Prof. Dr. Michael Butter: Warum gibt es gerade so viele Verschwörungstheorien?

9. Politikstunde: Warum gibt es gerade so viele Verschwörungstheorien? – 22.570 – Aufrufe –  31.03.2020 –  Bundeszentrale für politische Bildung / bpb – 

Prof. Dr. Michael Butter im Live-Vortrag: Was ist eigentlich eine Verschwörungstheorie und warum glauben so viele Menschen daran? Wir schauen uns gemeinsam mit dem Amerikanisten und Verschwörungstheorien-Kenner Michael Butter an, mit welchen Argumenten solche Theorien groß werden, welche gängigen Motive grade kursieren und was sie eigentlich von echten Verschwörungen unterscheidet.

Links zur Politikstunde

Suizid, Gewalt, Frauenhass: Wie gefährlich sind Incels in Deutschland?

Suizid, Gewalt, Frauenhass: Wie gefährlich sind Incels in Deutschland?1.333.755 Aufrufe – 30.07.2020    Y-Kollektiv

Triggerwarnung vorab: Im folgenden Film geht es in Auszügen um Suizid-Gedanken und Depressionen. Falls Ihr davon selbst betroffen seid oder Erfahrungen damit gemacht habt und Hilfe benötigt, findet Ihr Informationen zu Beratungsstellen weiter unten in der Infobox.

Sie hatten noch nie Sex, hassen Frauen und rufen zu Gewalt auf. Incels gehören zu einer der extremsten Nischen des Internets. Sie fordern eine staatliche Zuteilung von Freundinnen und die Legalisierung von Vergewaltigungen. Und sie sind gefährlich.

In den vergangenen Jahren haben Incels in Nordamerika bereits mehrere Anschläge verübt. Wie viele Medien berichteten, ist auch von den Attentätern von Halle und Hanau anzunehmen, dass sie Teil dieser Szene waren. Die Reporter*innen Isabell Beer und Johannes Musial machen sich auf die Suche nach Informationen. Neun Monate lang recherchieren sie, sind in den Foren der Incels unterwegs, schreiben und telefonieren mit ihnen. Einen aus der Szene konfrontieren sie sogar persönlich – er hatte online mit einem Amoklauf gedroht. Viele weitere Personen sind auf verschiedene Weise mit Incels in Berührung gekommen und kommen in der Reportage zu Wort: Sicherheitsbehörden, ein Schönheitschirurg, der auch Incels behandelt oder eine Influencerin, die Opfer vom Hass der Incels wurde. Gibt es in Deutschland ein riesiges Problem und niemand weiß davon? Die Reporter*innen Isabell Beer und Johannes Musial wollen wissen: Wie gefährlich sind Incels in Deutschland?

 Weitere Dokus aus dem funk Themenschwerpunkt Extremland: https://www.youtube.com/playlist?list… #ExtremLand

Reporterin: Johannes Musial, Isabell Beer Recherche: Philipp Höppner Schnitt: Danny Breuker Kamera: Sarah Lehnert, Johannes Musial, Christoph Metzger, Ilhan Coskun, Christoph Dohne, Henrike Böttcher

Notfallnummern bei Depressionen und anderen psychischen Notfall-Situationen: TelefonSeelsorge in Deutschland +49 (0)800 111 0 111 (gebührenfrei) 116111 – Die Nummer gegen Kummer https://www.nummergegenkummer.de/

Mehr Informationen zu dem Thema:

Umgang mit rechten Strömungen – „Die Kirchen müssen rote Linien ziehen“

Quelle: Deutschlandfunk vom 15.6.2020

Umgang mit rechten Strömungen – „Die Kirchen müssen rote Linien ziehen“

Wie reagieren Kirchen auf rechtsextreme Strömungen? Das hat die Otto-Brenner Stiftung untersucht. Mitautor Wolfgang Schroeder sagte dazu im Dlf: Zwar gebe es eine religiöse Rechte in Deutschland, sie sei jedoch in den Kirchen randständig. Für den Umgang der Kirchen mit der AfD gebe es kein Patentrezept.

„Es existieren sehr konservative kirchliche Milieus, die eine Affinität für rechtspopulistische Positionen aufweisen.“ Dieser Satz steht in einer Studie, die die Otto-Brenner-Stiftung, die Wissenschaftsstiftung der IG-Metall dieser Tage veröffentlicht hat. Die Forscher wollten herausfinden, wie Akteure der Zivilgesellschaft auf den zunehmenden Einfluss von Rechtspopulisten reagieren.

„Bedrängte Zivilgesellschaft von rechts“ heißt der Titel. Und in einem Kapitel geht es um Religion und Kirchen – um die Frage also, welche Rolle Rechtspopulisten und rechte Einstellungen in den Kirchen spielen, wie stark etwa die AfD dort vertreten ist und wie kirchliche Funktionäre damit umgehen. Ermöglichen sie eine Debatte, eine Diskussion? Auch mit Vertretern des rechten Milieus? Oder grenzen sie ab und aus?

Über die Ergebnisse sprach der Deutschlandfunk mit dem Projektleiter und Studienmitautor Wolfgang Schroeder. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, kurz WZB.

Dittrich: Herr Schroeder, rechte Parteien und Rechtspopulisten bezeichnen sich selbst häufig als „Retter des christlichen Abendlandes“. Welche inhaltlichen Verbindungslinien gibt es denn Ihrer Studie zufolge zwischen den großen Kirchen in Deutschland und den Rechtspopulisten?

Schroeder: Ja, das sind eine ganze Reihe, die man da aufzählen kann. Beginnen wir mal mit dem Anti-Islamismus, der eine ganz wichtige Rolle spielt. Die christlichen Kirchen gehen traditionell davon aus, dass sie das Monopol des Göttlichen und der Wahrheit für sich in Anspruch nehmen können. Und da ist natürlich kein Platz für den Islam.

Dann die Vorstellung, dass im Zentrum der Gesellschaft Ehe, Familie steht, dass die Abtreibung eine Handlung wider Gottes ist, dass die Gleichstellung sich nicht mit den göttlichen Vorstellungen vom Miteinander der Geschlechter vereinbaren lässt.

Und, ganz weit zurückliegend, auch der Antisemitismus. Das sind also historische Traditionslinien, die – das muss man auch deutlich betonen – gegenwärtig in den Kirchen eher eine Minderheitsposition beanspruchen können, die aber durchaus von einem Teil der konservativen Christen in den beiden großen Kirchen für sich beansprucht werden.

„Das sind randständige Positionen“

Dittrich: Sie haben jetzt gerade schon gesagt: konservative Christen. Können Sie mal die Gruppen oder die Strömungen innerhalb der Kirchen beschreiben, die sich eher zu politischen Einstellungen der neuen Rechten hingezogen fühlen?

Schroeder: Na ja, wenn man das organisatorisch betrachten will, ist das die Evangelische Allianz in Deutschland, sind das Opus-Dei-Leute auf katholischer Seite, die Piusbruderschaft. Und das Ganze ist vielfältig flankiert von Netzwerken, die im Internet aktiv sind wie „kath.net“ oder „idea“.

Und insofern ist das durchaus eine bunte Landschaft, die in diese Richtung operiert. Aber, wie gesagt, das sind randständige Positionen in den beiden Kirchen mit einer gewissen Öffentlichkeitswirkung. Und die kommt immer dann zustande, wenn es um große Ereignisse geht, die auch die Gesellschaft interessieren, wie beispielsweise die Kirchentage.

Rechtsextremismus – Die identitäre Versuchung des Christentums

Dittrich: Sie sagen das jetzt zu den christlichen Kirchen. Haben Sie sich auch andere Religionsgemeinschaften angeschaut?

Schroeder: Wir haben uns auch ein bisschen mit den jüdischen Communitys in Deutschland befasst, wo aber solche Strömungen wirklich nur auf einzelne Individuen sich beziehen können. Also die Anschlussfähigkeit an den Rechtspopulismus, so stark wie wir das aus den christlichen Kirchen kennen, ist das in den anderen Religionsgemeinschaften nicht der Fall; was einfach auch damit zusammenhängt, dass der Rechtspopulismus ja von der Struktur her gegen diese anderen Religionsgemeinschaften ausgerichtet ist.

„Die Kirchen haben die Willkommenskultur 2015 verkörpert“

Dittrich: Und zusammenfassend würden Sie sagen, in den christlichen Kirchen, da gibt es so etwas wie eine „Religiöse Rechte“?

Schroeder: Das kann man auf jeden Fall sagen. Es gibt eine religiöse Rechte, die für sich beansprucht, das „wahre Christentum“ zu verkörpern, eine enge Vorstellung von Wahrheit, von Göttlichkeit, von einer Gesellschaft, die mit sich eins ist, weil sie homogen ist. Das ist ja auch einer der Nährböden des Rechtspopulismus, dass man die heterogene, plurale Gesellschaft und die plurale Demokratie ablehnt, weil sie eine „Gefahr für das Zusammenleben der Menschen“ bedeute.

Dittrich: Und wie einflussreich sind diese Gruppen innerhalb der Kirchen?

Schroeder: Also, sie haben wirklich nur einen randständigen Charakter, aber sie wirken dann auch wieder mit gewissen Positionen in die Mitte der kirchlichen Gemeinschaften hinein. Das konnte man sehr schön in der Flüchtlingsdebatte beobachten, wo die skeptische Haltung gegenüber einer zunehmenden Aufnahme von Migranten in Deutschland von diesen Strömungen des Rechtspopulismus in den Kirchen sehr stark verstärkt wurde; was dann auch insgesamt in den Kirchen für Debatten sorgte, die man zunächst mal mit den Kirchen nicht in Verbindung bringt.

Kirchen und Politik – „Ich möchte nicht, dass die AfD ausgeschlossen wird“

Haltung vs. Einigkeit

Dittrich: Die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen geht zurück – wie einflussreich sind sie denn Ihrer Einschätzung nach, wenn sie Stellungnahmen gegen Rechts veröffentlichen? Und wie groß ist dann auch die Debatte innerhalb der Kirche darüber?

Schroeder: Zunächst mal ist es ja die Aufgabe der Kirchen, als Träger von Werten, von Formen des fairen, des ethisch geglückten Zusammenlebens, dass sie solche Skepsis, dass sie solche Gefährdungen öffentlich machen und dafür werben, ein auf Nächstenliebe begründetes Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.

Und gleichzeitig sind gewissen Deutungen dann so, dass bestimmte Gruppen sich angesprochen fühlen können, nicht mehr als Teil dieser Kirchen begriffen zu werden. Und das ist Teil dieser Auseinandersetzung mit den konservativen Teilen der Kirche, die dann auch eine starke Affinität zu AfD-Positionen haben.

„Kirchen müssen rote Linien ziehen“

Dittrich: In den vergangenen Jahren gab es innerhalb der Kirchen immer wieder Diskussionen darüber, wie etwa mit der AfD umzugehen ist. Zum Beispiel zur Frage, ob man Vertreter zu den Kirchentagen einlädt. Jetzt kam dieser Tage gerade die Meldung, dass zum ökumenischen Kirchentag im kommenden Jahr in Frankfurt keine Vertreter der AfD eingeladen werden. Wie beurteilen Sie diese Strategie?

Schroeder: Das ist genau das Dilemma, in dem die Kirchenführungen stecken: Auf der einen Seite setzen sie sich für Dialog, für Integration ein – auf der anderen Seite sind sie als Institutionen der Wertesicherung verpflichtet, rote Linien gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und gegen pauschale Abwertung von Menschengruppen zu ziehen.

Politischer Diskurs – „Katholische Kirche hat ein Glaubwürdigkeitsproblem“

Der Evangelische Kirchentag will die AfD nicht dabei haben, bayerische Bischöfe kritisieren die CSU. Politische Einmischung der Kirchen sei richtig, sagte der Historiker Andreas Rödder im Dlf.

Und das ist ein sehr mühsamer und einer Gratwanderung gleichkommender Prozess. Da gibt es auch in dem Sinn kein wirkliches Patentrezept – bis auf die immer wieder neu zu aktualisierende Haltung, dass man im Gespräch bleiben muss.

Aber Kirchen müssen rote Linien aufmachen, weil ansonsten wären sie natürlich unglaubwürdig als Anwalt von Werten und einem geglückten Zusammenleben in unserer Gesellschaft.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Arbeiterbewegung von rechts?

Arbeiterbewegung von rechts?

204 Aufrufe –  08.03.2021 –RLS SH werkstatt utopie & gedächtnis e.V. – 

Diskussionsveranstaltung mit Prof. Dr. Klaus Dörre. Rechtspopulistische Formationen verzeichnen aus allen Klassen und Schichten Zulauf, dies ist nicht nur ein deutsches Phänomen . Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Rechte Orientierungen sind auch im Denken einiger gewerkschaftlich organisierter und aktiver Arbeiter*innen, bei Betriebsräten und ehrenamtlichen Funktionären, vorhanden.

Klaus Dörre hat im Rahmen einer qualitativen Studie Gründe dafür gesucht und gefunden. Der Untertitel des mit anderen herausgegebenen Buches lautet „Ungleichheit – Verteilungskämpfe – populistische Revolte“.


Lunch Lecture: Klaus Dörre „In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte“837 Aufrufe – Live übertragen am 18.02.2021

In der Warteschlage. Arbeiterschaft und radikale Rechte. Dörre et al Inhaltsverzeichnis

Rezension von Klaus Dörres Buch _In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte.


Klaus Dörre: Rechtspopulismus und Gewerkschaften2.223 Aufrufe – 20.03.2019


Rechtspopulismus und Gewerkschaften

Rechte Ressentiments schwappen nicht nur von außen, aus den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Politik in die Betriebe und Unternehmen hinein, sondern haben einen arbeitsweltlichen Nährboden – das ist das zentrale Ergebnis der vorliegenden Untersuchung.

In der Befragung von Beschäftigten aus Industrie und Dienstleistungen sowie Expert*innen aus Gewerkschaften kommt zum Vorschein, in welch hohem Maße rechtspopulistische Anschauungen, Äußerungen und Aktivitäten in der Arbeitswelt anzutreffen sind. Dort haben sich – gleichsam unter der Decke einer vielgelobten Erfolgsökonomie – die Verhältnisse zugespitzt. Daraus resultieren Kontroll- und Perspektivverluste. Politische Lösungsangebote sind rar. Wachsende Establishmentkritik ist die Folge. Die Entdiabolisierung der extremen Rechten schreitet voran. Neben der Gegenwehr einer wachen und aktiven Zivilgesellschaft wird ­demokratische Arbeitspolitik zu einer wichtigen Ressource gegen weitere Geländegewinne des Rechtspopulismus.

Die Autor*innen:
Dieter Sauer und Ursula Stöger arbeiten im Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München (ISF), Joachim Bischoff, Richard Detje und Bernhard Müller sind unter anderem in der Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik e.V. (WISSENTransfer) aktiv.

www.vsa-verlag.de-Sauer-ua-Rechtspopulismus-und-Gewerkschaften.pdf793 K
Bedrängte Zivilgesellschaft von rechts – Studie der Otto-Brenner-Stiftung 2020

Selektives Impfen – Egoismus rächt sich

Quelle: Kontext – Ausgabe 558 – Datum: 08.12.2021

Rainer Lang

Selektives Impfen – Egoismus rächt sich

Das reiche Europa boostert, in Afrika liegt die Impfquote bei sieben Prozent. Die extreme Ungleichheit hat Folgen, weitere Corona-Mutationen sind nur eine Frage der Zeit. Doch Allgemeinwohl und Vernunft leiden unter ökonomischen Interessen, wie die Tübinger Ärztin Gisela Schneider kritisiert.

Mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie hat eins noch gefehlt: eine neue Variante mit vielen ungewöhnlichen Mutationen, die sich rasant ausbreitet. Omikron verdeutlicht, wie die tief verwurzelte Ignoranz gegenüber Afrika und ein eurozentrischer Blick bei der Pandemie-Bekämpfung zum Bumerang werden können. Mit milden Gaben kommen wir da nicht weiter. Das sagen Experten wie Gisela Schneider schon lange. Die Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm) in Tübingen, das sich seit Jahrzehnten um die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Afrika bemüht, fordert eine Abkehr vom „Charity Modell“ hin zu strukturellen Veränderungen.

Wettlauf gegen die Zeit

Zum Jahrestag der ersten Covid-19-Impfung am 8. Dezember in Großbritannien hat das NGO-Bündnis People’s Vaccine Alliance wirtschaftlich privilegierte Länder zum Umdenken aufgefordert. „Die Weigerung von Pharmaunternehmen, ihr Wissen und ihre Impfstofftechnologie offen zu teilen und die Untätigkeit der wohlhabenden Länder, den Zugang zu Impfstoffen weltweit zu gewährleisten, haben den perfekten Nährboden für neue Varianten wie Omikron geschaffen„, heißt es in einer Pressemitteilung.

Das Bündnis, zu dem unter anderem African Alliance, Oxfam und UNAids gehören, warnte zusammen mit 77 Epidemiolog*innen bereits im März dieses Jahres vor einer zunehmenden Gefahr von Virusmutationen, die die derzeitigen Impfstoffe unwirksam machen könnten, wenn nicht alle Menschen der Welt schnell Zugang zu Impfstoffen erhalten. (lang)

Eigentlich wissen wir, wie es geht, aber es wird nicht umgesetzt„, zeigt sich die Medizinerin enttäuscht. Zwischen Machtansprüchen, Profitinteressen und Scheuklappen-Politik hat globale Solidarität offenbar keine Chance. In den großen Städten mit dichten Populationen finde das Virus einen Nährboden zur weiteren Verbreitung. Und darin sieht die Ärztin eine große Gefahr. In Südafrika sind knapp 30 Prozent der Menschen geimpft, insgesamt sind es in Afrika gerade einmal etwa sieben Prozent. Zum Vergleich: In den Ländern des reichen Nordens liegt die Impfquote inzwischen bei über 70 Prozent.

Schneider erinnert daran, dass sich die Pandemie nur global bekämpfen lässt und Impfen die einzig wirksame Strategie sei. Die Gefahr, dass künftig weitere, womöglich noch gefährlichere Mutationen entstehen, ist umso größer, je geringer die Impfquote ist, darin sind sich die Experten einig. Umso unverständlicher ist für Schneider, dass nicht schon längst mehr geschehen ist und alle Warnungen in den Wind geschlagen worden sind.

Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis eine ungewöhnliche Virus-Variante auftaucht, sagt Schneider. Von ihren Partnern in Kenia weiß sie, dass die Durchseuchung besonders in den ärmeren und sehr dicht bevölkerten Gebieten schon weit fortgeschritten ist und inzwischen auch eine nicht unerhebliche Zahl an Toten verursacht hat. Die Welt sitzt sozusagen auf einer Zeitbombe. Wenn erst einmal eine sogenannte Escape-Variante umgeht, die den Impfschutz umgeht, beginnt die Spirale von Infektionen, Kontaktbeschränkungen und der Suche nach medizinischen Mitteln aufs Neue.

Minimalziel verfehlt

Trotzdem bleibt Gesundheitspolitik, sogar in einer weltweiten Notlage, viel zu sehr auf nationalstaatliche Interessen beschränkt. Die Ausreden, dass es logistisch unheimlich schwierig sei, Impfkampagnen in Ländern mit mangelhafter medizinischer Infrastruktur umzusetzen oder dass vor Ort keine Impfstoffe produziert werden könnten, lässt Schneider nicht gelten. So wurden auf dem afrikanischen Kontinent bereits viele Impfkampagnen erfolgreich umgesetzt: etwa Masern, Meningitis, Polio oder auch Ebola in betroffenen Regionen.

Zur Erinnerung: Schon im Frühjahr 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Plattform „Covid-19 Vaccines Global Access Initiative“, kurz Covax, einen Mechanismus zur gerechten Verteilung von Impfstoffen initiiert. Der Plan war bestechend einfach. Alle Staaten sollten in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Mit diesem Geld sollte zentral Impfstoff für alle eingekauft werden.

Von Anfang an war klar, dass die Umsetzung schwierig werden würde. Kritik an der Schwerfälligkeit von Covax ist sicher nicht unberechtigt. Aber wer schon einmal in Krisen- und Katastrophengebieten war, weiß auch, dass die Vereinten Nationen und ihre Organisationen der einzig global funktionierende Koordinationsmechanismus sind. Doch an einer weltweit gerechten Verteilung war offenbar niemand interessiert. Vielmehr haben die reichen Länder erst einmal den Markt leergekauft. Für Covax war nicht mehr viel übrig, zumal das Projekt von Anfang an drastisch unterfinanziert war.

Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Während bei uns schon kräftig geboostert wird, konnte die Covax-Initiative nicht einmal ihr Minimalziel erreichen. Bis Ende 2021 sollten wenigstens 20 Prozent der Bevölkerung in den 92 ärmsten Ländern der Welt geimpft werden. Vor kurzem musste die WHO eingestehen, dass sie dieses Ziel weit verfehlt hat. Auch andere Vorstöße sind gescheitert: Schon vor mehr als einem Jahr haben Indien und Südafrika vorgeschlagen, geistige Eigentumsrechte wie Patente für Impfstoffe und Medikamente vorübergehend auszusetzen. Doch bis heute wird dies von der EU, mit maßgeblichem Einfluss aus Deutschland, blockiert.

Die Aids-Bekämpfung könnte Blaupause sein

Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen, hochrangigen Gesundheitsexperten und Kirchen setzt sich Difäm für eine Freigabe ein. „Aber an den Patenten hängen zu viele wirtschaftliche Interessen“, vermutet Scheider. Im Sommer musste sie erleben, dass es nicht einmal möglich war, von Tübingen aus nicht genutzte Impfdosen als Spende nach Afrika zu schicken. Angesprochen von Ärzten und dem Impfzentrum in Tübingen hatte das Difäm damals eine Lieferung nach Liberia vorbereitet. In letzter Minute untersagte das Bundesgesundheitsministerium die Ausfuhr wegen möglicher Haftungsrisiken für Deutschland aufgrund der Verträge mit den Pharmakonzernen. Die überschüssigen Impfdosen wurden vom Bund wieder einkassiert.

Da ist es nicht verwunderlich, dass der frühere Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, Elhadj As Sy, kürzlich vor einem weiteren Auseinanderdriften von reichen und armen Ländern im Zuge der Corona-Pandemie gewarnt hat. Die weitreichenden Hilfszusagen hätten sich überwiegend als leere Versprechungen entpuppt, heißt es in einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“. Die internationalen Solidaritätsbekundungen seien nicht mehr als Lippenbekenntnisse.

In einem unter Sys Regie entstandenen Report zur Gesundheitspolitik weltweit wird nicht nur die verfehlte Corona-Bekämpfung angeprangert. Das Gremium fordert eine Stärkung der WHO, einen fairen Mechanismus und eine zentrale Koordination für die Vorsorge und Bekämpfung von Pandemien. Das ist auch für Schneider die richtige Strategie. Längst hätte es auf der Basis des von der WHO eingesetzten Mechanismus ein Aussetzen des Patentschutzes und einen Transfer von Technologien nach Afrika geben können und müssen, damit vor Ort Impfstoffe produziert werden können. Ärzte ohne Grenzen hat auch aufgezeigt, dass dies in Ländern wie Südafrika und dem Senegal schon jetzt ohne Weiteres möglich wäre. Auch andernorts könnten schnell Kapazitäten geschaffen werden.

Eine Blaupause für das, was getan werden sollte, sieht Schneider in der Aids-Bekämpfung. Wären die Kampagnen von kirchlichen Organisationen wie Brot für die Welt oder Misereor zur Herstellung billiger Generika nicht erfolgreich gewesen, könnte heute der Großteil der weltweit 37 Millionen HIV-Infizierten nicht behandelt werden. Die günstigen Arzneimittel, die den identischen Wirkstoff wie die patentgeschützten Produkte enthalten, seien die einzige Möglichkeit zur Bekämpfung der Krise in den armen Ländern gewesen. Und die Pharmakonzerne habe dieser Schritt keineswegs in den Ruin getrieben, fügt sie hinzu.

Eigeninteresse schadet den eigenen Interessen

Seit Beginn der Pandemie ist Difäm vor Ort aktiv, gefördert vom Hilfswerk Brot für die Welt. In einem bis Ende 2022 laufenden Vier-Millionen-Euro-Projekt geht es in 20 Ländern mit 32 Partnern darum, Krankenhäuser sicherer zu machen und Gemeinden zu sensibilisieren. Außerdem werden für Gesundheitsstationen Sauerstoffkonzentratoren und andere medizinische Geräte und Schutzausrüstung geliefert. In einem weiteren Projekt werden kirchliche Partnerorganisationen für Impfaktionen fit gemacht durch die Ausstattung mit Kühlschränken und Transportmöglichkeiten. Auf digitalem Weg ist Difäm im Moment mit 200 Gesundheitsmitarbeitenden im ständigen Austausch und hat insgesamt über 2.000 Gesundheitseinrichtungen erreicht.

Grundsätzlich hält Schneider jedoch eine Abkehr vom Prinzip der Wohltätigkeit erforderlich hin zu solidarischem Teilen. Das ist ein weiter Weg. Selbst von den zugesagten Spenden ist nur ein Teil tatsächlich vor Ort angekommen. „Impfdosenspenden sind nicht verlässlich, kommen plötzlich und haben eine sehr kurze Haltbarkeit“, lautet zudem das Fazit eines Partners in Kenia. Impfkampagnen sind unter diesen Umständen nur schwer zu organisieren. Die eurozentrische Politik, ausgerichtet auf die eigenen ökonomischen und geopolitischen Interessen, könne sich am Ende in einer Pandemie schnell gegen die eigene Gesundheit und auch Wirtschaft auswirken, so Schneider.

Dies bekräftigt auch die Genfer Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch. Gegenüber der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin kritisierte sie kürzlich das bisherige internationale Vorgehen: „Zunächst einmal haben die meisten Länder, die für alle Mitgliedsländer der WHO verpflichtenden internationalen Gesundheitsvorschriften nicht umgesetzt. Dann galt sehr schnell ‚My Country First‘: Grenzen wurden hochgezogen, Lieferketten unterbrochen oder Verträge über Lieferungen von Masken nicht eingehalten. Es war ein Beispiel der Nichtzusammenarbeit.“

Gleichzeitig ist nach ihrer Ansicht auch die Schwachstelle des Entwicklungshilfemodells hervorgetreten: Globale Gesundheitspolitik lässt sich für Kickbusch nicht mit Wohltätigkeit lösen. „Es braucht ganz neue Finanzierungsformen“, sagt sie, plädiert für eine Stärkung der WHO und fordert, beim Patentschutz weniger auf die Argumente von Partikularinteressen aus der Wirtschaft zu hören.

Kann man aus den bisherigen Fehlern lernen? Schneider hofft, dass die neue Ampelkoalition andere Akzente setzt. Zumindest die Absicht zum Technologietransfer hat sie im Koalitionsvertrag gefunden. Aber reicht das für die notwendige Kehrtwende? Der Blick auf das bisherige Desaster lässt Zweifel aufkommen. Hier wären wohl einige Anknüpfungspunkte für sinnvollen Corona-Protest gegeben.