Der Tagesspiegel – Von Christopher Stolz – 10.02.2023, 21:18 Uhr
Israels Ex-Premier befeuert Vorwürfe: Wie nah kamen Kiew und Moskau einer Friedenslösung?
Naftali Bennett ist überzeugt davon, dass beide Parteien zu Kriegsbeginn gesprächsbereit waren. Doch soll es bei wichtigen Punkten gehakt haben – und an westlichen Partnern.
War ein Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland in der Anfangsphase des Krieges im Bereich des Möglichen? Das behauptet zumindest der damalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett. Er berichtet in einem fast fünfstündigen Interview über seine Verhandlungsversuche zwischen den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin.
Bennett zufolge soll es „eine 50-prozentige Chance“ gegeben haben, einen Waffenstillstand zu erreichen. „Leider ist das Vorhaben gescheitert“, zitiert ihn der israelische Journalist Anshel Pfeffer in einem Gastbeitrag bei CNN. Allerdings habe sein Engagement dafür gesorgt, dass es kurze Feuerpausen gab, die es ermöglichten, Zivilisten aus den umkämpften Gebieten zu retten.
Im Interview mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum, das Bennett auf seinem Youtube-Kanal veröffentlicht hat, berichtet er von erheblichen ukrainischen und russischen Zugeständnissen. Aus seiner Sicht haben vor allem Großbritannien und die USA den Waffenstillstand verhindert. Die Behauptung, dass der damalige britische Premier Boris Johnson einer der Wortführer war, gibt es schon seit Monaten.
Begonnen haben soll sein Bemühen um eine friedliche Lösung mit Gesprächen mit Selenskyj. Der ukrainische Präsident soll Bennett beauftragt haben, herauszufinden, ob es die russischen Truppen auf ihn persönlich abgesehen hätten. „Ich wusste, dass Selenskyj in Gefahr ist, er war in einem Bunker, dessen Standort unbekannt war.“
Bennett betont, dass er jeden seiner Schritte eng mit den westlichen Verbündeten – allen voran Großbritannien, USA, Frankreich und Deutschland – abgestimmt habe. Wortwörtlich sagte er im Interview mit Daum, dass er US-Präsident Joe Biden vorgeschlagen habe, eine „Pipeline“ in den Kreml aufzubauen.
Bennett habe an diesem Punkt begonnen, regelmäßigen Kontakt zu Selenskyj und Putin zu halten und spricht von beiderseitigem Vertrauen in den Gesprächen ihm gegenüber. Diese diplomatischen Versuche geschahen seinen Ausführungen nach zeitgleich mit den Friedensverhandlungen der ukrainischen und russischen Delegationen im belarussischen Gomel und später im türkischen Istanbul.
„Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten.“ Israels Ex-Premier Natfali Bennett
Am 5. März 2022 sei er nach Moskau geflogen, um Putin zu treffen, berichtet Bennett. Er war der erste westliche Spitzenpolitiker, der dies nach Beginn des Kriegs tat. Dieser habe im Gespräch zugesichert, Selenskyj nicht töten zu wollen – und auf sein ursprüngliches Kriegsziel, die Demilitarisierung der Ukraine, zu verzichten. Das will Bennett anschließend dem ukrainischen Präsidenten mitgeteilt haben, der seinerzeit dazu bereit gewesen sein soll, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten.
Der Weg zu einem Waffenstillstand schien aus Bennetts Sicht geebnet. „Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten“, sagt er im Interview mit dem israelischen Journalisten.
Dabei hatte er auch Zweifel: So schildert Bennett, dass Putin die ukrainische Regierung bereits bei seinem Besuch in Sotschi im Oktober 2021 als „Nazis“ beschimpft habe. Er sei sich sicher gewesen, dass ein russisches Ziel zu Kriegsbeginn neben der Demilitarisierung der Ukraine auch die Ermordung Selenskyjs gewesen sei.
Bennett schätzte die Möglichkeit eines Waffenstillstandes auf rund 50 Prozent. Allerdings standen da die besonders heiklen Themen noch aus: Die Frage, was mit den besetzten Gebieten passieren sollte und eventuelle Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Solche Garantien lehnte Russland aber strikt ab. Ohne diese hätte sich Kiew allerdings nicht auf einen Waffenstillstand einlassen können. Dass Selenskyj laut Bennett einen Nato-Beitrittsverzicht zusicherte, zeigte seine Kompromissbereitschaft – allerdings ist ein Beitritt derzeit ohnehin unrealistisch.
Die Reaktionen der westlichen Verbündeten seien gemischt gewesen, so Bennett. Während Bundeskanzler Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und teils auch die US-Regierung die Erkenntnisse als Fortschritte sahen, soll der britische Premier Johnson nicht viel davon gehalten haben. Bennett zufolge sei Johnson im Wissen der Zugeständnisse beider Seiten der Meinung gewesen, dass „Putin weiter bekämpft werden müsse“.
Kurz darauf endete sein initiierter Verhandlungsprozess, berichtet Bennett, weil die westlichen Verbündeten diesen nicht weiter unterstützt haben sollen.
„Sie haben ihn blockiert – und ich dachte, sie hätten Unrecht“, sagt der israelische Ex-Premier. „Es gab eine gute Chance auf einen Waffenstillstand, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.“ Einen Vorwurf wollte er daraus allerdings nicht abgeleitet wissen. Er hält es für möglich, dass die Entscheidung des Westens langfristig die richtige gewesen sein könnte.
Bennett nennt zwei mögliche Gründe für Blockade
Als mögliche Hintergründe dafür, dass der Westen den Verhandlungsprozess nicht weiter unterstützte, nennt Bennett zwei: Zum Ersten das Ausmaß der Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha, das nach dem russischen Rückzug Anfang April publik wurde und das auch offiziell seitens der ukrainischen Regierung als Grund des Stopps der Verhandlungen angeführt wurde. Nach den Bildern, die um die Welt gingen, sei eine gemeinsame Lösung nicht mehr möglich gewesen, so Bennett.
Zweitens habe der Präzedenzfall einer möglichen chinesischen Invasion in Taiwan eine Rolle gespielt. Zugeständnisse hätten den chinesischen Aggressor dort ermutigen können.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow schob im Mai nachträglich der Ukraine die Schuld für den geplatzten Waffenstillstand in die Schuhe. Kiew habe Vorschläge für eine Verhandlungslösung ändern wollen. Aus seiner Sicht habe die Ukraine ihre Neutralität zugesichert und versprochen, dass das Land weder in die Nato eintrete noch Nuklearwaffen auf seinem Territorium lagere. Erst dann sollte über Sicherheitsgarantien gesprochen werden. Später habe die Ukraine zuerst Garantien von westlichen Staaten haben wollen.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak bestätigte kürzlich in einem Interview mit der „Bild“, dass der wichtigste Punkt in den Verhandlungen Sicherheitsgarantien gewesen seien. „Das hätten klare und verständliche Garantien sein müssen, dass niemand unser Territorium einnehmen darf“, sagte Podoljak. Allerdings dementierte er, dass die Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft als Gegenleistung für einen Rückzug der russischen Truppen verzichtet hätte.
Zur „Welt“ sagte Podoljak außerdem, dass nie Teil einer Verhandlungslösung hätte sein können, Staatsgebiet gegen Frieden einzutauschen. „Das wäre auch absoluter Nonsens“, sagte Podoljak. Der Krieg würde dann einfach weitergehen, „aber in einer anderen Dimension, auf eine andere Art“.
Bereits 2014 habe sich Russland mit der Krim einen Teil der Ukraine geholt und es sei kein Frieden eingekehrt. „So eine Abmachung würde die Kapitulation der Ukraine bedeuten“, sagte Podoljak. „Das würde bedeuten, dass es keine Bestrafung für die durch Russland verübte Verletzung internationalen Rechts erfolgt.“
Mitarbeit: Yulia Valova