|Datum: 05.01.2022 – Quelle: Kontext, Ausgabe 562 – Debatte
Brüssel macht Atomkraft grün – Künstlich beatmet (von Manfred Kriener)
Atomkraft – das ist die ziemlich ramponierte, alte Wunschmaschine, ein Abfallprodukt der Bombe und eine Erlöserphantasie der 1950er-Jahre. Ihr neuer Platz ist der Komposthaufen der Geschichte. Daran ändert auch das Nachhaltigkeitslabel der EU-Kommission nichts. Ein Kommentar.
Zehn Jahre nach Fukushima will die Europäische Gemeinschaft die Atomkraft im Paket zusammen mit fossilem Erdgas als nachhaltige und klimafreundliche Technologie einstufen. Mit dem Nachhaltigkeitslabel können AKW-Neubauten in Förderprogramme der EU aufgenommen werden, entsprechende Projekte bekommen Geld aus dem grünen EU-Topf.
Auch die Nachhaltigkeitsfonds an den Weltbörsen orientieren sich an solchen Vorgaben, wenn die Fondsmanager entscheiden, welche Aktien von welchen Unternehmen gekauft werden. Atommeiler hätten damit formal den gleichen Status wie Solarparks, Radwege oder Trinkwasseraufbereitungsanlagen. Alles öko! Alles prima fürs Klima.
Die Routine-Empörung beim grünen Ampelpersonal ist groß, sie kommt indes etwas spät, die Brüsseler Pläne liegen schon lange auf dem Tisch. Im Koalitionsvertrag soll ein entsprechender Passus, der die neue Bundesregierung verpflichtet hätte, gegen die Brüsseler Pläne Front zu machen, gestrichen worden sein. Man will offensichtlich keinen Atomstreit mit Frankreich lostreten. Denn es war der französische Präsident Macron, der für seine Atomenergie mit aller Macht das EU-Nachhaltigkeitsticket löste.
Kann eine Technologie nachhaltig sein, die im Falle ihres Versagens weite Landstriche Europas unbewohnbar macht, die Abfallprodukte produziert, die für Hunderttausende Jahre von der Biosphäre abgeschottet in tiefen geologischen Schichten vergraben werden müssen? Deren Spaltmaterial abgezweigt und für Atomwaffen oder terroristische Zwecke missbraucht werden kann? Eine Technologie, deren tödliches radioaktives Inventar nicht gegen gelenkte Flugzeugabstürze gesichert ist? Deren Strom inzwischen dreimal so teuer ist wie Strom aus erneuerbaren Energien?
Es hört sich an wie ein schlechter Witz oder wie blanker Irrsinn, es ist aber Realität im komplizierten Gefüge der EU, wo eine Kommissionspräsidentin von der Leyen regiert, die 2011 den deutschen Ausstieg mitgetragen hat, um zehn Jahre nach Fukushima in der EU die grünen Atommeiler auszurufen. Das vielfach herbeigeredete Comeback der Atomenergie wird es trotzdem nicht geben. Im Gegenteil: Die Talfahrt hält weiter an. Ohne massive staatliche Subventionen ist Atomkraft bereits heute mausetot. Jetzt wird sie von Brüssel künstlich beatmet.
Dass die Atommeiler kein Klimaretter sein können, haben wissenschaftliche Gutachten immer wieder bestätigt.
Um in nennenswertem Umfang den Kohleausstieg auszugleichen, müssten weltweit Zehntausende Meiler gebaut werden, die dann Mitte der 2030er-Jahre, also viel zu spät, betriebsbereit wären. Der Pfadwechsel hin zu wirklich klimafreundlichen modernen Technologien wird durch die Atomkraft blockiert.
Sie zementiert die alten zentralen Strukturen und bindet Geld, Menschen, Ideen, Ressourcen, die dringend für die Weiterentwicklung enkeltauglicher Energie- und Speichertechnologien gebraucht werden. Der Möglichkeitsraum für neue Energien ist weit geöffnet. Es braucht keine mit Kohle und Uran betriebenen Großkraftwerke, die den Strom gnädig an die Untertanen verteilen. Die können längst eigenen Strom machen mit hauchdünnen Solarbeschichtungen, mit neuen unsichtbaren Solardachziegeln. Atomkraft – das ist die ziemlich ramponierte, alte Wunschmaschine, ein Abfallprodukt der Bombe und eine Erlöserphantasie der 1950er-Jahre. Ihr neuer Platz ist der Komposthaufen der Geschichte. Noch immer gilt: Kaffee zu kochen mittels gespaltener Urankerne ist nicht wirklich clever.
Mit dem Aufruf „Kein Geld für Atom und Erdgas!“ appellieren Campact, Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace, BUND und Nabu, die Ärztevereinigung IPPNW und weitere Organisationen an die Bundesregierung, den Taxonomie-Vorschlag der EU-Kommission abzuwenden – notfalls mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Den Appell kann man hier unterzeichnen.