Prof. Angus Deaton: “ Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

ZEIT online Interview: Johanna Roth7. April 2020

Angus Deaton:„Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“

Kaum ein Ökonom kennt die US-Arbeiterschicht besser als Angus Deaton. Er sagt: Ihnen ging es schon seit Jahrzehnten schlecht. Nicht erst seit der Corona-Krise.

Während die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland steigt, sinkt sie in einem der reichsten Länder der Erde: Das Phänomen der sogenannten „Deaths of Despair“ – Verzweiflungstode – erschüttert die US-amerikanische Öffentlichkeit. Seit den Neunzigerjahren steigt die Sterblichkeit unter weißen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern zwischen 45 und 54 Jahren immer weiter an. Die Menschen sterben an Alkoholmissbrauch, an einer Überdosis Drogen oder durch Suizid.

Die Ursache ihrer Verzweiflung ist die zunehmende wirtschaftliche Ungerechtigkeit, argumentieren die Ökonomen Angus Deaton und Anne Case in ihrem neuen Buch „Deaths of Despair and the Future of Capitalism“. Der 1945 geborene Sir Angus Deaton ist Professor für Ökonomie an der Princeton University und Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften. Gemeinsam mit seiner Frau Anne Case, emeritierte Professorin für Ökonomie in Princeton, forscht er seit mehreren Jahren zum Thema der Verzweiflungstode.

ZEIT ONLINE: Herr Professor Deaton, in Ihrem aktuellen Buch, das Sie mit Ihrer Frau Anne Case verfasst haben, beschreiben Sie, wie viele weiße Amerikaner mittleren Alters ohne Hochschulabschluss vorzeitig sterben – durch Suizid, Alkohol oder Drogen, bedingt durch Verzweiflung über den sozialen Abstieg. Im Zuge der Corona-Krise haben sich schon zehn Millionen US-Amerikaner arbeitslos gemeldet. Befürchten Sie, dass solche Verzweiflungstode in der Arbeiterschicht jetzt zunehmen werden?

Angus Deaton: Natürlich wird die Corona-Krise die Lebenssituation vieler Arbeiter noch schwieriger machen. Wie Sie wissen, haben wir eine sehr hohe Corona-Infektionsrate in den Vereinigten Staaten, und das Social Distancing wird eine ganze Weile anhalten müssen. Insofern werden noch viel mehr Menschen ihre Jobs verlieren. Allerdings glaube ich nicht, dass deshalb zwangsläufig mehr Leute sterben werden.

ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.

Deaton: Selbst während der Weltwirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts war die Sterblichkeit insgesamt niedrig. Es gab zwar mehr Suizide, aber es gab weniger Verkehrsunfälle, weil weniger Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Ich habe erst heute wieder gelesen, dass die Krankenhäuser in New York vergleichsweise wenig Patienten ohne Coronavirus haben, weil zum Beispiel weniger Unfälle auf dem Bau passieren. Und auch die Pflege ist paradoxerweise in Zeiten der Rezession besser: Wenn die Wirtschaft boomt, haben es Altenheime oft schwer, Personal zu finden, weil sich dann alle besser bezahlte Jobs suchen. Geht es der Wirtschaft schlecht, nehmen mehr Leute Jobs in der Altenpflege an. Auch das mag einige Leben retten.

ZEIT ONLINE: Aber trotzdem befinden sich die USA am Rand einer schweren Wirtschafts- und Gesundheitskrise, die viele Ihrer Kollegen als noch fataler einschätzen als die Grippewelle nach dem Ersten Weltkrieg und den Börsencrash wenige Jahre später.

Deaton: Die Zustände, die wir beschreiben, haben sich über einen sehr langen Zeitraum angebahnt. Nicht kurzfristige wirtschaftliche Verwerfungen lassen die Menschen früher sterben, sondern langfristige. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der Tod aus Verzweiflung ein systematisches und sehr viel langwierigeres Phänomen ist als eine Rezession.

ZEIT ONLINE: Welche Verwerfungen meinen Sie? In der Einleitung von Deaths of Despair schreiben Sie: „In Amerika geht etwas um, das die Arbeiterschicht vergiftet.“ Was genau ist dieses „etwas“?

Deaton: Die Löhne steigen zu langsam, vor allem aber werden sehr viele einfache Jobs mit zunehmendem technologischem Wandel aussortiert. Was die Dinge in den USA so viel schlimmer macht als anderswo, ist, dass es dort keinen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild gibt. Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung. Das ist seit Langem bekannt, aber die USA sind das einzige Land vergleichbaren Wohlstands, das die Augen vor dieser Tatsache verschließt.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die defizitäre Krankenversicherungsstruktur?

Deaton: Die Gesundheitsversorgung beruht auf einem System, das total aufgebläht ist. Die USA geben inzwischen 18 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, mehr als für das Militär. Die Sache ist nur: Die Menschen bekommen dafür nichts als Nachteile. Häufig läuft die Krankenversicherung über den Arbeitgeber, und das wiederum drückt die Löhne. Oft ist es schlicht nicht möglich, Arbeitnehmern einen anständigen Lohn zu zahlen und für ihre Krankenversicherung aufzukommen. Die Folge: Viele gute Jobs fallen weg, zugunsten von schlecht bezahlten.

ZEIT ONLINE: Warum ein Buch über Sterblichkeit? Was erzählt sie uns über eine Gesellschaft?

Deaton: Sie verdeutlicht, was schiefläuft. In den USA gibt es schon lange eine Debatte darüber, ob es der Arbeiterschicht wirklich so schlecht geht. Aber den Tod kann man nicht vortäuschen. Wenn Leute anfangen, an Armut zu sterben, dann kann man nicht behaupten, dass sie nur so tun.

ZEIT ONLINE: Sterben die Menschen wirklich an Armut? Sie verhungern ja nicht, sondern verzweifeln, wie es auch im Titel Ihres Buchs heißt.

Deaton: Die wirtschaftliche Schieflage ist das eine. Schlimmer ist der Zerfall sozialer Gemeinschaften, der daraus folgt. Gute Jobs und angemessene Löhne sind die Grundlage für ein langes und gesundes Leben. Sie können noch so gut pflanzen, wenn der Nährboden nicht stimmt, wird nichts gedeihen. Mit der Zeit ist dieser Boden in den Vereinigten Staaten immer weniger nährstoffhaltig geworden, und das zeigt sich auch im Zusammenleben. Viele Eltern leben von ihren Kindern entfernt, weil sie für einen Job weit wegziehen mussten. Kirchen werden weniger, Gewerkschaften werden weniger. Die Gewerkschaften fallen hier doppelt ins Gewicht, denn sie sorgten einst nicht nur für höhere Löhne, sondern waren auch ein wichtiger Faktor des sozialen Lebens.

ZEIT ONLINE: Und jetzt kommt noch die Corona-Krise dazu.

Deaton: Es ist sehr schwer, vorauszusagen, was mit dem Arbeitsmarkt passiert. Aber es ist ganz offenkundig eine sehr schlechte Zeit, eine arbeitgeberbasierte Gesundheitsversorgung zu haben. Ein großer Teil der Menschen, die in den vergangenen Wochen ihren Job verloren haben, wird mit Ablauf des Monats auch ihre Krankenversicherung verlieren. Zwar gibt es das sogenannte Cobra-Gesetz, nach dem man seinen Versicherungsschutz über die Kündigung hinaus verlängern kann. Aber das bedeutet, dass man den Arbeitgeberanteil selbst zahlen muss. Und Obamacare ist abhängig von dem Bundesstaat, in dem man lebt.

Dazu kommen noch die Menschen, die trotz Job nicht versichert waren. Aber auch vor der Corona-Krise war es nie nur eine Ursache, sondern ein Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, das zu diesen Toden führt. Die Menschen, über die wir schreiben – also weiße Arbeiter in der Mitte ihres Lebens –, sterben an Drogen, an Leberzirrhosen oder durch Suizid. Das sind ja alles Dinge, die sie sich selbst zufügen. Was allerdings dazu führt, dass sie das tun, ist wesentlich komplexer als „nur“ ein schlechtes Gesundheitssystem. Es ist nicht einfach so, dass weniger sterben würden, wenn sie nur eine bessere Krankenversicherung hätten. Für das, was die Menschen ursächlich quält, gibt es keine Krankenhausbehandlung.

„Ohne Arbeit fällt die Bedeutung der gesamten Existenz weg“

ZEIT ONLINE: Aber ist es nicht auch ein Fehler des Gesundheitssystems, dass man in den USA so leicht an Opiate kommt und viele deshalb abhängig werden?

Deaton: Das stimmt schon. Im deutschen Gesundheitssystem würde ein Hausarzt seine Patienten nicht einfach mit einer Monatsration Opiate nach Hause schicken. In den USA schon. Das liegt aber nicht am Versichertenstatus, sondern daran, dass ein Pharmaunternehmen wie das der Sackler-Familie, die Milliarden Dollar mit dem Tod von Menschen verdient hat, vom profitorientierten System geradezu ermutigt wird, den Markt mit seinen Präparaten zu überschwemmen.

ZEIT ONLINE: Kurz gesagt: Der Kapitalismus bringt die Leute um?

Deaton: Die Verzweiflung darüber, dass ein gutes, einfaches Leben nicht mehr existiert. Weil eben dieser Nährboden, von dem ich sprach – gute, sichere Jobs für Menschen ohne Hochschulbildung –, immer mehr austrocknet. Ohne Arbeit fällt nicht nur das Einkommen weg, sondern in vielen Fällen die Bedeutung der gesamten Existenz. Und so sind die Menschen leichte Ziele für jede Selbstmedikation, die Ablenkung verspricht. Das wiederum ist fruchtbarer Nährboden für Pharmaunternehmen, die Oxycodon vertreiben. Oder für das Glas Whiskey beim Nachhausekommen, wobei das im Vergleich zu Opiaten relativ teuer sein dürfte.

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch zeigen Sie auf, dass ein Collegeabschluss eine Art Wasserscheide darstellt zwischen jenen, die ein gutes Leben haben, und jenen, die abrutschen. Warum hat das so eine Bedeutung?

Deaton: Vier Jahre Bachelorstudium entscheiden maßgeblich darüber, ob Sie später einen guten Job bekommen oder nicht. Aber das Problem beginnt im Grunde viel früher. Das US-amerikanische Bildungssystem ist vom Kindergarten an darauf ausgelegt, dass man später auf ein College geht. Aber das kann natürlich nicht jeder. Auch, aber nicht nur aus finanziellen Gründen.

ZEIT ONLINE: Wäre es da nicht eine gute Strategie, den Zugang zu den Hochschulen zu erleichtern?

Deaton: Für die, die gern auf ein College möchten, sicher. Aber es will ja gar nicht jeder studieren! In anderen Ländern haben Sie viel differenziertere Wege ins Berufsleben, und es gibt längst nicht so ein soziales Stigma gegenüber einfachen Jobs wie hier in einer Hightech-Arbeitsgesellschaft.

ZEIT ONLINE: Das mit dem Stigma wundert mich. Ist nicht der „amerikanische Traum“ gerade frei von solchen Hierarchien?

Deaton: Das stimmt. Aber die Umstände haben sich geändert. In unserer heutigen Industriegesellschaft hängt sehr viel mehr von kognitiven Fähigkeiten ab als früher. Mein Schwager erzählte mir von seiner Entscheidung in den Sechzigerjahren, aufs College zu gehen. Seine Freunde sagten: Spinnst du? Wofür brauchst du denn einen Hochschulabschluss? Damit kannst du doch deine Miete nicht bezahlen! Inzwischen ist es umgekehrt.

ZEIT ONLINE: Warum sind gerade die weißen Männer und Frauen mehr von den Deaths of Despair betroffen?

Deaton: Das sind sie gar nicht. Der afroamerikanische Teil der Bevölkerung hat diese Verzweiflung schlicht zwei Jahrzehnte früher erlitten. Ab den Sechzigerjahren, als viele Unternehmen aus den großen Städten herausverlagerten, wurden schwarze Communitys von genau derselben Desintegration heimgesucht, wie es ab Mitte der Neunzigerjahre den Weißen passierte und bis heute anhält.

ZEIT ONLINE: Donald Trump wurde 2016 maßgeblich von genau den Leuten ins Amt gewählt, die Sie beschreiben: Angehörige der weißen Mittel- und Arbeiterschicht ohne Hochschulabschluss. Wieso glauben gerade sie an ihn? Ist er als milliardenschwerer Unternehmer nicht die Personifikation des Systems, unter dem sie leiden?

Deaton: Ich bin kein Politologe und kann nicht sagen, warum sie an Donald Trump glauben, aber ich weiß, warum sie nicht an Hillary Clinton geglaubt haben. Seit den Siebzigerjahren haben sich die Demokraten kontinuierlich zu einer Akademiker- und Elitenpartei entwickelt. Die weiße Arbeiterschicht in den USA hat schon lange keinen Anlass mehr, sich politisch repräsentiert zu fühlen.

ZEIT ONLINE: Dabei ging es der US-Wirtschaft in den vergangenen Jahren ja wieder besser. Trump nimmt sogar für sich in Anspruch, für ein Jobwunder gesorgt zu haben. Wie passt das zu Ihren Beobachtungen?

Deaton: Es stimmt zwar, dass sich die USA von der Finanzkrise 2008 erholt haben, und es stimmt auch, dass es einen Aufwärtstrend bei den Löhnen für Nichtakademiker gab. Aber ihre Löhne waren kurz vor der Corona-Krise immer noch niedriger als zu einem beliebigen Datum in den Achtzigern. Das war also eher ein Ausschlag nach oben in der großen Abwärtskurve der vergangenen 40 Jahre. Dasselbe gilt für Jobs: Auch wenn man sich auf den ersten Blick über einen Peak in der Beschäftigungsstatistik freuen darf, verfliegt das schnell, wenn sich herausstellt, dass er niedriger ist als der vorherige.

Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie

| Christoph Butterwegge* – Quelle: Blickpunkt WiSo – 8. April 2020

Seit geraumer Zeit wächst die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland. Von den meisten Bewohner(inne)n eher in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verortet, hat sich die Ungleichheit vor allem beim Vermögen zuletzt auch in der Bundesrepublik ausgebreitet. 45 Familien besitzen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen.

Der in wenigen Händen konzentrierte Reichtum schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet auch die Demokratie, weil man politisch umso einflussreicher ist, je vermögender man ist. Weil der Sozialstaat demontiert, der Arbeitsmarkt dereguliert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip »Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen« gemacht worden ist, schwindet bei den Verlierer(inne)n das Vertrauen in die Institutionen des parlamentarisch-demokratischen Repräsentativsystems. Die daraus resultierende Neigung, sich nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, stärkt wiederum jene politischen Kräfte, die den Privilegien mächtiger Interessengruppen verpflichtet sind.

Corona und die illusionäre Hoffnung auf mehr Gleichheit

Vor allem Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien bzw. Pandemien haben in der Vergangenheit oft dafür gesorgt, dass die Ungleichheit nicht überhandnahm. Was man als Gesetz der egalisierenden Wirkung von Epidemien bezeichnen kann, wird durch die Corona-Krise jedoch vermutlich außer Kraft gesetzt. Dafür sprechen jedenfalls manche Indizien, und zwar sowohl im globalen Maßstab wie auch im nationalen Rahmen.

»We’re about to learn a terrible lesson from coronavirus: inequality kills« (»Das Coronavirus wird uns eine schreckliche Lektion erteilen: Ungleichheit tötet«) überschrieb Owen Jones im Guardian (14.3.2020) einen Kommentar, in dem er die jahrzehntelange »Sparpolitik« der konservativen Torys dafür verantwortlich machte, dass Großbritannien den sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen der Pandemie nicht gewachsen sei.

Auch ein teilprivatisiertes, kommerzialisiertes und gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem wie das deutsche garantiert keine optimale medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen keine Versorgungssicherheit. Budgets sowie das von der CDU/CSU/FDP-Koalition unter Helmut Kohl eingeführte und von der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder allgemein verbindlich gemachte Fallpauschalensystem für die Krankenhäuser sind kontraproduktiv im Hinblick auf die Extrembelastung durch eine Pandemie.

Zwar sind die Aktienkurse in Deutschland wie an sämtlichen Börsen der Welt schlagartig eingebrochen, dramatische Verluste haben aber vor allem Kleinaktionäre gemacht, die zu Panikreaktionen und sofortigen Verkäufen neigen, während Spekulanten die Gunst der Stunde für Ergänzungskäufe zu niedrigen Kursen genutzt haben dürften. Hedgefonds und Finanzkonzerne wie BlackRock haben sogar auf fallende Kurse gewettet und dabei riesige Extraprofite realisiert.

Die größten Konzerne mit den reichsten Chefs gehören offenbar ebenfalls zu den Hauptprofiteuren der Corona-Krise. Amazon weitet sein Geschäft aus und stellt Zehntausende zusätzliche Picker ein, um den Boom im Versandhandel zu bewältigen. Jeff Bezos, ohnehin reichster Mann der Welt, vergrößert sein Vermögen aufgrund der Corona-Krise. Kleine Buchhändler/innen, die viele Leser vor Ort beraten und mit Lesestoff versorgt haben, fürchten angesichts der Pandemie, der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen mehr denn je um ihre materielle Existenz.

Durch die Schulschließungen und das Homeschooling erhalten vermutlich E-Learning und Digitalisierung in Deutschland starken Auftrieb. Da der digitale Unterricht die Schüler/innen aus eher armen Elternhäusern benachteiligt, weil sie entweder nicht über die nötigen Geräte (Smartphones, Tablets und Drucker) verfügen oder damit weniger gut vertraut sind, nimmt die vorhandene Privilegierung der Kinder aus bessergestellten Familien noch zu.

Hauptbetroffene der Pandemie und Schlussfolgerungen

Die Corona-Krise wirkt sich nicht allein auf die Immunschwachen, sondern auch auf die Einkommensschwachen fatal aus. Einerseits haben viele Tafeln geschlossen, andererseits sinken die Einnahmen von Bettler(inne)n, Pfandsammler(inne)n und Verkäufer(inne)n von Straßenzeitungen, weil die Straßen leergefegt sind und alle eine Infektion fürchten. Damit wird die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört.

Auch von den Rettungspaketen für die Unternehmen kommt im Kellergeschoss der Gesellschaft wenig an. Während die Arbeitgeber ihre Lohnkosten durch die modifizierte Regelung zum Kurzarbeitergeld vollständig erstattet bekommen (einschließlich ihrer Beiträge zur Sozialversicherung), kommen Arbeitnehmer/innen höchstens auf 67 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens, und zwar auch nur dann, wenn sie unterhaltsberechtigte Kinder haben.

Alle übrigen Kurzarbeiter/innen bekommen sogar nur 60 Prozent, wobei Sonderzahlungen wie Nachtzuschläge unberücksichtigt bleiben. Mehr als eine Million Senior(inn)en bessern ihre Rente durch einen Minijob auf, darunter fast 200.000 Menschen, die 75 Jahre oder älter sind. Wenn ihr Arbeitgeber keine Aufträge mehr hat und in wirtschaftliche Bedrängnis gerät, erhalten sie im Unterschied zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kein Kurzarbeitergeld.

Gemeinschaftssinn, Mitmenschlichkeit und soziales Verantwortungsbewusstsein bleiben auf der Strecke, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Aber die Corona-Pandemie bietet neben großen Gefahren, zum Beispiel einer Beschneidung der Grundrechte sowie einem weiteren Ausbau des staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Repressionsapparates, den manche Länder derzeit erleben, auch gewisse Chancen. Falls sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die Sozial- und Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte unserem Gemeinwesen geschadet hat und Solidarität statt Wettbewerbswahn und Ellenbogenmentalität herrschen muss, hätte das Virus für die Gesellschaft am Ende auch etwas Gutes bewirkt.

Die soziale und mit ihr die Verteilungsfrage müssen wieder größere Aufmerksamkeit finden, soll der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Zwar sind es nicht bloß ökonomische Konfliktlinien, die das Land zerreißen, aber wenn sich die Ungleichheit von Eigentum, Einkommen und Vermögen im Gefolge der Pandemie erhöht, kann sich die Bundesrepublik nicht friedlich, demokratisch und human entwickeln.

Auch die Bewältigung der ökologischen Probleme hängt von einer Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit ab, denn Klima-, Natur- und Umweltschutz stoßen an die Grenzen eines Wirtschaftssystems, das auf einer privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und damit auf der Profitgier seiner Hauptakteure beruht.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Jahrgang 1951) gilt als einer der profiliertesten Armutsforscher der Bundesrepublik. Er hatte zuletzt von 1998 bis  2016 eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln (Humanwissenschaftliche Fakultät) innen und ist seither emeritiert. 

Corona-Krise: Kritik an der Rubikon-These: „Die Welt hat einen Männerschnupfen.“

Corona-Krise: Kritik an der Rubikon-These: „Die Welt hat einen Männerschnupfen.“ Beitrag von Florian Kirner (7. April 2020).

Quelle: Die Freiheitsliebe. Dein Portal für einen kritischen Journalismus.

Weite Teile des digitalen, alternativen Mainstreams sind in Anbetracht der Corona-Krise auf die gleiche Linie eingeschwenkt. Demnach haben wir es mit einem Staatsstreich zu tun, der den neuen Faschismus einführt. Covid-19 selbst sei dagegen „nicht schlimmer als die Grippe“ oder gar: „ein Fake“. Rubikon ist unter der energischen Führung seines Herausgebers Jens Wernicke federführend für diese Linie. Florian Kirner findet sie verantwortungslos und kritisiert, dass alles, was wir dem Mainstream-Journalismus vorwerfen, nun auch im Bereich der „alternativen“ Medien zu beobachten ist.

„Die Welt hat Männerschnupfen.“ So fasst ein Autor des Rubikon die Gefährlichkeit des Corona-Virus zusammen. Männerschnupfen, das ist also dieser scherzhafte Ausdruck für die selbstmitleidige Hysterie, die die Herren der Schöpfung bei jeder noch so harmlosen Erkältung befällt.

Wer ist der Mann, der dies so schreibt? Was qualifiziert ihn zu dieser Aussage? Ist er Mediziner? Virologe? Epidemiologe? Hat er nennenswerte wissenschaftliche Kenntnisse in für die Corona-Einschätzung relevanten Fachgebieten?

Nun, es handelt sich um einen Studenten der Politologie und der Theaterwissenschaften. Auf meine kritische Nachfrage erfahre ich, er habe sich allerdings „bereits seit Wochen“ mit dem Thema beschäftigt, und zwar: „intensiv“.

In einem neuen Video-Gespräch des Rubikon erfahren wir: „Vermutlich handelt es sich dabei um eine ziemlich normale grippale Infektion.“ Der, der diese Einschätzung tätigt, ist Kulturwissenschaftler und Theaterdramaturg. Inzwischen äußern sich im Rubikon auch Realschullehrer und gelernte Elektriker zu virologischen Fragen.


Von Florian Kirner. Er studierte Anglo-Amerikanische Geschichte, Japanologie und Mittlere und Neue Geschichte an der Universität zu Köln, sowie Internationale Beziehungen an der Sophia Universität Tokio. Er ist außerdem Aktivist, Liedermacher und betreibt seit 2008 ein alternatives Projekt auf Schloss Weitersroda in Südthüringen. Er hat das Magazin „Rubikon“ 2017 mit aus der Taufe gehoben.

Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit

Auszug aus dem Positionspapier „Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit. Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand“. Herausgeber: Institut für solidarische Moderne (ISM): Nach dem Neoliberalismus _vor der Neuen Zeit Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand ISM 30.3.20

„Gibt es zurzeit auf die Krise keine allgemeingültigen, einfachen Antworten, hat sich doch ein offener Raum für kritische Fragen und neue Ideen geöffnet. Der stählerne Vorhang der neoliberalen Vergesellschaftung ist heruntergekracht. Und jetzt – wohin?

Es ist schön, dass Rewe den Mitarbeiter*innen eine Prämie zahlen will. Der Applaus, die Transparente auf den Balkonen sind moralisch eine Unterstützung für die Arbeiter*innen im Gesundheitswesen.

Dass es einen breiten Konsens dafür gibt, dass die Kosten der Krise nicht umstandslos sozialisiert werden dürfen, sondern genau gefragt werden muss, wer wofür aufkommen soll, ist richtig. Doch braucht es jetzt ein zivilgesellschaftliches und politisches Bündnis, das aus diesen ersten Einsichten Konsequenzen zieht und Politik im eminenten Sinn des Wortes auch durchsetzen kann – und sei’s auf mittlere Sicht.

Zunächst muss dafür die Zeit des Lockdowns genutzt werden, Strategien zu entwickeln für die anstehenden Deutungskämpfe um die Krise:

  • Wie werden die neuen Staatsschulden interpretiert werden?
  • Wie ist eine Neuauflage von Austeritätspolitiken zu verhindern?
  • Wie können stattdessen endlich die großen Vermögen besteuert und die soziale Infrastruktur ausgebaut werden?

Emanzipative Perspektiven haben dann größere Chancen, wenn sie auf den widersprüchlichen Krisenerfahrungen aufbauen: Auf der Relevanz der Care-Tätigkeiten – sowohl in den Pflegeberufen als auch in den eingeschlossenen Familien –, auf den wahrnehmbaren Veränderungen der Naturverhältnisse, dem massiv verringerten Verkehr auf der Straße und in der Luft, auf den entstandenen solidarischen Netzwerken und der gesellschaftlichen Schwarmintelligenz bei der Lösung von Problemen.

Wir sind vorgewarnt durch die Verarbeitung der letzten großen Krise, die die neoliberalen Politiken weiter gestärkt statt geschwächt haben. Einer Wiederholung müssen wir uns entgegenstemmen. 

In diesem Kontext wird die Bundestagswahl 2021 tatsächlich eine Richtungsentscheidung werden. Sie wird die Bereitschaft für eine sozial-ökologische Transformation zur Wahl stellen.

Für den Anfang können dabei wirksame finanzielle Programme im Blick auf Solidarität, Gemeingüter und ein freies und gleiches Gemeinwesen in den Fokus gestellt werden. Es genügt nicht, die Hartz IV-Bürokratie für sechs Monate abzubauen. Die aktuelle Krise wird Arbeitslosigkeit, Insolvenzen und Armut produzieren. Kleine Unternehmen, Freiberufler*innen, Künstler*innen etc. werden erst einmal Jobs und Einkommen verlieren.

Es bietet sich geradezu an, das Hartz-IV-Regime jetzt grundlegend zu reformieren. 200 Euro mehr für die Bezieher*innen im SGB II sichern nicht nur die materielle Existenz, sondern tragen zugleich dazu bei, den Konsum anzuregen. Die Diskussion um ein repressionsfreies Grundeinkommen, zumindest für die jetzt Betroffenen, könnte einen tieferen Charakter und eine weiter reichende Dynamik entwickeln.

Nicht nur die Gesundheitssysteme sind in der Krise an ihre Grenzen gestoßen. Vielen wurde deutlich, dass die Privatisierungen das Gegenteil von dem erreichten, was sie vorgaben. Machen wir diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt der Debatten um die öffentliche Daseinsvorsorge.

  • Die Konflikte um die Wohnungsnot in den Metropolen zeigen, wie dafür Mehrheiten gewonnen werden können.
  • Gesundheit, Bildung, Verkehr, Energie, Teile der Immobilien gehören wieder in die öffentliche Hand.
  • Die Eigentumsfrage kann und muss auf der Tagesordnung bleiben, ohne durch Verstaatlichungen beantwortet werden zu müssen: Vergesellschaftung kann anders und besser funktionieren.
  • Hier könnten die vielen Projekte in solidarischen, genossenschaftlichen, kooperativen, kommunalen u.a. Eigentumsformen, die sich in den Nischen des Kapitalismus unter schwierigen Bedingungen eingerichtet haben, abgesichert und erweitert werden: als Einstiegsprojekte in eine andere politische Ökonomie.

Mittelfristig braucht der Umbau der Wirtschaft hin zu einer sozial-ökologischen Produktion zwei grundlegende Neuorientierungen der Eigentumsordnung und der Gestaltung und Zielsetzung der Produktion.

  • Es genügt nicht, VW oder BMW zu verstaatlichen, damit künftig Bürokrat*innen die Profitrate überwachen.
  • Es muss um die Demokratisierung der Wirtschaft gehen. Wenn der Staat eingreift – und das wird erforderlich sein – brauchen Unternehmen pluralistisch zusammengesetzte Aufsichts-Verwaltungsräte, denen Vertreter*innen aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden angehören. Erst dann können Produktion und Distribution neu definiert werden.

Es wird kein leichtes Unterfangen, dies in Interessenkonflikten und -konkurrenzen um Absatz und Ressourcen unter nachhaltiger Berechnung der ökologischen Kosten zu tun. Eine rein nationalstaatlich orientierte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Ökologiestrategie wird dabei nicht tragen, nicht einmal die schon in den ersten Schritten unumgängliche europäische Flankierung und Einbettung: weil eine neue Produktions- und Reproduktionsweise letztlich nur eine globale sein kann. Auch das lehrt uns, wenn wir genau hinsehen und zuhören, die Corona-Krise.

Die gesellschaftliche und politische Linke steht daher vor großen Herausforderungen. Dabei steht sie nicht vor der sowieso völlig halt- und sinnlosen Alternative Klassen-oder Identitätspolitik, weil beide nur im Schritt über sie hinaus zur Grundlage einer gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Transformation werden können. Es wird um Politiken gehen, in denen Freiheit die Voraussetzung, Gleichheit der Weg und das allseits realisierte Menschenrecht die Bewährung ist. Die Allgemeinheit dieser Verständigung im Grundsätzlichen schließt die mühselige Verständigung über die nächsten Schritte und ein dabei leitendes Sofortprogramm beginnender sozialökologischer Transformation nicht aus, sondern ausdrücklich ein.“

Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Prof. Dr. Rudolf Hickel

Wer trägt die langfristigen Kosten der Covid-19-Wirtschaftskrise – Solidarischer Lastenausgleichsfonds mit einer Vermögensabgabe

Die aktuelle Finanzpolitik hat sich zumindest am Anfang der Corona-Krise als handlungsfähig erwiesen. Unter dem gigantischen Druck der unmittelbaren Folgen der Covid-19-Wirtschaftskrise sind Maßnahmen jenseits des elenden Streits über die Frage mehr Markt/weniger Staat und Relevanz der Schuldenbremse durch den Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. Bereitgestellt wird gegen den Absturz der infizierten Wirtschaft ein Nachtragshaushalt mit über 156 Mrd. Euro für das laufende Jahr. Absehbare Steuerverluste werden nicht durch Ausgabenkürzungen ausgeglichen, sondern durch den Nachtragshaushalt über die Aufnahme öffentlicher Kredite finanziert. Hinzukommen zusätzliche Ausgaben für Krisenkosten, die den ursprünglichen Sollwert 2020 im Bundeshaushalt um ein Drittel auf den Spitzenwert von 484,5 Mrd. Euro anheben. Staatsschuldenphobie war gestern. Dieser Nachtragshaushalt wird ausschließlich über öffentliche Kredite finanziert. Dabei bleibt es jedoch nicht. Milliardenschwere Schutzschilder werden zu recht durch den Bund und auch die Länder mit den folgenden Schwerpunkten eingerichtet: Verbesserung der Gesundheitsversorgung, Familienunterstützung, Hilfe für kleine Unternehmen, Selbständige und Freiberufler, Schutz für größere Unternehmen der Realwirtschaft mit 600 Mrd. Euro im „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“, steuerliche Hilfen für Unternehmen, generelles Kurzarbeitergeld sowie Miethilfen. Sollte es erforderlich sein, sattelt der Bundesfinanzminister noch ein eigenes Konjunkturprogramm drauf. Die Bundesregierung schätzt derzeit das Finanzvolumen für die beschlossenen Hilfsaktivitäten und Konjunkturprogramme auf 1 200 Mrd. Euro. Das wird bei weitem nicht reichen.

Staatliche Kreditfinanzierung in der aktuellen Wirtschaftskrise alternativlos

Die Frage, wer am Ende die Rechnung bezahlt, birgt neue Sprengkraft. Die Sorge, dass die Superreichen an der Spitze der Vermögenspyramide mal wieder geschont werden, ist groß. Dem muss ein Corona-Sozialvertrag entgegengesetzt werden. Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen zur Absicherung der sozial und ökonomisch besonders Betroffenen. Allerdings sind Mitnahmeeffekte etwa großer, kapitalstarker Unternehmen auszuschließen. Einzelhandelsketten wie Adidas, H&M sowie Media/Saturn stehen ausgesetzte Mietzahlungen wegen ihrer Kapitalstärke nicht zu.

Wer aber bezahlt nach der Rückkehr zur Normalität die Rechnung für die massiv angestiegenen Staatsschulden? Zur Abschätzung des Gesamtvolumens sowie zur Verteilung der Finanzlasten wird eine schrittweise Vorgehensweise vorgeschlagen:

In der derzeitigen Phase der tiefen Rezession ist die staatliche Kreditaufnahme zur Finanzierung des aktuellen Nachtragshaushalts und eines dringend erforderlichen Konjunkturprogramms mit ökologischen Investitionsschwerpunkten alternativlos. Dafür sprechen auch die Niedrigzinsen und der ausbleibende Inflationsschub.

Allerdings wird nur ein Teil der durch die aufgelaufenen Staatsschulden im nachfolgenden Aufschwung wieder getilgt werden können.

Noch ist der Verlauf der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung über die Krise hinweg nicht erkennbar. Alles hängt von der Länge der Infektionsphase und dem davon abhängigen Verlauf des Bruttoinlandsproduktes ab. Kommt es zum starken Abschwung und zum nachfolgenden Boom des Bruttoinlandsprodukts (V-Verlauf) oder halten die massiven Produktionsverluste mehrere Monate an (U-Verlauf)?

Am Ende ist zwar innerhalb einer Bandbreite mit hohen konjunkturunabhängigen, strukturellen Defiziten zu rechnen. Die Finanzierung dieser Langfristlasten muss wegen des bereits ausgebrochenen Streites über die sozial angemessene Lastverteilung schnell geklärt werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Überhang an strukturellen Staatsschulden wie in früheren Jahren unter dem Druck der „schwarzen Null“ durch eine Austeritätspolitik mit Kürzungen in den Sozialhaushalten bzw. der Erhöhung von Massensteuern abgebaut werden wird.

Die von der aktuellen Krise sozial Belasteten wären dadurch auch noch über Jahrzehnte belastet. Diese in der Schuldenbremse angelegte Option muss ausgeschlossen werden. Denn nur eine glaubhafte Garantie sozialer Gerechtigkeit stärkt das politische Vertrauen in diesen schwierigen Zeiten und damit auch die Akzeptanz temporärer Einschränkungen des Lebens sowie die unterschiedlich verteilten Einkommensverluste. Auch dürfen angesichts der Klimakatastrophe die Investitionen in den ökologischen Umbau nicht geopfert werden. Dabei hat die Bundesregierung mit ihrem Nachtragshaushalt über 156 Mrd. € für dieses Jahr bereits in punkto Tilgung die Weichen falsch gestellt. 100 Mrd. €, die als nicht schuldenregelkonform erklärt wurden, sollen ab 2023 binnen 20 Jahren abgebaut werden. Zumindest sollte zur Vermeidung einer erneuten Einsparrunde die Tilgungsfrist auf 50 Jahre ausgeweitet werden.

Wer finanziert die längerfristigen staatlichen Kosten der Corona-Katastrophe?

Der Druck, eine akzeptable Lösung zur Finanzierung der Gelder für die Schutzschirme zu finden, ist groß. Im Mittelpunkt stehen die am Ende auf weit über eine Billion € aufgelaufenen Schulden des Bundes, der Länder und der Kommunen. Erinnerungen an frühere Notlagen werden wach.

Der Historiker Heinrich August Winkler sowie Andreas Bovenschulte, Regierungschef im Stadtstaat Bremen, haben unlängst die aktuelle Wucht der Herausforderung mit der Bewältigung der Lasten am Ende des zweiten Weltkriegs verglichen.

Im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 wurde ein auf dreißig Jahre angelegter Ausgleichsfonds eingerichtet: Einnahmen aus einer einmaligen Abgabe auf das Vermögen zugunsten der Finanzierung der Ausgaben für Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten sowie für den Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft wurden umverteilt.

Die wichtigste Finanzierungsquelle war eine einmalige Vermögensabgabe, die allerdings durch die Verteilung über 30 Jahre pro Jahr bei 1,67% lag und angemessen aufgebracht werden konnte. Wenn auch die Dimension gegenüber dem Lastenausgleichsfonds von 1952 geringer ausfällt, lohnt sich auch die Erinnerung an den „Fonds Deutsche Einheit“.

Für die Jahre 1990 bis 1994 wurden die erforderlichen Kredite zur Finanzierung der Wiedervereinigung in diesem Fonds mit einem Planvolumen von 115 Mrd. DM zusammengefasst.

Der durch den Bund, die Länder und die Kommunen mitfinanzierte Fonds konnte nach der Übernahme eines Restbetrags durch den Bund bereits 2019 geschlossen werden. Die zuerst wechselhafte Phase des Solidaritätszuschlags, der erst ab 1995 verstetigt wurde, hat durchaus dem Staat die Finanzierung dieser Fondsmittel erleichtert.

Einmalige Vermögensabgabe für den „Solidarischen Corona-Fonds“

Ein Lastenausgleichsfonds, wie ihn der Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte mit Blick auf das Nachkriegs-Lastenausgleichsgesetz von 1952 vorschlägt, weist finanzstrategisch und verteilungspolitisch in die richtige Richtung.

Es geht darum, die durch die infizierte Wirtschaft aufgelaufenen Kredite des Bundes, der Länder und der Kommunen in einem bundesweit gemanagten Sondervermögen zusammenzufassen. Hinter den gebündelten Krediten steht die dringend notwendige Finanzierung der medizinischen, sozialen und ökonomischen Schutzschilder.

Der künftige Nutzen liegt in den staatlich aufgefangenen Schadensfolgen. Darüber hinaus wird die Basis für die spätere Normalisierung der Wirtschaft stabilisiert. Vergleichbar mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 sollte der Corona-Solidarfonds auf mindestens 30 Jahre angelegt werden.

Zur Finanzierung des aufzubringenden Kapitaldienstes werden derzeit zwei Abgaben diskutiert: eine einmalige Vermögensabgabe und ein neu aufgelegter Solidaritätszuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuerschuld.

Auch wegen der strittigen Erfahrungen mit dem bisherigen Soli wird eine einmalige Vermögensabgabe allerdings mit einer zeitlich gestreckten Aufbringung präferiert. Beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 lag die Abgabe auf das erfasste Vermögen bei 50%. Im Sinne der Gleichbehandlung wird die Vermögensabgabe ohne Unterschiede auf das Realvermögen (also auch auf Immobilien) und das Geldvermögen erhoben.

Wichtigste Zielgruppe dieser Abgabe sind die privaten Haushalte in der Spitzengruppe der Reichen. Vergleichbare Vorschläge haben Saskia Esken (SPD) und Bernd Riexinger (DIE LINKE) unterbreitet. Dabei wird die Bezahlung der ermittelten Vermögensabgabe wie beim Lastenausgleichsgesetz von 1952 über mehrere Jahre verteilt. Diese einmalige, auf mehrere Jahre verteilte Vermögensabgabe unterscheidet sich von der regelmäßig jährlich zu erhebenden Vermögensteuer.

Die Einnahmen aus der der Not geschuldeten Vermögensabgabe fließt dem Bund zu, der jedoch den Corona-Solidarfonds für alle, durch die Corona-Krise ausgelösten Zusatzkredite auch bei den Ländern und Kommunen öffnet. Die einmalige Vermögensabgabe dient allerdings nur Finanzierung der außerordentlichen Kreditbedarfe infolge der Corona-Pandemie. Die Abschottung des Fonds gegenüber der normalen Finanzpolitik ist gewollt- Damit bleiben die dringlichen finanzpolitischen Themen vor der Corona-Wirtschaftskrise auf der Tagesordnung: Die Finanzierung der öffentlichen Investitionen erfolgt nach der „goldenen Regel“ über die Kreditaufnahme, die sozial gerechte Umverteilung der Steuerlast wird forciert und ökologische Umbauinstrumente wie die CO2-Abgabe werden eingesetzt

  • *Prof. Dr. Rudolf Hickel (Jahrgang 1942) ist Ökonom und Politikwissenschaftler. Zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen und Gewerkschafter*innen hat Hickel die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gegründet. Dieser Arbeitsgruppe legte erstmals im November 1975 (kurz nach Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet wurde) ein „Memorandum für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik“ vor.
    Seit 1977 wird in jedem Jahr in der Woche vor dem 1. Mai ein weiteres Memorandum für eine alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Zusätzlich sind zahlreiche Stellungnahmen zu aktuellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen erstellt worden. Mittlerweile gilt das Memorandum vielfach als „Gegengutachten“ zum jährlichen Gutachten des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (der „fünf Weisen“).