Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit

Auszug aus dem Positionspapier „Nach dem Neoliberalismus, vor der Neuen Zeit. Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand“. Herausgeber: Institut für solidarische Moderne (ISM): Nach dem Neoliberalismus _vor der Neuen Zeit Zwischenruf aus dem Ausnahmezustand ISM 30.3.20

„Gibt es zurzeit auf die Krise keine allgemeingültigen, einfachen Antworten, hat sich doch ein offener Raum für kritische Fragen und neue Ideen geöffnet. Der stählerne Vorhang der neoliberalen Vergesellschaftung ist heruntergekracht. Und jetzt – wohin?

Es ist schön, dass Rewe den Mitarbeiter*innen eine Prämie zahlen will. Der Applaus, die Transparente auf den Balkonen sind moralisch eine Unterstützung für die Arbeiter*innen im Gesundheitswesen.

Dass es einen breiten Konsens dafür gibt, dass die Kosten der Krise nicht umstandslos sozialisiert werden dürfen, sondern genau gefragt werden muss, wer wofür aufkommen soll, ist richtig. Doch braucht es jetzt ein zivilgesellschaftliches und politisches Bündnis, das aus diesen ersten Einsichten Konsequenzen zieht und Politik im eminenten Sinn des Wortes auch durchsetzen kann – und sei’s auf mittlere Sicht.

Zunächst muss dafür die Zeit des Lockdowns genutzt werden, Strategien zu entwickeln für die anstehenden Deutungskämpfe um die Krise:

  • Wie werden die neuen Staatsschulden interpretiert werden?
  • Wie ist eine Neuauflage von Austeritätspolitiken zu verhindern?
  • Wie können stattdessen endlich die großen Vermögen besteuert und die soziale Infrastruktur ausgebaut werden?

Emanzipative Perspektiven haben dann größere Chancen, wenn sie auf den widersprüchlichen Krisenerfahrungen aufbauen: Auf der Relevanz der Care-Tätigkeiten – sowohl in den Pflegeberufen als auch in den eingeschlossenen Familien –, auf den wahrnehmbaren Veränderungen der Naturverhältnisse, dem massiv verringerten Verkehr auf der Straße und in der Luft, auf den entstandenen solidarischen Netzwerken und der gesellschaftlichen Schwarmintelligenz bei der Lösung von Problemen.

Wir sind vorgewarnt durch die Verarbeitung der letzten großen Krise, die die neoliberalen Politiken weiter gestärkt statt geschwächt haben. Einer Wiederholung müssen wir uns entgegenstemmen. 

In diesem Kontext wird die Bundestagswahl 2021 tatsächlich eine Richtungsentscheidung werden. Sie wird die Bereitschaft für eine sozial-ökologische Transformation zur Wahl stellen.

Für den Anfang können dabei wirksame finanzielle Programme im Blick auf Solidarität, Gemeingüter und ein freies und gleiches Gemeinwesen in den Fokus gestellt werden. Es genügt nicht, die Hartz IV-Bürokratie für sechs Monate abzubauen. Die aktuelle Krise wird Arbeitslosigkeit, Insolvenzen und Armut produzieren. Kleine Unternehmen, Freiberufler*innen, Künstler*innen etc. werden erst einmal Jobs und Einkommen verlieren.

Es bietet sich geradezu an, das Hartz-IV-Regime jetzt grundlegend zu reformieren. 200 Euro mehr für die Bezieher*innen im SGB II sichern nicht nur die materielle Existenz, sondern tragen zugleich dazu bei, den Konsum anzuregen. Die Diskussion um ein repressionsfreies Grundeinkommen, zumindest für die jetzt Betroffenen, könnte einen tieferen Charakter und eine weiter reichende Dynamik entwickeln.

Nicht nur die Gesundheitssysteme sind in der Krise an ihre Grenzen gestoßen. Vielen wurde deutlich, dass die Privatisierungen das Gegenteil von dem erreichten, was sie vorgaben. Machen wir diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt der Debatten um die öffentliche Daseinsvorsorge.

  • Die Konflikte um die Wohnungsnot in den Metropolen zeigen, wie dafür Mehrheiten gewonnen werden können.
  • Gesundheit, Bildung, Verkehr, Energie, Teile der Immobilien gehören wieder in die öffentliche Hand.
  • Die Eigentumsfrage kann und muss auf der Tagesordnung bleiben, ohne durch Verstaatlichungen beantwortet werden zu müssen: Vergesellschaftung kann anders und besser funktionieren.
  • Hier könnten die vielen Projekte in solidarischen, genossenschaftlichen, kooperativen, kommunalen u.a. Eigentumsformen, die sich in den Nischen des Kapitalismus unter schwierigen Bedingungen eingerichtet haben, abgesichert und erweitert werden: als Einstiegsprojekte in eine andere politische Ökonomie.

Mittelfristig braucht der Umbau der Wirtschaft hin zu einer sozial-ökologischen Produktion zwei grundlegende Neuorientierungen der Eigentumsordnung und der Gestaltung und Zielsetzung der Produktion.

  • Es genügt nicht, VW oder BMW zu verstaatlichen, damit künftig Bürokrat*innen die Profitrate überwachen.
  • Es muss um die Demokratisierung der Wirtschaft gehen. Wenn der Staat eingreift – und das wird erforderlich sein – brauchen Unternehmen pluralistisch zusammengesetzte Aufsichts-Verwaltungsräte, denen Vertreter*innen aus zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Gewerkschaften und Sozialverbänden angehören. Erst dann können Produktion und Distribution neu definiert werden.

Es wird kein leichtes Unterfangen, dies in Interessenkonflikten und -konkurrenzen um Absatz und Ressourcen unter nachhaltiger Berechnung der ökologischen Kosten zu tun. Eine rein nationalstaatlich orientierte Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Ökologiestrategie wird dabei nicht tragen, nicht einmal die schon in den ersten Schritten unumgängliche europäische Flankierung und Einbettung: weil eine neue Produktions- und Reproduktionsweise letztlich nur eine globale sein kann. Auch das lehrt uns, wenn wir genau hinsehen und zuhören, die Corona-Krise.

Die gesellschaftliche und politische Linke steht daher vor großen Herausforderungen. Dabei steht sie nicht vor der sowieso völlig halt- und sinnlosen Alternative Klassen-oder Identitätspolitik, weil beide nur im Schritt über sie hinaus zur Grundlage einer gesellschaftlichen, ökonomischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Transformation werden können. Es wird um Politiken gehen, in denen Freiheit die Voraussetzung, Gleichheit der Weg und das allseits realisierte Menschenrecht die Bewährung ist. Die Allgemeinheit dieser Verständigung im Grundsätzlichen schließt die mühselige Verständigung über die nächsten Schritte und ein dabei leitendes Sofortprogramm beginnender sozialökologischer Transformation nicht aus, sondern ausdrücklich ein.“