Jürgen Habermas im Kreuzfeuer der Kritik

Quelle: Zeit online – 16. Februar 2023  – Ein Gastbeitrag von Jan C. Behrends  – Auf einer Seite lesen 

Jan C. Behrends hat die Professur „Diktatur und Demokratie – Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder inne. Er forscht zudem am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Jürgen Habermas: Lauter blinde Flecken

Jürgen Habermas plädiert in einem Essay für Verhandlungen mit Russland. Seine Argumentation beruht jedoch auf einer Unkenntnis Osteuropas. n einem jüngst veröffentlichen Essay forderte der Philosoph Jürgen Habermas Verhandlungen mit

Um es gleich zu Anfang zu sagen: Jürgen Habermas gehört nicht in die Liga deutscher Nationalpazifisten, die mit irritierender Regelmäßigkeit peinliche Manifeste und offene Briefe veröffentlichen. Er gehört auch nicht in das Lager derjenigen, die aus vermeintlicher Friedensliebe das Geschäft des Kremls besorgen. In seinen Ausführungen in der Süddeutschen Zeitung erkenne ich vielmehr genuine Besorgnis und das aufrichtige Bemühen, sich der schwierigen Situation in Europa zu stellen und intellektuell zu intervenieren. Damit bleibt der engagierte Sozialphilosoph seiner Linie treu. Habermas war zu keiner Zeit verlegen, sich zu Wort zu melden und seine Einwürfe haben die Republik oft bereichert.

Sein Anliegen ist es nun, für Verhandlungen mit dem russischen Machthaber und ein rasches Ende des Krieges in der Ukraine einzutreten. Das scheint berechtigt: Wer hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, dass dieser grausame Krieg zwölf Monate wüten würde? Gilt es nicht, nach einem Ende des Gemetzels zu suchen? Habermas rät den westlichen Mächten inklusive Deutschland deshalb dazu, nicht aufzurüsten, bei Waffenlieferungen vorsichtig zu bleiben und vor allem mit Putin zu verhandeln.

Er erwähnt eher en passant, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen sein Nachbarland führt. Doch Putins Aggression ist nicht der Kern seines Argumentes. Letztlich interessieren ihn die Details im Osten wenig. Vielmehr geht es ihm darum, das Handeln der westlichen Mächte zu kritisieren, um, so seine Hoffnung, den Krieg im Sinne der Humanität zeitnah zu beenden. Verhandlungen böten dazu die Möglichkeit, es gehe darum, einen „gesichtswahrenden Kompromiss“ für Moskau zu finden. So weit, so verlockend. Wer in Deutschland würde Habermas hier grundsätzlich nicht zustimmen wollen?

Doch die Probleme beginnen bereits bei seiner Begriffswahl. In Anlehnung an Christopher Clarks populäres Buch zum Beginn des Ersten Weltkriegs wirft Habermas dem Westen „Schlafwandeln am Rande des Abgrundes vor“. Damit legt er nahe, die politischen Akteure in den Demokratien verhielten sich gegenwärtig ähnlich kriegslüstern wie die Autokraten Wilhelm II., Nikolaus II. und Franz-Joseph I. im Sommer 1914.

Doch dieser Vergleich entbehrt jeder Substanz. Bis zuletzt haben die westlichen Staatsführer – von Joe Biden über Emmanuel Macron bis zu Olaf Scholz – mit Wladimir Putin verhandelt. Selbst als sie sich im Angesicht Moskauer Lügen und Drohungen bereits lächerlich gemacht haben. Von einer Kriegseuphorie wie 1914 ist in Europa nichts zu spüren. Auch nicht in der Ukraine, die in diesen Krieg gezwungen wurde.

Aus Rücksicht auf Moskau hat der Westen sogar über Jahre auf eine militärische Unterstützung der bedrohten Ukraine weitgehend verzichtet. Die Eindämmung des Konfliktes stand stets im Vordergrund.

Jürgen Habermas beklagt nun die „Aufrüstung“, die angeblich auf Drängen der Ukraine geschehe. Doch ist es nicht eher so, dass insbesondere Deutschland – zum Glück nicht die Vereinigten Staaten – in den vergangenen Jahrzehnten bis zur Wehrlosigkeit gegenüber den Feinden der Demokratie abgerüstet hat? Der Stellenwert des Militärs war jedenfalls unter der Kanzlerschaft Angela Merkels gering. Und was sollen wir von einem Satz halten, der bei Habermas lautet: „Der Krieg zieht sich hin, die Zahl der Opfer und der Umfang der Zerstörungen schwellen an.“ Müsste es nicht heißen: „Der russische Vernichtungskrieg setzt sich fort, ukrainische Zivilisten sterben zu Tausenden, ihre Kinder werden verschleppt, die Städte und die Infrastruktur des Landes werden erbarmungslos zerstört.“ Hier fehlt der Mut zum klaren Urteil.

Ergänzend gibt es im Text zahlreiche Verweise auf die verheerende Lage an der Front, in denen jedoch der Angreifer nicht benannt wird. Krieg ist aber kein Schicksal, sondern ein konkretes Geschehen. Es geht eben nicht um ein Abstraktum, nein, wir reden über einen offen erklärten, imperialen und genozidalen Vernichtungsfeldzug Russlands, der bereits 2014 mit der Annexion der Krim sowie der Ausrufung der Pseudovolksrepubliken Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine begann. Aber für solche Details hat Habermas keine Zeit, er hat andere Ratschläge.

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Quelle: nd – Journalismus von links  –https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171087.ukraine-und-russland-ukrainekrieg-wer-antwortet-juergen-habermas.html

Ukrainekrieg: Wer antwortet Jürgen Habermas?  Verhandeln verboten: Es zählt nur die bessere Beschimpfung  Christof Meueler -17.02.2023, 18:21 Uhr

Vor dem Ukraine-Krieg war der Philosoph Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, die moralische Instanz des bundesdeutschen Linksliberalismus. Er galt als alter, weiser Mann, der sich bedächtig und seriös um den Frieden und die Freiheit sorgte, als einer der wenigen Wissenschaftler, die in der Lage sind, sich in politische Debatten einzumischen, ohne peinlich zu sein.

Meistens versuchte er den Beweis zu führen, dass sich gesellschaftliche Konflikte entschärfen lassen, wenn man sie zum allgemeinen Wohlgefallen verrechtlicht. Zuhören, entspannen, nachdenken – so lautete ungefähr seine Idealvorstellung, damit sich das bessere Argument durchsetzen könne. Als wäre das politische Leben eine große Talkshow, in der es aber rational und gerecht zugeht. Davon handelt auch sein Hauptwerk, die »Theorie des kommunikativen Handelns«, das er vor über 40 Jahren veröffentlichte.

Und nun muss Habermas erfahren, dass gegen ihn kommunikativ gehandelt wird. Am vergangenen Mittwoch erschien von ihm ein langer Aufsatz in der »Süddeutschen Zeitung«, in dem er sich für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland aussprach.

Das kam in der sogenannten Qualitätspresse gar nicht gut an. Er habe wohl keine Ahnung und schon gar nicht vom Osten, hieß es, so, als sei Habermas zwar sehr alt, aber nicht mehr länger weise. Im Prinzip ein Mann des Feindes. Allen voran twitterte der notorisch stimmungsvolle ukrainische Ex-Botschafter und Vize-Außenminister Andrij Melnyk: »Dass auch Jürgen Habermas so unverschämt in Putins Diensten steht, macht mich sprachlos. Eine Schande für die deutsche Philosophie. Immanuel Kant und Georg Friedrich Hegel würden sich aus Scham im Grabe umdrehen.«

Was Habermas nicht bedacht hatte: Bei bestimmten Fragen, wie zum Beispiel denen des Eigentums oder der Aufrüstung, zählt nicht das bessere Argument, sondern die bessere Beschimpfung. Zwar hatte Habermas in seinem Aufsatz dem Ansatz zugestimmt, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfte, sich aber der beschwörenden Worte verweigert, wie sie der litauische Außenminister geäußert hatte: »Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.« Wie soll das auch gehen, fragt sich Habermas. Er ist sich sicher, »dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen«. Beides lehnt er ab und schlägt die »Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022« vor, was ihm in den Qualitätsmedien als naive bis zynische Idee ausgelegt wird.

1968 erschien ein Sammelband »Die Linke antwortet Jürgen Habermas«. Davon kann heute keine Rede mehr sein, weil es diese Linke mit ihren revolutionären statt reformistischen Forderungen nicht mehr gibt. Die meisten haben sich freiwillig zur Front gemeldet, rein ideell natürlich, vor dem Rechner im Wohnzimmer. Habermas aber ist sich sicher, dass der Krieg zunehmend »als zermalmende Gewalt« erfahren werden wird und »umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf«.