Cornelia Klinger, Philosophin, über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpf­riger Rest“

Quelle: taz, 8.3.22

Cornelia Klinger, Philosophin, über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpf­riger Rest“

Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von Care-Arbeit sprechen? Die Philosophin Cornelia Klinger über Klassenverhältnisse und Lebenssorge.

taz: Frau Klinger, seit der Pandemie sprechen wir immer wieder von einer Care-Krise. Sehen Sie diese Krise auch?

Cornelia Klinger: Pflegeaufgaben hat es immer gegeben, und diese Art von informeller Arbeit bleibt seit jeher an den Frauen hängen. Ich würde deshalb sagen, Krise war immer.

Wäre es nicht sinnvoller, von Reproduktionsarbeit anstatt von Care zu sprechen? Um Arbeitsverhältnisse nicht auszublenden?

Ich verwende lieber den Begriff der Lebenssorge. Reproduktion wirkt wie ein Anhängsel von Produktion. Und „Re-“ wird auch leicht mit Unproduktivität in Verbindung gebracht. Der Begriff ist erklärungsbedürftig und deshalb nicht gut. Care hat ab den 1980er Jahren den Begriff der Reproduktion beiseitegeschoben. Das war zunächst einmal positiv, weil er eigenständig ist. Im englischsprachigen Umfeld ist Care alternativlos. Mir erscheint der Sorgebegriff im deutschsprachigen Raum aber vielfältiger, differenzierter und zutreffender als der zernudelte Care-Begriff, der sich in Car-Care, Skincare, Eyecare oder schlicht Customer Care ins Beliebige aufgelöst hat.

Lebenssorge statt Sorgearbeit – warum ist Ihnen genau diese Bezeichnung wichtig?

Ich möchte betonen, dass Sorge sehr viel mehr ist als Arbeit. Es ist ein Habitus, eine Haltung und Einstellung. Sorge hört auch nicht auf, wenn die Arbeit zu Ende ist. Sie sorgen sich um Sachen, die Sie nicht ändern können, die Ihnen Kummer bereiten. Wenn Sie etwa an den Begriff der Seelsorge denken, dann ist das – ohne Kirche in Betracht zu ziehen – in etwa das, was ich mit dem Lebenssorgebegriff zum Ausdruck bringen will.

Sie unterscheiden zwischen für sich selbst sorgen und für andere sorgen. Inwiefern?

Wir kommen nicht als selbstständige, handelnde und leistungsfähige Personen auf die Welt, die sofort ans Fließband gestellt werden oder übers Fließband befehlen können. Wir bedürfen erst einmal der Sorge anderer, die sich um uns kümmern. Das Ziel der Pflege und Erziehung durch andere Menschen ist unsere Selbstständigkeit. Wenn wir die erlangt haben, haben wir Verantwortung zu übernehmen für andere, bekommen Kinder oder sind für unsere alten Menschen zuständig. Und so dreht sich gewissermaßen der Kreislauf im Leben weiter vom Versorgt-Werden zum Für-sich-selbst-Sorgen, um für andere sorgen zu können, bis wir am Ende des Lebens auch wieder von anderen abhängig sein werden.

Immer mehr Menschen sprechen zwar über Care, gleichzeitig beobachten wir eine zunehmende Privatisierung von Care-Arbeit.

Seit den 2000er Jahren ist das Sorgen für alle, die nicht für sich selbst sorgen können, in den öffentlichen Fokus gerückt. Nicht zuletzt durch Veränderungen in den Versicherungssystemen ist Sorge zum Geschäft geworden. Hinzu kommt die Verwissenschaftlichung des Sorgewissens und die Technologisierung der Lebenssorge.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

In meinem Haus gibt es eine Psychotherapiepraxis für Kinder. Die wird von einigen Frauen geführt, die das übernehmen, was früher in der Familie recht oder schlecht abgehandelt wurde. Damit sind einerseits Familien von diesen Pflichten entlastet, die Leistung wird quantifiziert und besser qualifiziert, aber gleichzeitig strukturiert sich die Lebensaufgabe Kindererziehung um.

Ist es das, was Sie an anderer Stelle mit der „Vercareung“ aller Wirtschaftszweige gemeint haben?

Ja. Care-Aspekte dringen in Industrien ein, in denen wir Vermittlung brauchen. Denken Sie an Computertechnik, das kann niemand mehr alleine. Wir brauchen immer mehr erklärende, vermittelnde Instanzen. Je höher diese angesiedelt sind, desto mehr Wissen ist nötig. Die Teilung in schlecht bezahlte Hands-on-Jobs geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft wird immer mehr formales Wissen gebraucht, oft auf der Grundlage einer akademischen Ausbildung mit überprüften Qualifikationen und Abschlüssen. Sie benötigen Ingenieurwissen, technisches Know-how, um ablesen zu können, was da auf der Herz-Lungen-Maschine steht. Die Verhältnisse werden komplizierter, wenn das, was da bearbeitet wird, kein Ding ist, sondern ein anderer Mensch. Das ist ein Unterschied ums Ganze.

Einige haben von der Humanisierung und Emotionalisierung der neoliberalen Wirtschaft gesprochen, Prozesse, mit denen die Menschen in Unternehmer ihrer selbst verwandelt werden. Was heißt das für die konkrete Fürsorgearbeit, wird sie dadurch letztlich unsichtbar?

Das ist richtig. Je weiter diese Arbeit auf das Niveau von Ingenieur- oder Fachwissen gehoben wird, desto sichtbarer wird sie. Aber es bleibt ein schlüpfriger Rest im Dunkeln. Alles, was mit dem Leben von Lebewesen zu tun hat, hat jenen schlüpfrigen Rest, den die Arbeit an Dingen nicht hat. Natürlich verrotten auch Autos und Motoren stinken. Aber der Gestank von Lebewesen ist nicht nur unangenehmer, sondern problematischer. Diese Arbeit wird ausgeblendet, weil sie mit unseren eigenen dunklen Ecken zu tun hat, mit Gebürtlichkeit und Sterblichkeit, mit Generativität und Sexualität. Ich würde zur halbdunklen, informellen Lebenssorgearbeit übrigens auch Pornografie und Prostitution rechnen.

Wo kollidieren Lebenssorge als bezahlte Arbeit und Kapitalismus?

Die Frage ist, ob das Leben von Menschen profitabel gemacht werden kann. Ich glaube, da verzocken wir uns. Ja, solange die menschliche Arbeitskraft vermachtet und vermarktet wird, kann und soll auch Sorgearbeit – gut – bezahlt werden. Aber die Sache geht schief, wenn Profit zum einzigen Motiv der Lebenstätigkeit wird. Dieses Leben, das so ins Einzelne geht, und das so am Einzelnen hängt, das gepflegt und versorgt werden muss, das können wir der ökonomischen Rationalität nicht unterwerfen. Und jetzt ist die Frage: Ändern wir unsere Rationalität so, dass sie für unser Leben passt? Oder ändern wir unser Leben so, dass es in die rationalen Prozesse von Markt und Staat passt?

Im Herbst erscheint Ihr Buch „Die andere Seite der Liebe“ zum Thema Lebenssorge. Was ist die andere Seite?

Das Gegenteil von Liebe ist Hass. Und mit Ambivalenzen zwischen Liebe und Hass hat Sorge tatsächlich zu tun. Wenn´s gut geht, wird Sorge zu Liebe. Wenn es schlecht läuft, dann ist Sorge ein Verhältnis von wechselseitiger Abhängigkeit, das von allen Seiten gehasst werden kann. Ich hasse meine Mama, weil sie mir ständig vorschreibt, was ich zu tun habe, und meine Mama hasst mich, weil sie jetzt gern mal allein ausgehen würde. Eine Vergesellschaftlichung von Lebenssorgeaufgaben dämpft das ab und regelt das durch eine rationale Beziehung. Gegenüber den fast feudalen privaten Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Geschlechtern und Generationen hat das durchaus Vorteile. Und um diese Verhältnisse und die Veränderungen, die sie gegenwärtig erfahren, geht es in dem Buch.

Hier weiterlesen

im Interview:  Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Uni Tübingen. Sie arbeitet in den Bereichen politische Philosophie, Gender Studies, Ästhetik und Theoriegeschichte der Moderne. Ihr Buch „Die andere Seite der Liebe“ erscheint im Herbst bei Campus.

Erziehen, Zuhören, Pflegen – die einen nennen es Liebe, die anderen unbezahlte Arbeit. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die sie übernehmen, selbst da, wo sie bezahlt wird. In unserem Schwerpunkt „Frauentag“ fragen wir pünktlich zum feministischen Kampftag: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die das Kümmern revolutioniert?

Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind

IMI-Standpunkt 2022/010 (Update: 11.3.2022)

Ukraine-Krieg

Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 7. März 2022

Angesichts des russischen Angriffes auf die Ukraine nicht tatenlos zusehen zu wollen, ist sicher bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Westliche Waffenlieferungen sind aber ein grundfalscher Weg, der nur zu mehr Opfern und einer weiteren Eskalation führt, wofür im Folgenden einig Argumente zur Diskussion gestellt werden sollen.

Tabubruch Waffenlieferungen

Die deutschen wie auch die europäischen Rüstungsexportrichtlinien sind – eigentlich – völlig eindeutig: Sie untersagen Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete (siehe IMI-Analyse 2019/29). Natürlich wurde diese Regel immer wieder umgangen, sicher handelt es sich aber im Falle der Ukraine – wo dies nun in großem Umfang, offen und erklärtermaßen geschieht – um einen Präzedenzfall.

Mit dem Tabu, keine Waffen in Kriegsgebiete zu schicken, wurde in Etappen gebrochen: Vergleichsweise harmlos war noch die Zusage für 5.000 Gefechtshelme, die bereits vor dem russischen Einmarsch gegeben wurde. Dann wurde den Niederländern die Zustimmung erteilt, 400 Panzerfäuste aus deutscher Produktion an die Ukraine zu liefern und parallel dazu 14 gepanzerte Fahrzeuge genehmigt. Kurz darauf wurde die Lieferung von 1.000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen des Typs „Stinger“ beschlossen. Zuletzt genehmigte das Wirtschaftsministerium dann die Abgabe von 2.700 Flugabwehrraketen (Typ ‚Strela‘) aus ehemaligen NVA-Beständen.

Auf EU-Ebene wurde bereits im März 2021 die Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität (EFF) beschlossen (siehe IMI-Analyse 2021/17). Sie wurde für 2021 bis 2027 ursprünglich mit 5,7 Mrd. Euro befüllt und dient der Finanzierung von EU-Militäreinsätzen sowie von Rüstungsgütern für verbündete Akteure (der sog. „Ertüchtigung“). Obwohl darüber im Vorfeld lange gestritten worden war, können über die Fazilität auch letale Waffen – oder Rüstungsgüter, „die dazu konzipiert sind, tödliche Gewalt anzuwenden, wie es im EU-EFF-Ratsbeschluss heißt – finanziert werden. Die Friedensfazilität kommt nun in der Ukraine erstmals im großen Stil zum Einsatz – schon am 27. Februar 2022 wurde gemeldet: „Die Ukraine soll nach einem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell für 500 Millionen Euro Waffen und Ausrüstung aus der Europäischen Union bekommen. […] Das Geld soll aus der sogenannten „Europäischen Friedensfazilität“ kommen. […] 450 Millionen Euro sind nach dem Vorschlag für Waffen vorgesehen, 50 Millionen Euro für andere Ausrüstung.“

Was genau geliefert werden soll, ist noch unklar. Klar ist aber bereits jetzt, dass damit eine zentrale Säule der deutschen und europäischen Rüstungsexportrichtlinien zum Einsturz gebracht wurde. Es ist fast unvermeidlich, dass künftig bei der Frage von Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete unter Verweis auf den Ukraine-Präzedenzfall eine Einzelfallprüfung die kategorische Ablehnung ersetzen und damit die Lieferung solcher Waffen vereinfachen wird. Doch auch abseits solcher eher grundsätzlichen Erwägungen ist die Lieferungen von Waffen auch in diesem konkreten Fall falsch.

Beitrag zur Eskalation

Das gewöhnlich bestens informierte und eng mit dem EU-Apparat vernetzte Nachrichtenportal Bruxelles2 analysierte Anfang März 2022 die Optionen angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine. Der Autor Nicolas Gros Verheyde argumentierte dabei, es stünden nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder die NATO werde direkt mit umfassenden Truppen in den Krieg eingreifen, ein Schritt, der sich aufgrund des immensen Eskalationspotenzials ausschließe (und auch ausgeschlossen wird). Oder es würden ernsthafte Verhandlungen mit dem Ausgangsangebot einer Neutralität der Ukraine aufgenommen – das sei zwar vor allem für die Ukraine eine schwer zu schluckende Pille, aber allemal besser als die Alterative: „Für die Ukrainer wäre es zweifellos bitter, aber viel weniger, als zu sehen, wie ihr Land von einer russischen Besatzungstruppe in Feuer und Blut verwandelt wird. Oder ständig unter der Bedrohung einer neuen Intervention leben zu müssen (vorausgesetzt, dass diese beendet wird). […] An sich ist die Neutralität angesichts des Krieges das geringere Übel.“

Diese bedachte Bewertung völlig missachtend scheinen sich NATO und EU für eine dritte Option entschieden zu haben, nämlich mit umfassenden Waffenlieferungen die Kampfkraft der ukrainischen Armee stärken zu wollen.

Allerdings geht trotz vereinzelter Berichte über Sabotageakte und schlechte Moral innerhalb der russischen Truppen kaum ein Beobachter davon aus, dass die Ukraine den Angreifer wird besiegen können. So äußerte sich etwa der ehemalige deutsche Spitzendiplomat Rüdiger Lüdeking im konservativen Magazin Cicero: „Will man zynisch sein, so muss man feststellen, dass die Ukraine verloren ist. Eine solche Feststellung mag schmerzen, entspricht jedoch der Lage, wie sie sich aktuell darstellt. Dies gilt auch, als sich die Nato die realpolitische Einsicht zu eigen gemacht hat, dass mit einem eigenen militärischen Eingreifen das Risiko eines großen Kriegs in Europa und gar eines Nuklearkriegs verbunden ist.“

Was sollen die Waffenlieferungen dann also bezwecken?

Die hilflose Antwort wäre, damit man den Eindruck erwecken kann, man würde die Ukraine nicht alleinstehen lassen. Eine zynische Antwort lautet, dass man Russland schwächen und in ein zweites Afghanistan verwickeln will. Und die häufigste Antwort dürfte wohl sein, dass man den Blutzoll hochtreiben möchte, um eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu bekommen.

Alle Antworten sind eigentlich indiskutabel, öffentlich dürfte lediglich die letzte Variante erwähnt werden. Ihr lässt sich entgegenhalten, dass der Blutzoll, um den es hier geht, nicht von denjenigen zu entrichten sein wird, die jetzt diese Waffen schicken, auch nicht primär von Russland, sondern vor allem von den Menschen in der Ukraine. Übereinstimmende Analysen aus dem Militär besagen, dass sich Russland für ein – überaus hartes – aber skaliertes Vorgehen entschieden hat. Je größer der Widerstand ist, desto weiter wird der Krieg in der Ukraine demzufolge eskalieren und die Opfer zunehmen. Jakob Augstein etwa schreibt im Freitag: „Der Westen verlängert mit seinen Waffenlieferungen den Krieg. Sobald unsere Waffen dort zum Einsatz kommen, sind es nicht mehr nur Putins Tote, es sind dann auch unsere.“

Ganz ähnlich argumentiert der Politikprofessor Johannes Varwick, der bis kürzlich eher für eine konfrontative Politik gegenüber Russland eingetreten war: „Wir müssen uns überlegen, ob wir weiter die Ukraine in ihrem helden­haften aber aussichtslosen Kampf unterstützen wollen oder ob nicht jetzt die Stunde für Nüchternheit und Real­politik ist. Konkret bedeutet das, wir müssen Putin Verhandlungen anbieten, damit er sein Ziel auch ohne einen Krieg erreichen kann. Die Entscheidung über die Zukunft der Ukraine müssen natürlich die Ukrainer selbst treffen. Aber der Westen hat einen maßgeblichen Einfluss, indem er die Waffen­lieferungen einstellt. Das ist nicht kalt­herzig, sondern vom Ende her gedacht.“

Alternativen zum Krieg

Auch wenn sich neuere Berichte ob eines raschen russischen Sieges deutlich skeptischer zeigen als zu Kriegsbeginn und sich Einschätzungen über schwere Fehlkalkulationen auf russischer Seite häufen, dies erhöht nur die Wahrscheinlichkeit eines immer blutiger und länger andauerndes Krieges. Zur für die Ukraine sicherlich bitteren Pille einer Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ausgangspunkt einer Neutralität besteht keine sinnvolle Alternative. Gleichzeitig müssen diese Verhandlungen vom ernsthaften Bestreben geprägt sein, eine Sicherheitsarchitektur aufzubauen, die es verhindert, dass große Länder künftig nicht nach Gutdünken kleinere Staaten überfallen können – und das muss für alle gelten, für Russland, aber auch für die NATO-Länder.

Schenkt man westlichen Medienberichten Glauben, soll die Ukraine bei den jüngsten Verhandlungen am 10. März 2022 in einigen wesentlichen Punkten – unter anderem in der Frage einer möglichen Neutralität – zu Zugeständnissen bereit gewesen sein, eine Kapitulation aber zum Beispiel abgelehnt haben. Was hinter den Kulissen tatsächlich angeboten und verhandelt wird, lässt sich kaum sagen.

Doch selbst falls Russland auf Maximalforderungen bestehen sollte, gibt es zur Fortsetzung des Krieges dennoch eine Alternative. Letztlich kann und darf den Menschen in der Ukraine niemand vorschreiben, wie sie sich wehren sollen. Aber es gibt gleichzeitig auch keine Pflicht zu einer militärischen Unterstützung mit all ihren Folgen, auch deshalb nicht, weil sich große Teile der männlichen ukrainischen Bevölkerung dieser Entscheidung nicht einmal entziehen können.

Es ist somit durchaus fragwürdig, wenn aktuell die militärische Unterstützung der Ukraine zu einer moralischen Frage hochstilisiert wird, schreibt doch der Herausgeber der Zeitung gegen den Krieg, Winfried Wolf: „Es ist nach meinem politischen Verständnis in der heutigen Gesellschaft grundsätzlich fragwürdig, anderen Menschen zu empfehlen oder diese gar zu bedrängen, den Weg des Heldentods zu beschreiten. […] Naheliegender wäre es, […] auf einen weiteren militärischen Widerstand zu verzichten und zu einem landesweiten passiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit dem Ziel der Zersetzung des Besatzungsregimes und einer demokratischen Wende in Russland selbst aufzufordern.“

„Für die russische Armee wird es langsam knapp“

Quelle: t-online

Von Patrick Diekmann 09.03.2022,

INTERVIEW Krieg in der Ukraine  

„Für die russische Armee wird es langsam knapp“

Die russische Armee beißt sich in der Ukraine die Zähne aus. Die ukrainischen Streitkräfte greifen Konvois an, auch russische Flugzeuge werden abgeschossen. Hat Präsident Putin noch genug Kräfte für den Sturm auf Kiew?

Es ist eine Aussage aus Moskau, die zumindest etwas Hoffnung auf einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg weckt: Russland wolle keine Absetzung der ukrainischen Regierung, erklärte der Kreml am Mittwoch. Das steht im Widerspruch zu früheren Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Angriff auf das Nachbarland mit einer „Entnazifizierung“ rechtfertigte und die Regierung stürzen wollte. Ist die russische Regierung wirklich zu ernst gemeinten Verhandlungen bereit oder ist es der nächste Bluff? Das lässt sich aktuell noch nicht sagen.

Fest steht, dass Putin immer mehr unter Druck gerät. Die Invasion in der Ukraine ist mit viel höheren Kosten verbunden, als Russland offenbar eingerechnet hatte. Es gibt mehr tote russische Soldaten, mehr zerstörtes militärisches Gerät, scharfe Sanktionen und es ist auch noch keine Strategie in Sicht, wie Russland die Ukraine kontrollieren will, selbst wenn die Eroberung irgendwann erfolgreich sein sollte. Trotzdem finden in der Ukraine weiterhin schwere Kämpfe statt, die Zivilbevölkerung leidet unter dem russischen Bombenhagel. Aber hat Putin überhaupt noch genügend Kräfte, um seine Kriegsziele zu erreichen?

Gustav Gressel, Russland– und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“, gibt im Interview mit t-online einen Überblick zur aktuellen Lage. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.

t-online: Herr Gressel, Russland hat überraschend angekündigt, die ukrainische Regierung nicht stürzen zu wollen. Woher kommt der plötzliche Strategiewechsel?

Gustav Gressel: Russland bahnt sich damit den Weg zu offiziellen Gesprächen auf Ministerebene. Vorher hatte man immer gesagt, dass die ukrainische Regierung kein Ansprechpartner sei. Putin rückt damit von einer Maximalforderung ab.

Ist es das Eingeständnis, dass sich die politischen Ziele Putins in seinem Ukraine-Krieg nicht mehr erfüllen lassen?

Putin hat sich den Realitäten in der Ukraine ergeben und das war ein wichtiger Schritt. Aber wir müssen abwarten, wie die Gespräche in der Substanz laufen – viele Schweinereien passieren im Detail.

Ist mittlerweile eine Einnahme der ganzen Ukraine vom Tisch?

Zumindest diskutiert man wahrscheinlich in Moskau, die unrealistischen Kriegsziele herunterzuschrauben. Sie wollten eine Marionettenregierung einsetzen, aber selbst die Opposition in der Ukraine hat den Krieg verurteilt. Die Amerikaner haben im Irak immerhin die Kurden und schiitische Gruppen gehabt, die ihnen zugejubelt haben. Aber die Russen haben in der Ukraine niemanden. Mit wem wollen sie das Land beherrschen?

Es gibt auf jeden Fall schon viele Proteste der ukrainischen Bevölkerung.

Die ukrainische Bevölkerung protestiert und will keine russische Herrschaft. In Cherson und anderen Gebieten mehren sich die Berichte, dass der russische Geheimdienst FSB die Organisatoren der Demonstrationen verhaften und erschießen lässt. Aber das wird die Menschen auch nicht ruhiger stimmen. Man kann den Terror bis zum Äußersten treiben, aber dann herrscht Putin über einen Friedhof.

Hängt das mögliche Umdenken in Russland auch damit zusammen, dass die russische Armee in der Ukraine kaum vorankommt? 

Der schnelle Sieg ist ausgeblieben und jetzt geht es für die russische Armee sehr langsam voran. Die Lage ist insgesamt sehr unübersichtlich. Die Ukraine reagiert auf russische Vorstöße und versucht beispielsweise eine Einkesselung von Kiew zu verhindern. Die russische Armee will Verteidigungspositionen der Ukrainer umgehen und das bringt die ukrainische Armee teilweise in Bedrängnis.

Warum?

Die Ukraine ist ein großes Land und sie hat zu wenig Verteidiger für das ganze Territorium. Die mechanisierten Reserven der ukrainischen Armee sind knapp und wenn sich die Verbände bewegen müssen, dann sind sie einfach von der russischen Luftwaffe zu attackieren. Trotzdem schaffen es die Ukrainer, das ganz gut zu managen und beispielsweise russische Versorgungslinien anzugreifen.

Im Donbass gab es zumindest keine großen Geländegewinne der russischen Armee.

Dort muss die ukrainische Armee langsam zurückgehen. Die Russen versuchen sie einzukesseln und einzelne Verbände abzuschneiden. Bisher gab es im Donbass für die Ukraine keine großen militärischen Katastrophen.

Das russische Hauptkriegsziel scheint immer noch Kiew zu sein. Wie ist die Lage um die ukrainische Hauptstadt?

Vom Westen her hat die russische Armee versucht, Kiew zu umschließen. Im Norden wird sehr zäh um Vororte gekämpft und im Osten muss die russische Armee erst mal über den Fluss Dnipro drüber. An beiden Fronten hat die Ukraine gutes Gelände und starke Verteidigungslinien. Es kann sich noch lange hinziehen, bis es zu einer Einkesselung Kiews kommen könnte.

Hat Russland denn überhaupt genug Soldaten, um Kiew anzugreifen?

Die russische Armee will nun neue Kräfte für den Krieg mobilisieren, weil sie nicht mehr so viele haben. Deshalb läuft in Russland eine große Propagandakampagne an und es gibt das Gerücht, dass in ländlichen Gegenden schon Mobilmachungen ausgerufen wurden. Ohne eine Mobilisierung und mehr Soldaten wird es für die russische Armee langsam knapp in der Ukraine.

Die russischen Kräfte reichen bislang aber nicht einmal aus, um eine ukrainische Großstadt im Norden zu erobern. 

Ja, sie haben auch nicht die Kräfte, um ihre Nachschublinien zu sichern. Da kommt es ständig zu ukrainischen Überfällen auf russische Konvois. Wenn die russische Armee das wirklich sichern wollen würde, dann bräuchte man noch einmal mehr Kräfte. Solange Städte wie Sumy – ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt – nicht gefallen sind, wird es für Russland nicht einfacher. Das erklärt, warum russische Vorstöße stecken bleiben.

Wie könnte die russische Armee vorgehen, um mit den vorhandenen Kräften die Städte anzugreifen, wenn diese eingekesselt sind?

Das würde sehr viel Zeit kosten, denn die Russen müssten Schwerpunkte auf eine Stadt legen und wenn diese erobert ist, die Kräfte zur nächsten Stadt verlagern. Gleichzeitig würde das nicht funktionieren. Bei den Städten wie Kiew oder Charkiw, die nicht eingekesselt sind, ist Zeit auch für den Angreifer ein kritischer Faktor. Denn so hat der Verteidiger immer mehr Zeit, sich einzurichten und bessere Stellungen auszuheben. Aus russischer Sicht ist der aktuelle Zeitverlust ein großes Problem.

Warum hat Russland den riesigen Konvoi überhaupt schon in die Ukraine fahren lassen? Das ist doch ein gewaltiges Ziel für ukrainische Partisanenkämpfer. 

Das ist eine gute Frage. Ich kann nicht wirklich sagen, warum dieser Konvoi nicht vorankommt – es gibt zerstörte Brücken und immer wieder Angriffe auf diesen Konvoi, auch mit Drohnen. Klar ist: Es ist auf jeden Fall kein großes Ruhmesblatt für die russische Armee. Der Konvoi ist ein stehendes Ziel und durch die Ausdehnung auch schwer zu verteidigen.

Wir sind auch eigentlich davon ausgegangen, dass Russland die Lufthoheit über der Ukraine hat. Trotzdem wurden in den vergangenen Tagen immer wieder russische Kampfjets und Hubschrauber abgeschossen. Wie passt das zusammen?

Die russische Luftwaffe schlägt sich schlechter als erwartet. Sie bekommt es nicht hin, die ukrainischen Luftabwehrsysteme zu stören und auszuschalten. Wir haben gestern wieder den Einsatz eines ukrainischen Buk-Systems gesehen, was bemerkenswert ist. Hinzu kommt, dass Russland relativ wenig Präzisions- und Abstandswaffen einsetzt, selbst teure Kampfflugzeuge werden mit herkömmlichen Bomben bestückt, die im Tiefflug eingesetzt werden müssen. Da sind sie verwundbar, auch gegen schultergestützte Flugabwehr.

Hat denn die russische Armee noch viele Waffensysteme in der Hinterhand, die noch nicht eingesetzt wurden?

Es ist unklar, ob sich Russland seine Präzisionswaffen aufspart oder ob man schlichtweg zu wenig davon hatte. Drohnen und elektronische Kampfmittel wurden bislang von russischer Seite auch kaum eingesetzt. Das verwundert mich, besonders wenn man sich anschaut, wie die russische Armee in Syrien gekämpft hat.

Eigentlich sollten auch Soldaten aus Belarus bei der Invasion helfen. Doch auch das ging offenbar schief, weil belarussische Offiziere zuvor desertiert sind?

Sogar der Chef des Generalstabs ist deshalb zurückgetreten. Die belarussische Armee hat generell ein Mannschaftsproblem. Bei den Protesten gegen Alexander Lukaschenko haben sich auch viele Soldaten angeschlossen und bei den Manövern mit Russland waren die belarussischen Verbände stets unterbesetzt. Lukaschenko steht unter dem Druck Putins, von Brest aus eine weitere Front in der Ukraine zu eröffnen. Aber das kann er sich eigentlich kaum leisten, weil die eigenen Soldaten den Einsatz infrage stellen.

Zu wenig Truppen, schlechte Versorgung und nicht ausreichend Material: Das kann ja alles damit zusammenhängen, dass der Kreml dachte, dass ein Krieg in der Ukraine in zwei Wochen vorbei wäre. 

Absolut. Russland wäre nicht das erste Land, das immer mehr Material in einen Krieg schickt, der nicht zu gewinnen ist. Das kann man eine Zeit lang machen, aber die langfristige Beherrschbarkeit der Ukraine ist noch immer eine Frage, auf die ich von russischer Seite keine Antwort sehe.

Nein, Putin hat keinen Plan B. Erst jetzt fängt er wahrscheinlich an, darüber nachzudenken. Vergangenen Sonntag war im orthodoxen Kalender der „Sonntag der Versöhnung“ und Russland wollte bis zu diesem Tag die Besetzung der Ukraine abgeschlossen haben. Da sind wir nun weit von entfernt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel. 

Ukraine/Russland: Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede – Jung & Naiv: Folge 562

Ukraine/Russland: Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede – Jung & Naiv: Folge 562112.469 Aufrufe – Live übertragen am 07.03.2022 –Jung & Naiv – 

Gast im Studio: Wolfgang Eichwede, Historiker und Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Mit der Gründung der Forschungsstelle Osteuropa 1982 übernahm er die Leitung des Instituts, die er bis 2008 innehatte. Er engagiert sich bis heute für die Sozial-, Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen in Osteuropa. Das Bemühen um Freundschaft mit Russland, so Eichwede, müsse der Machtpolitik Putins „auch seine Grenzen zeigen – Grenzen, die sich aus dem Völkerrecht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben“.

Tilo Jung spricht mit Wolfgang über seinen Werdegang, sein Interesse an Osteuropa, die Ukraine, Russland und die ehemalige Sowjetunion. Es geht um den Kalten Krieg, dessen Ende, die NATO-Osterweiterung, Jelzin, Putin, dessen Ziele, dessen Verstand und natürlich den russischen Überfall auf die Ukraine.

Link: – Wolfgangs Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen https://www.forschungsstelle.uni-brem…

Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

IMI-Standpunkt 2022/008 (Update: 4.3.2022)

Zeitenwende beim Rüstungshaushalt

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. Februar 2022

Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022. Und in der Tat übersteigt das, was er darin angekündigt hat, alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre. Der russische Angriff auf die Ukraine ebnet so auch den Weg für eine beispiellose Militarisierung Deutschlands, die eine Reihe von Bereichen betrifft, besonders aber die Rüstungsausgaben.

Chronisch unterfinanziert?

Dem angesichts der aktuellen Eskalation häufig und bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden, muss entschieden entgegengetreten werden. Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058).

Wenn die Truppe nun etwa in Person von Heeresinspekteur Alfons Mais argumentiert, sie stehe „blank“ da, so ist das nicht auf eine mangelnde Finanzierung, sondern auf chronisch verschwenderische Strukturen zurückzuführen. Noch 2014 kritisierte die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, Katrin Suder: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“

Im ersten Bericht über das Rüstungswesen aus dem Jahr 2015, dessen Aufgabe es ist, die Defizite im Beschaffungswesen offenzulegen, hieß es, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt 12,9 Mrd. Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Trotz aller Beteuerungen mehrerer folgender VerteidigungsministerInnen ist es offenbar nicht gelungen, hier eine „Verbesserung“ (sofern eine effizientere Beschaffung von Waffen als solche bezeichnet werden kann) zu erreichen.

Im nunmehr 14. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten vom Dezember 2021 ist nachzulesen: „Aktuell beträgt die Verzögerung im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021/54 […] liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn.“

Vor Kriegsbeginn: Finanz- vs. Verteidigungsministerium

Noch unter Kanzlerin Angela Merkel gab die damalige Bundesregierung die ambitionierte Zusage, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5.000 SoldatInnen), bis 2027 eine Division (15.000-20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Die Ampel übernahm diese äußerst kostspielige Zusage in ihrem Koalitionsvertrag: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren.“

Noch Anfang Februar 2022 klaffte aber zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium zu benötigen meinte, um die NATO-Fähigkeitsziele umsetzen zu können, eine gewaltige Lücke – eine rund 38 Mrd. Euro große Lücke, um genau zu sein. Während für 2022 noch einmal eine deutliche Erhöhung auf 50,33 Mrd. Euro vorgesehen ist, gingen anschließend die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Oldenburger Zeitung am 12. Februar 2022 berichtete: „Danach benötigt die Bundeswehr im Jahr 2023 statt der vom Finanzministerium bislang in der mittelfristigen Planung vorgesehenen 47,3 Milliarden Euro 53,7 Milliarden Euro. Dieses Delta wächst jährlich: 2024 werden statt 47,1 Milliarden Euro 55,4 gebraucht, 2025 57,2 statt 46,7 Milliarden. Und 2026 beträgt der Bedarf statt 46,7 stolze 59,1 Milliarden Euro. Der Fehlbetrag summiert sich insgesamt auf 37,6 Milliarden Euro. […] In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen zurückgewiesen.“

Noch Anfang Februar 2022 stand die Bundeswehr unter erheblichem Druck – schließlich ermahnte der Staatssekretär im Finanzressort, Werner Gatzer, das Verteidigungsministerium Anfang Februar 2022, es sei deutlich zu großzügig mit den sogenannten Verpflichtungsermächtigungen umgegangen worden. Was das hieß, erläuterte der Blog Augengeradeaus: „Mit den so genannten Verpflichtungsermächtigungen kann das Verteidigungsministerium Verträge für Rüstungsgüter abschließen, deren Kosten erst in den nächsten Jahren fällig werden. […] Die Forderung nach realistischer Planung enthält den dezenten Hinweis, dass das Wehrressort in den vergangenen Jahren, laienhaft gesprochen, ungedeckte Schecks auf die Zukunft erhalten hat.“

Damit diese ungedeckten Schecks nicht platzen, nahm der Druck auf eine Erhöhung des Rüstungshaushaltes bereits vor dem russischen Angriff deutlich zu. Doch was nun angekündigt wurde, übersteigt alle Erwartungen bzw. Befürchtungen.

Nach Kriegsbeginn: Scholz öffnet die Geldschleuse

In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Kanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen an, besonders drastisch sind die Aussagen zu den künftigen Militärausgaben, die die Einrichtung eines einmaligen „Sondervermögens“ sowie dauerhaft deutlich höhere Militärausgaben betreffen.

Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, soll sie nun deutlich mehr als das erhalten: „Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten“, kündigte Scholz in seiner Regierungserklärung an. „Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.“

Das Geld werde mit dem Bundeshaushalt 2022 bereitgestellt, der am 9. März 2022 vorgelegt werden soll. Dies schaffe die Möglichkeit, ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, heißt es dazu in der FAZ. Die Dimension dieses Sondervermögens wird beispielsweise in der Europäischen Sicherheit und Technik erläutert: „Mit den beabsichtigten 100 Milliarden Euro verdoppelt der Bund seine Sondervermögen, zu denen unter anderem der Energie- und Klimafonds und die Rücklagen für die Flüchtlingshilfe gehören.“

Doch damit nicht genug: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, so Scholz ebenfalls in seiner Regierungserklärung. Unklar ist, ob diese Erhöhungen mit dem Sondervermögen verrechnet werden, der Bundeswehrverband jedenfalls geht davon aus, dass sie zusätzlich hinzukommen werden: „Bundesvermögen werden außerhalb des Bundeshaushaltes bewirtschaftet – für die Bundeswehr heißt das, dass die nun angekündigten 100 Milliarden Euro nicht mit dem Verteidigungsetat für das laufende Jahr verrechnet werden, sondern tatsächlich „on top“ kommen.“

Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro, wäre für ihn bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Unklar ist gegenwärtig noch, ob die Erhöhungen bereits 2022 oder 2023 bzw. 2024 umgesetzt werden. Klar ist aber, dass mit einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben zu rechnen sein wird, der sich durch eine Kopplung ans Bruttoinlandsprodukt bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum auch verstetigen wird.

Wer von diesen Mehrausgaben profitieren wird, beschrieb die Welt: „Während vor kurzem die Lobbyisten der Rüstungskonzerne noch alles unternahmen, um bei einer sich abzeichnenden Lücke im Wehretat mit ihrem Projekt zum Zuge zu kommen, scheint die Geldfrage jetzt gelöst. Von einem neuen Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, Diehl und Heckler & Koch oder europäische Hersteller wie Airbus und der Lenkwaffenkonzern MBDA. Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen.“

Wieviel ist genug?

Mehr als fraglich ist, ob die Bundeswehr-Strukturen überhaupt „sinnvoll“ derartige Gelder verarbeiten könnten, was durchaus auch von BefürworterInnen höherer Ausgaben bezweifelt wird. Zudem hat die NATO als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: sie stiegen nach NATO-Angaben von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1106 Mrd. (2020) an. Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut SIPRI von 85 Mrd. Dollar (2015) auf 61,7 Mrd. Dollar (2020).

Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhänge Politik sind sicher auch ein Teil des Problems und nicht der Lösung.