällig werden. Weitere erhebliche Nachforderungen sind zu erwarten und auch zukünftig drohen wesentlich höhere steuerliche Belastungen. Damit ist die VVN-BdA in ihrer Existenz bedroht. Im bayerischen Verfassungsschutzbericht wird die VVN-BdA erwähnt. Im Januar 2019 wurden sowohl die Bundesvereinigung mit Sitz in Berlin als auch zahlreiche andere Orts- und Kreisverbände vor allem in Nordrhein-Westfalen und auch der dortige Landesverband von den jeweiligen Finanzämtern angeschrieben. Die Finanzämter erklärten, die Gemeinnützigkeit aufgrund der Erwähnung im bayerischen Verfassungsschutzbericht zu prüfen. Die Vereine antworteten mit gleichlautenden Stellungnahme. Darin wird u.a. darauf hingewiesen, dass der Verfassungsschutz Bayern die VVN-BdA ledglich als „linksextremistisch beeinflusst“ erwähnt. Der Bundesfinanzhof (BFH) dagegen verlange, dass die betreffende Körperschaft in einem Verfassungsschutzbericht „als extremistische Organisation aufgeführt“ ist, was nur der Fall ist, wenn sie dort ausdrücklich als extremistisch bezeichnet wird, nicht aber wenn die Körperschaft nur als Verdachtsfall oder sonst beiläufig Erwähnung findet. Im Schreiben wird auch erwähnt, dass die Aussage des bayerischen Berichts nicht für andere Untergliederungen gelten kann.
Das Finanzamt Berlin handelt anders, als das Finanzamt Oberhausen-Süd. Dieses hatte der der Landesvereinigung NRW die Gemeinnützigkeit am 22. Oktober gewährt. In beiden Fällen war derselbe Vorwurf erhoben worden. Während das Finanzamt Oberhausen-Süd der Widerrede der VVN-BdA im Anhörungsverfahren entsprach, beharrt das Berliner Finanzamt darauf, dass „der volle Beweis des Gegenteils, als Widerlegung der „Vermutung als extremistische Organisation“ nicht erbracht worden sei. Das bedeutet, dass die Bewertung durch eine nachgeordnete bayrische Landesbehörde, die laut bayrischem Gerichtshof keine Tatsachenbehauptung darstellt, demnach über das Schicksal einer bundesweit arbeitenden zivilgesellschaftlichen Organisation entscheiden dürfen soll.
Von Überlebenden der Konzentrationslager und Gefängnisse 1947 gegründet, ist die VVN-BdA die größte, älteste, überparteiliche und überkonfessionelle Organisation von Antifaschist/innen Deutschlands. Sie vertritt die Interessen von Verfolgten und Widerstandskämpfern, sowie deren Nachkommen, tritt für Frieden und Völkerverständigung ein und hat gegen große gesellschaftliche Widerstände wesentlich dafür gesorgt, dass die Verbrechen des Nazi-Regimes nicht in Vergessenheit geraten sind, u.a. durch den Einsatz für die Errichtung von Gedenkstätten und Erinnerungsorten und vielfache Zeitzeugenarbeit. Sie informiert über aktuelle neofaschistische Umtriebe und organisiert den Widerstand in breiten Bündnissen.
Im Pressestatement der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ zur Gemeinnützigkeit der VVN-BdA wird ausgeführt: Zur heutigen Mitteilung, dass das Finanzamt Berlin den Status der Gemeinnützigkeit der Bundesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) aberkannt hat, erklärt Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“:
„Der Fall der VVN-BdA zeigt erneut Probleme im Recht der Gemeinnützigkeit. Natürlich müssen gemeinnützige Organisationen sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. … Doch in Paragraph 51 der Abgabenordnung wird die Beweislast umgedreht. Demnach müssen nicht Finanzamt oder Verfassungsschutz beweisen, dass ein Verein verfassungswidrig handelt, sondern die Organisation muss ihre Verfassungstreue beweisen. Das ist praktisch unmöglich und eine Umkehrung des Rechtsstaatsprinzips. Wie soll ein Verein beweisen, dass er verfassungstreu ist außer durch einen Schwur? Der betroffene Verein weiß gar nicht, welche Beweise er widerlegen muss, da der Verfassungsschutz nur seinen Schluss veröffentlicht, aber nicht die Beweisführung. In einem Strafverfahren muss der Staat die Schuld beweisen, nicht der Beschuldigte seine Unschuld. Bei einem Vereinsverbot muss ebenso das Innenministerium gerichtsfest darlegen, warum ein Verein aufgelöst wird. In der Gemeinnützigkeit wird dies umgekehrt. Deshalb fordert die Allianz ‚Rechtssicherheit für politische Willensbildung‘, die formelle Regelung in Paragraph 51 Absatz 3 Satz 2 zu streichen. Sonst sind gemeinnützige Organisationen von der unbewiesenen Einschätzung eines beliebigen Amtes für Verfassungsschutz abhängig.“
Das Attac-Urteil wirkt auch auf kleine Vereine: Das örtliche Finanzamt hat dem soziokulturellen Zentrum „Demokratisches Zentrum Ludwigsburg – Verein für politische und kulturelle Bildung“ (DemoZ) aus Baden-Württemberg am 24. Oktober die Gemeinnützigkeit aberkannt.
Unsere sehr besorgte Frage lautet: Welche Initiative/Gruppierung wird die nächste sein, der die Gemeinnützigkeit aberkannt wird? Ein erster kleiner Schritt, den wir deshalb unbedingt gemeinsam gehen müssen, ist der Protest durch eine Unterschrift unter die Petition bei open petition: https://www.openpetition.de/petition/online/die-vvn-bda-muss-gemeinnuetzig-bleiben