Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Quelle: ntv  – 08.03.2022

Politologe Sauer im Interview „Russland hat keine Hightech-Waffen in der Hinterhand“

Der russische Überfall auf die Ukraine ist steckengeblieben, nun droht der Zivilbevölkerung noch größeres Leid. Zugleich laufen Verhandlungen. Aber kann Russland noch ein Partner sein? Und wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf NATO-Gebiet oder gar eines Atomschlags? Der Experte für Sicherheitspolitik von der Universität der Bundeswehr in München, Frank Sauer, antwortet darauf im Interview.

ntv.de: Der Krieg dauert schon fast zwei Wochen. Hat sich das russische Militär blamiert?

Frank Sauer: Mit vorschnellen Schlussfolgerungen muss man vorsichtig sein, weil wir nur einen Ausschnitt des Geschehens sehen. Wir sehen vor allen Dingen das ukrainische Narrativ. Aber ich kann inzwischen schon mit Bestimmtheit sagen, dass Russland in verschiedenen Bereichen, auch im Militärischen, deutlich schlechter abschneidet als erwartet.

Manche sagen ja, da wird jetzt erst mal das alte Material vorgeschickt und irgendwann kommen die neuen Panzer. Gibt es dafür aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte?

Wir sehen überwiegend natürlich die Sachen, von denen Russland viel hat. Wir sehen T72-Panzer, den T80, wir sehen diese Schützenpanzer, die teils noch aus den 70er und 80er Jahren stammen. Von neuen Panzern wie dem T14 Armata hat Russland vielleicht zwanzig Stück – und ob davon überhaupt zehn fahren, geschweige denn gefechtsbereit sind, wage ich zu bezweifeln. Insofern überrascht mich das nicht, und es ist auch nicht so, dass da noch irgendwelche Hightech-Waffen in der Hinterhand gehalten werden.

Glauben Sie, dass es jetzt blutiger wird, dass Russland jetzt eine Taktik wie in Syrien anwendet?

Ich befürchte das, ja.

Kann man noch einschätzen, was Putin eigentlich erreichen will? Nüchtern betrachtet hat er nicht mehr viel zu gewinnen.

Ich sehe noch keinen Anlass, davon auszugehen, dass Putin etwas anderes will als das, was er von Anfang an kommuniziert hat. Ich gehe davon aus, dass er die territoriale Integrität der Ukraine, die Souveränität der Ukraine und die Ukraine als eigenständiges Land beseitigen will. Dazu muss er die Selenskyj-Regierung beseitigen und eine Regierung installieren, auf die er direkten Einfluss nehmen kann. Dass er dieses politische Ziel, selbst wenn er militärisch auf lange Sicht gewinnen sollte, auf keinen Fall mehr erreichen kann, scheint ihn bisher nicht weiter zu irritieren. Das ist zumindest das, was man von außen konstatieren kann.

Am Donnerstag sollen sich die Außenminister der Ukraine und Russlands treffen. Was erwarten Sie davon?

Nicht viel. Ich glaube, dass Russland weiterhin auf seiner Maximalforderung beharren wird. Im Prinzip verlangt Russland ja die vollständige Kapitulation der Ukraine und eine Verhandlung nach russischem Diktat. Dazu scheint mir Putin auf militärischem Wege die Verhandlungsbedingungen zu seinen Gunsten verändern zu wollen. Wenn das gelingt, muss die Ukraine unter Umständen irgendwann Konzessionen machen. Aktuell sieht es nicht so aus, als ob die Ukraine das möchte, und so bleiben diese Verhandlungen festgefahren. Russland verlangt im Prinzip die totale Selbstaufgabe. Nachvollziehbarerweise weigert sich die Ukraine und wehrt sich vehement.

Kann Russland überhaupt noch ein Verhandlungspartner sein? Man braucht doch eigentlich ein Mindestmaß an Vertrauen.

Ich komme ja eigentlich aus der Rüstungskontrolle und habe im Kleinklein so die Schwierigkeiten miterlebt, die Russland der internationalen Gemeinschaft oder zumindest westlichen Verhandlungspartnern in den letzten paar Jahren bereitet hat.

Das Vertrauen, das man über bestimmte Rüstungskontrollinstrumente nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat aufbauen können, ist mit dieser Invasion Putins nahezu vollständig verpufft. Wir werden über Jahre und Jahrzehnte vermutlich unter großer Mühe hoffentlich wieder an einen Punkt kommen, wo wir Vertrauen zurückgewinnen können, um Risiken für alle Beteiligten kollektiv zu reduzieren. Niemand will wieder in so eine ultra-angespannte Kalte-Kriegs-Situation zurück, wo sich zwei völlig unversöhnliche Blöcke gegenüberstehen und sich permanent mit der nuklearen Eskalation bedrohen.

Nur eins ist klar: Putin hat uns da um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insbesondere Westeuropa entwickelt deswegen jetzt ganz andere Positionen und nimmt dafür zu Recht auch die eigene Wehrhaftigkeit viel stärker in den Blick.

Haben Sie eine Vorstellung, wie der Krieg in der Ukraine enden könnte?

Es sind verschiedene Varianten denkbar. Etwa eine Konsolidierung der Spaltung der Ukraine. Über den Süden kommt Russland ja noch am besten voran. Und wenn Odessa unter russische Kontrolle gerät und ein oder zwei weitere Städte im Süden und es eine Landbrücke von der Krim in den Osten der Ukraine gibt, dann könnte man schon davon ausgehen, dass das schwer zurückzudrehen sein wird.

Wenn zusätzlich auch noch Kiew fällt, dann ist natürlich noch eine neue Variante möglich. Dann hätte man eine Teilung des Landes, die viel weiter westlich läge als an der Grenzlinie zu den Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Es ist aber auch möglich, dass das System Putin implodiert und der Krieg auf diese Weise endet. So könnte die Ukraine sich dann möglicherweise gänzlich vom russischen Einfluss befreien. Ich kann nicht in die Glaskugel gucken. Zurzeit rechne ich auf jeden Fall nicht damit, dass der Krieg sehr bald endet. Ich glaube, dass Putin an seinen militärischen Zielen festhält und diese langsam, deutlich langsamer als von ihm selbst erwartet, aber stoisch weiterverfolgen wird. Mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung in der Ukraine.

Halten Sie einen Angriff Russlands auf NATO-Gebiet für realistisch?

Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für wahrscheinlicher, dass Russland versucht, im Cyberraum Nadelstiche zu setzen. Denkbar ist aber ein versehentlicher Angriff. Dass ein Konvoi mit Waffenlieferungen beschossen wird. Oder dass ein russisches Flugzeug versehentlich in den Luftraum eines baltischen Staates eindringt. Diese Gefahr ist absolut real. Mit einem gezielten konventionellen Angriff auf NATO-Territorium rechne ich nicht, weil Putin keinerlei Geräusche in diese Richtung gemacht hat. Nachdem was ich weiß, zeichnet sich auch auf dem Boden dahingehend nichts ab. Vielleicht nicht zuletzt auch, weil die NATO ja sofort reagiert und ihre Kräfte in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten verstärkt hat.

Wie schätzen Sie das ein, dass Putin die „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft versetzt hat? Ein Atomschlag wäre doch Selbstmord, oder?

Na ja, das hängt sehr davon ab. Seine Äußerung war eindeutig erstmal nur ein politisches Signal. Mit Blick auf die tatsächlichen Bewegungen im nuklearen Apparat in Russland gibt es keinerlei besonderen Vorkommnisse, die vermuten ließen, dass da etwas vorbereitet wird oder irgendwie eine Alarmstufe in nennenswerter Weise erhöht worden wäre. Es sind ein paar U-Boote ausgelaufen, aber auch wieder welche zurückgekommen. Es sind ein paar mobile ballistische Interkontinentalraketen in den Wald gefahren, aber das könnte durchaus eine normale Rotation sein. Nichts hat sich da zahlenmäßig dramatisch erhöht.

Es deutet nichts darauf hin, dass man da in einem überschaubaren Zeitraum mit irgendetwas Atomarem auf dem Gefechtsfeld rechnen müsste. Insofern kann man Putins Botschaft aktuell einfach nur zur Kenntnis nehmen. NATO und US-Administration haben das getan und ganz richtig reagiert, also es gelassen hingenommen und nicht etwa mit gleichen Mitteln erwidert. Putin hat eben auf sein Nukleararsenal gezeigt und gesagt: Das vergesst ihr bitte nicht bei all euren Sanktionen und bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Und von einem Schlagabtausch mit strategischen Atomwaffen sind wir sicher noch weiter entfernt. Auch Putin weiß: Wer als Erster schießt, ist als Zweiter tot. Gerade als jemand, der sich schwerpunktmäßig mit diesen Fragen beschäftigt, raubt mir das aktuell keinen Schlaf. Die Lage der Zivilbevölkerung macht mir die größeren Sorgen.

Viele Experten sagen, am Ende werde sich Russland durchsetzen. Ist der Widerstand der Ukrainer da überhaupt sinnvoll?

Das haben nicht wir zu entscheiden. Das entscheidet die Ukraine. Wir haben lange genug immer nur über deren Köpfe hinweggeredet. Wenn die Ukraine kämpfen will, und zur Selbstverteidigung hat sie jedes Recht, dann kann und muss man sie nach Kräften unterstützen. Aber das jetzt von außen zu beurteilen und nach dem Motto: „Ergebt euch doch lieber! Dann wird es auch nicht so schlimm.“ Nein, das ist nicht meine Haltung.

Mit Frank Sauer sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

Dr. Frank Sauer lehrt und forscht an der Universität der Bundeswehr in München und ist Experte für Sicherheitspolitik, über die er auch regelmäßig im Podcast „Sicherheitshalber“ diskutiert.

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR

Angriffskrieg auf die Ukraine: Doch Putins Geschäfte mit dem Westen gehen weiter – MONITOR – 10.958 Aufrufe – 07.03.2022 –

Nach dem Einmarsch Putins in die Ukraine gibt sich der Westen entschlossen: Russland soll mit schärfsten Sanktionen bestraft werden. Doch diese lassen Putins Machtzentrum unberührt: Die Energieexporte. Während Putin Völkerrecht bricht, lassen sich Europa und auch Deutschland weiter Öl, Gas und Kohle aus Russland liefern und auch die USA beziehen weiter russisches Öl. Milliarden aus dem Westen fließen so noch immer nach Russland. Geld, was Putins Krieg in der Ukraine Tag für Tag weiter finanziert. Und auch das Vermögen vieler Oligarch:innen, die Druck auf Putin ausüben könnten, liegt längst gut versteckt im Ausland.

Autor:innen: Jan Schmitt, Véronique Gantenberg, Jakob Faust. Der Beitrag gibt den Recherchestand vom 3. März 2022 wieder.

Fragen zum Verlauf des Krieges

Einen Guerilla-Krieg kann Putin sich nicht leisten“

Ex-General Erich Vad | heute-journal – 447.624 Aufrufe – 02.03.2022 –

Der ehemalige Bundeswehrgeneral Erich Vad sieht Russland der Ukraine militärisch weiterhin stark überlegen. Putin könne sich aber nicht leisten, in einen langen Krieg mit der Ukraine verwickelt zu werden: „Da ist jeder Tag ein Tag zu viel für ihn“. Bei der Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen warnt Vad vor der Gefahr, über einen Stellvertreterkrieg selbst zur Kiegspartei zu werden – das müsse man „politisch sehr, sehr gut steuern“.


Prof. Masala (Bundeswehrhochschule München): „Kapitale Fehler, die wir den Russen nicht zugetraut haben“ | heute-journal

353.490 Aufrufe  04.03.2022

Treibstoffmangel, unzureichende Verpflegung für die eigenen Soldaten – der Sicherheitsexperte Prof. Carlo Masala beobachtet beim Vorgehen der russichen Armee in der Ukraine eine „grottenschlechte Logistik“. Er spricht von kapitalen Fehlern, “die wir den Russen nicht zugetraut haben“: Die Armee sei in ihrer Operationsfähigkeit “nicht moderner geworden“. Zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sagt Masala: Weitere Boden-Boden-Raketen aus Deutschland könnten den “Vormarsch verlangsamen“.


Ukraine: Alle im Widerstand | ARTE Reportage

73.069 Aufrufe –  07.03.2022 –

Überall in der Ukraine mobilisieren sich die Ukrainer im Widerstand gegen den Agressor aus Russland, in den Städten und auf dem Land.  Großmütter kochen Ravioli für die Männer an der Front, Metallarbeiter schweißen Panzersperren, und Studenten konstruieren Katapulte für Molotowcocktails. Mehrere Tage lang folgte unser Team den Menschen in den Dörfern der Region Lviv, die fest dazu entschlossen sind, ihr Land und ihre Freiheit zu verteidigen.

Gabriele Krone-Schmalz: „Ich bin verzweifelt, wütend und hilflos“

Berliner Zeitung, 27.2.2022

Putin-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz: „Ich habe mich geirrt“

Die langjährige ARD-Korrespondentin glaubt, dass der Angriffskrieg eine einsame Entscheidung Putins gewesen sei, von dem auch sein Umfeld überrascht wurde.

Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Nicht nur mit Blick darauf, was jetzt an Leid und Verwüstung folgt, bin ich fassungslos, sondern auch angesichts dieses Schlags ins Gesicht all derjenigen, die sich – teilweise gegen große politische Widerstände im eigenen Lager – auf den Weg nach Moskau gemacht haben, um diplomatische Lösungen für die tatsächlich vorhandenen Probleme zu finden.

Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.

Habe ich mit meinen Positionen dazu beigetragen, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, wie jetzt manche behaupten? Bin ich für den russischen Einmarsch mitverantwortlich?

Es wäre schrecklich, wenn es so wäre. Doch überzeugend finde ich diesen Vorwurf nicht. Er setzt voraus, dass die Idee der Verständigung, der Entspannungspolitik grundverkehrt war, und dass eine Abschreckungspolitik Putin hätte im Zaum halten können.

Beide Punkte halte ich nicht für richtig.

Denn zum einen haben sich die Entspannungspolitiker in den letzten dreißig Jahren auf internationalem Parkett mit ihrer Politik eher nicht durchsetzen können. Ich möchte die Worte von George Kennan ins Gedächtnis rufen, dem Architekten amerikanischer Eindämmungspolitik. Der für seine scharfen Analysen bekannte Diplomat hat am 2. Mai 1998 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn 1999 in die NATO aufgenommen wurden – die NATO-Osterweiterung als tragischen Fehler bezeichnet, da es überhaupt keinen Grund dafür gebe. Niemand bedrohe irgendjemanden. „Natürlich wird es auch darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben“, so Kennan, „und dann werden sie (also die NATO-Erweiterer) sagen: So sind die Russen, wir haben es Euch immer gesagt, aber das ist komplett falsch.“

Und zum anderen scheint mir, dass jeder Versuch, die Ukraine nach 2014 in die NATO mit aufzunehmen, die jetzt erfolgte Intervention nur beschleunigt und nicht verhindert hätte. Ich denke nach wie vor, dass die NATO-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen stark dazu beigetragen haben, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet und sich auch so verhält. Ich teile nicht die These, dass Putin schon immer der gewesen sei, der er jetzt ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.

Aber letztlich ist es müßig, noch über die Vergangenheit zu streiten. Die Verständigungspolitik, deren Sinnhaftigkeit ich mit meiner Arbeit immer versucht habe zu erklären und journalistisch zu begleiten, liegt in Trümmern. Putin hat die Hand verdorren lassen, die zwar reichlich später, aber dann doch ausgestreckt war.

Nach allem was man hört, waren selbst einige russische Regierungsmitglieder von der Entscheidung ihres Präsidenten überrascht, den Einmarschbefehl zu geben, noch dazu in dieser Situation: unmittelbar vor weiteren geplanten Gipfeltreffen. Das macht die Lage nicht einfacher.

Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Jetzt kann es nur darum gehen, möglichst sichere Wege zu finden die aus dieser Katastrophe herausführen. „Diplomatische Anstrengungen müssen erneut beginnen.“ Das hat Klaus von Dohnanyi jetzt gefordert, wobei auch ihm die Zumutung klar ist, die darin besteht, mit einem Gegenüber zu verhandeln, das dreist gelogen hat. Aber Zumutung, Gesichtsverlust und ähnliches sind keine akzeptablen politischen Kategorien, wenn es darum geht, einen Krieg zu beenden.

Was entspannungspolitisch alles möglich ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Das war der Beginn der sogenannten Ostpolitik, die auf lange Sicht für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht hat. Humanitär und wirtschaftlich.

An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.


Gabriele Krone_Schmalz „Ich bin verzweifelt,  wütend und hilflos“ Interview  Nürnberger Nachrichten 4. März 2022

Sanktionen: Putin stürzt Russland in Technologie-Steinzeit

Quelle: NTV

Christian Herrmann 04.03.2022

Sanktionen: Putin stürzt Russland in Technologie-Steinzeit

Egal in welcher Industrie, Halbleiter werden überall verbaut. Wer keine mehr hat, hat ein Problem.

Die Vereinigten Staaten und die EU überziehen Russland für den Krieg gegen die Ukraine mit einer Flut an Sanktionen. Erstmals setzt die US-Regierung auch ihre Technologie-Herrschaft als Waffe ein. Eine Strafe, die die russische Wirtschaft einer Expertin zufolge um Jahrzehnte zurückwirft.

Der russische Präsident Wladimir Putin bombardiert die Ukraine mit Raketen, die EU, die USA und andere Staaten feuern mit Sanktionen zurück. Mehrere russische Banken haben keinen Zugriff mehr auf das internationale Finanzsystem Swift. Die Zentralbank in Moskau kommt nicht an ihre milliardenschweren Reserven. Russische Flugzeuge dürfen den europäischen und amerikanischen Luftraum nicht benutzen. Oligarchen müssen um ihre Luxusjachten fürchten.

Aber über eine neue Art von Sanktion, die die USA das erste Mal als Waffe gegen ein anderes Land einsetzen, wird selten gesprochen: eine Exportkontrolle für wichtige Technologien. Davon sind neben Computerchips auch alle Arten von Sensoren und Lasern oder Sicherheitssoftware betroffen. Eine Bestrafung, die Russland im Endeffekt härter treffen könnte als alle anderen, vermutet Alena Epifanova. „Eine moderne Wirtschaft basiert natürlich auf Informationstechnologien, auch die russische“, sagt die Politikwissenschaftlerin im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“ über die neuen Technologie-Sanktionen. „Russland hat aber keinen eigenen starken IT-Bereich und ist von ausländischen Schlüsseltechnologien abhängig.“

Keine eigene Halbleiterindustrie

Die Berliner Forscherin untersucht für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) die russische Internet- und Technologiepolitik und hat erst im Februar gemeinsam mit einem Wissenschaftskollegen eine Studie veröffentlicht, in der sie die IT-Ambitionen von Putin analysieren. Ihr Fazit ist aus Sicht des Kremls vernichtend: Zwar hat Russland wegen der seit Jahren andauernden Spannungen mit der EU und den USA in den vergangenen Jahren viel Geld investiert, um seine technische Infrastruktur auszurüsten und zu nationalisieren, aber anscheinend sehr eingleisig. Ein russisches Internet, das vom Rest der Welt abgetrennt ist, und das über Online-Schranken sowie Zensurmöglichkeiten verfügt – das scheint Putin wichtig gewesen zu sein.

Ausschluss von Waren und Kunden Immer mehr Firmen kehren Russland den Rücken

Aber bei seinem Fokus auf den Softwarebereich scheint der russische Präsident die Hardware aus den Augen verloren zu haben. Die Industrie, die die Bauteile für die Informationsgesellschaft und ihre wichtigsten Produkte liefert, Halbleiter, Prozessoren oder Mikrochips, seien in der nationalen IT-Strategie nicht mitgedacht worden, sagt Technologie-Expertin Epifanova. Russland habe eigene Hersteller von Prozessoren, sagt die Forscherin. „Mehrere sogar, Baikal und Elbrus sind die wichtigsten. Aber die sind auf die taiwanesische Produktion angewiesen und wir wissen schon, dass die ihre Halbleiterlieferungen nach dem Beschluss des amerikanischen Büros für Industrie und Sicherheit (BIS) einstellen werden. Russland hat aber keine eigene Halbleiterindustrie, also wird es auch andere Produktionsketten treffen.“

Konzerne meiden russischen Markt

Wie viele andere Länder auch, bezieht Russland seine Chips aus dem Ausland. Entweder die Halbleiter werden fertig bei Konzernen wie Intel eingekauft. Alternativ können sie von Unternehmen wie Baikal oder Elbrus entworfen und dann von Chipkonzernen wie TSMC in Taiwan, Samsung in Südkorea oder AMD in den USA auf Bestellung gefertigt werden. Die großen und bekannten Namen der Branche haben aber genauso wie die eher unbekannten bereits angekündigt, dass sie die Exportkontrolle der US-Regierung, die effektiv eigentlich ein Exportverbot darstellt, einhalten werden. Denn das zuständige BIS in Washington fasst den Begriff „amerikanisches Technologie-Produkt“ sehr weit. Logischerweise gehören alle Produkte dazu, die auf amerikanischem Boden oder von amerikanischen Unternehmen gefertigt werden. Die Kontrolle schließt auch Waren ein, die im Ausland mithilfe von amerikanischem Equipment hergestellt wurden. Und Produkte, bei denen Baupläne amerikanischer Firmen zum Einsatz kommen, also das geistige Eigentum amerikanischer Staatsbürger. Kurz gesagt, betrifft die Exportkontrolle so gut wie den gesamten Technologie-Sektor, auch im Ausland.

Denn die USA sind mit Unternehmen in dem Bereich weltweit derart führend, dass sie an irgendeiner Stelle der Wertschöpfungskette immer ihre Finger im Spiel haben. Und sie sind als Nation politisch und wirtschaftlich so mächtig, dass sich die Frage, ob man das Exportverbot einhält oder ignoriert, für Unternehmen wie TSMC gar nicht stellt. Natürlich hält man sich daran, weil die Konsequenz seinerseits neue Sanktionen sein könnten.

Keine Chips für kritische Infrastruktur

Für Russland bedeutet diese Strafe nichts anderes, als dass man in den wichtigsten Industriebranchen des 21. Jahrhunderts bis auf Weiteres keine modernen Bauteile mehr bekommt. Der heimischen Computerindustrie, der Luftfahrt, der Schifffahrt und der Raumfahrt droht, womit die Autoindustrie weltweit seit dem Beginn der Corona-Krise kämpft: ein akuter Chipmangel – und zwar auf Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. „Ganz praktisch kann es einfach den Produktionsstopp russischer Prozessoren bedeuten“, erklärt DGAP-Forscherin Epifanova die möglichen Auswirkungen der Exportkontrollen. „In Russland werden die Chips von Baikal und Elbrus vor allem von staatlichen Behörden, aber auch in der kritischen Infrastruktur eingesetzt. Sie gelten als große Leistung. Natürlich haben sie noch einige Chips auf Lager eingekauft, aber wir können davon ausgehen, dass der Vorrat in den nächsten 12 bis 18 Monaten aufgebraucht sein wird.“

„Sanktionswalze rollt“ Ukraines Außenminister fordert „Entputinisierung“

Wozu diese Situation führen kann, zeigt das Beispiel Huawei. Das chinesische Unternehmen war weltweiter Marktführer beim 5G-Ausbau, hat mit seinen Smartphones Apple und Samsung Konkurrenz gemacht. Es gab aber auch immer den Verdacht, dass Huawei seine Technik nutzt, um in Europa und in den USA für den chinesischen Staat zu spionieren. Deshalb ist das Unternehmen vor wenigen Jahren zum ersten Ziel der neuen amerikanischen Technologie-Sanktionen geworden. Nur ein Jahr später war der Umsatz um 30 Prozent eingebrochen, das Smartphone-Geschäft ohne neue Halbleiter aus dem Ausland praktisch tot. „Unser Ziel ist es, zu überleben“, hat die Unternehmensführung die Pläne für die kommenden Jahre vor wenigen Monaten zusammengefasst.

Denn die chinesische Halbleiterindustrie hat das gleiche Problem wie die russische: Auch die Volksrepublik hat einen großen Rückstand bei Forschung und Fertigung auf die führenden Technologienationen. Auch chinesische Chipkonzerne setzen auf europäische Designs, amerikanisches Equipment oder ausländische Fertiger in Taiwan und Südkorea. Sollten sie überlegen, gegen die amerikanischen Exportkontrollen zu verstoßen, droht ihnen das Huawei-Schicksal – so, wie jetzt Russland.

„Es gibt keinen Plan“

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„Ich weiß von keinen Plänen, dass Russland eine eigene Halbleiterindustrie starten wird“, sagt Alena Epifanova über den womöglich einzigen Ausweg aus der Krise, der aber auch nur Wunschdenken zu sein scheint: „Realisten wissen, dass das selbst ohne Ukraine-Konflikt unmöglich wäre.“

Denn die Halbleiterindustrie ist die womöglich teuerste der Welt: Eine einzige moderne Fabrik kostet zwischen 10 und 25 Milliarden Euro. Das notwendige Equipment stellen nur wenige Unternehmen her, im Cutting-Edge-Bereich sogar nur ein einziges. Die Wartelisten der Spezialisten sind lang, fähiges Personal ist rar.

„Ich weiß nicht, was sie vorhaben“, sagt Technologie-Expertin Epifanova ratlos. „Ich weiß nicht, was sie gedacht haben, bevor sie in die Ukraine einmarschiert sind. Denn diese Diskussionen, dass Technologie-Sanktionen kommen könnten, wurden geführt. US-Präsident Joe Biden hatte das im Dezember angekündigt. Aber das ist das eigentliche Problem, es gibt keinen Plan.“ Die Technologie-Sanktionen der USA sorgen nicht dafür, dass die russische Bevölkerung stundenlang Schlange am Geldautomaten steht, dass der Rubel abstürzt oder ausländische Unternehmen das Land verlassen. Aber sie werfen Russland technologisch in die Steinzeit zurück. 30 Jahre, schätzt Alena Epifanova, müsste die russische Halbleiterbranche massiv investieren, um auf den heutigen Stand zu kommen. Und dann noch einmal 30 Jahre forschen und entwickeln, bis man zur Spitze aufgeschlossen hat.