Selektives Impfen – Egoismus rächt sich

Quelle: Kontext – Ausgabe 558 – Datum: 08.12.2021

Rainer Lang

Selektives Impfen – Egoismus rächt sich

Das reiche Europa boostert, in Afrika liegt die Impfquote bei sieben Prozent. Die extreme Ungleichheit hat Folgen, weitere Corona-Mutationen sind nur eine Frage der Zeit. Doch Allgemeinwohl und Vernunft leiden unter ökonomischen Interessen, wie die Tübinger Ärztin Gisela Schneider kritisiert.

Mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie hat eins noch gefehlt: eine neue Variante mit vielen ungewöhnlichen Mutationen, die sich rasant ausbreitet. Omikron verdeutlicht, wie die tief verwurzelte Ignoranz gegenüber Afrika und ein eurozentrischer Blick bei der Pandemie-Bekämpfung zum Bumerang werden können. Mit milden Gaben kommen wir da nicht weiter. Das sagen Experten wie Gisela Schneider schon lange. Die Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm) in Tübingen, das sich seit Jahrzehnten um die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Afrika bemüht, fordert eine Abkehr vom „Charity Modell“ hin zu strukturellen Veränderungen.

Wettlauf gegen die Zeit

Zum Jahrestag der ersten Covid-19-Impfung am 8. Dezember in Großbritannien hat das NGO-Bündnis People’s Vaccine Alliance wirtschaftlich privilegierte Länder zum Umdenken aufgefordert. „Die Weigerung von Pharmaunternehmen, ihr Wissen und ihre Impfstofftechnologie offen zu teilen und die Untätigkeit der wohlhabenden Länder, den Zugang zu Impfstoffen weltweit zu gewährleisten, haben den perfekten Nährboden für neue Varianten wie Omikron geschaffen„, heißt es in einer Pressemitteilung.

Das Bündnis, zu dem unter anderem African Alliance, Oxfam und UNAids gehören, warnte zusammen mit 77 Epidemiolog*innen bereits im März dieses Jahres vor einer zunehmenden Gefahr von Virusmutationen, die die derzeitigen Impfstoffe unwirksam machen könnten, wenn nicht alle Menschen der Welt schnell Zugang zu Impfstoffen erhalten. (lang)

Eigentlich wissen wir, wie es geht, aber es wird nicht umgesetzt„, zeigt sich die Medizinerin enttäuscht. Zwischen Machtansprüchen, Profitinteressen und Scheuklappen-Politik hat globale Solidarität offenbar keine Chance. In den großen Städten mit dichten Populationen finde das Virus einen Nährboden zur weiteren Verbreitung. Und darin sieht die Ärztin eine große Gefahr. In Südafrika sind knapp 30 Prozent der Menschen geimpft, insgesamt sind es in Afrika gerade einmal etwa sieben Prozent. Zum Vergleich: In den Ländern des reichen Nordens liegt die Impfquote inzwischen bei über 70 Prozent.

Schneider erinnert daran, dass sich die Pandemie nur global bekämpfen lässt und Impfen die einzig wirksame Strategie sei. Die Gefahr, dass künftig weitere, womöglich noch gefährlichere Mutationen entstehen, ist umso größer, je geringer die Impfquote ist, darin sind sich die Experten einig. Umso unverständlicher ist für Schneider, dass nicht schon längst mehr geschehen ist und alle Warnungen in den Wind geschlagen worden sind.

Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis eine ungewöhnliche Virus-Variante auftaucht, sagt Schneider. Von ihren Partnern in Kenia weiß sie, dass die Durchseuchung besonders in den ärmeren und sehr dicht bevölkerten Gebieten schon weit fortgeschritten ist und inzwischen auch eine nicht unerhebliche Zahl an Toten verursacht hat. Die Welt sitzt sozusagen auf einer Zeitbombe. Wenn erst einmal eine sogenannte Escape-Variante umgeht, die den Impfschutz umgeht, beginnt die Spirale von Infektionen, Kontaktbeschränkungen und der Suche nach medizinischen Mitteln aufs Neue.

Minimalziel verfehlt

Trotzdem bleibt Gesundheitspolitik, sogar in einer weltweiten Notlage, viel zu sehr auf nationalstaatliche Interessen beschränkt. Die Ausreden, dass es logistisch unheimlich schwierig sei, Impfkampagnen in Ländern mit mangelhafter medizinischer Infrastruktur umzusetzen oder dass vor Ort keine Impfstoffe produziert werden könnten, lässt Schneider nicht gelten. So wurden auf dem afrikanischen Kontinent bereits viele Impfkampagnen erfolgreich umgesetzt: etwa Masern, Meningitis, Polio oder auch Ebola in betroffenen Regionen.

Zur Erinnerung: Schon im Frühjahr 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Plattform „Covid-19 Vaccines Global Access Initiative“, kurz Covax, einen Mechanismus zur gerechten Verteilung von Impfstoffen initiiert. Der Plan war bestechend einfach. Alle Staaten sollten in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Mit diesem Geld sollte zentral Impfstoff für alle eingekauft werden.

Von Anfang an war klar, dass die Umsetzung schwierig werden würde. Kritik an der Schwerfälligkeit von Covax ist sicher nicht unberechtigt. Aber wer schon einmal in Krisen- und Katastrophengebieten war, weiß auch, dass die Vereinten Nationen und ihre Organisationen der einzig global funktionierende Koordinationsmechanismus sind. Doch an einer weltweit gerechten Verteilung war offenbar niemand interessiert. Vielmehr haben die reichen Länder erst einmal den Markt leergekauft. Für Covax war nicht mehr viel übrig, zumal das Projekt von Anfang an drastisch unterfinanziert war.

Die Bilanz fällt ernüchternd aus. Während bei uns schon kräftig geboostert wird, konnte die Covax-Initiative nicht einmal ihr Minimalziel erreichen. Bis Ende 2021 sollten wenigstens 20 Prozent der Bevölkerung in den 92 ärmsten Ländern der Welt geimpft werden. Vor kurzem musste die WHO eingestehen, dass sie dieses Ziel weit verfehlt hat. Auch andere Vorstöße sind gescheitert: Schon vor mehr als einem Jahr haben Indien und Südafrika vorgeschlagen, geistige Eigentumsrechte wie Patente für Impfstoffe und Medikamente vorübergehend auszusetzen. Doch bis heute wird dies von der EU, mit maßgeblichem Einfluss aus Deutschland, blockiert.

Die Aids-Bekämpfung könnte Blaupause sein

Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen, hochrangigen Gesundheitsexperten und Kirchen setzt sich Difäm für eine Freigabe ein. „Aber an den Patenten hängen zu viele wirtschaftliche Interessen“, vermutet Scheider. Im Sommer musste sie erleben, dass es nicht einmal möglich war, von Tübingen aus nicht genutzte Impfdosen als Spende nach Afrika zu schicken. Angesprochen von Ärzten und dem Impfzentrum in Tübingen hatte das Difäm damals eine Lieferung nach Liberia vorbereitet. In letzter Minute untersagte das Bundesgesundheitsministerium die Ausfuhr wegen möglicher Haftungsrisiken für Deutschland aufgrund der Verträge mit den Pharmakonzernen. Die überschüssigen Impfdosen wurden vom Bund wieder einkassiert.

Da ist es nicht verwunderlich, dass der frühere Generalsekretär der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, Elhadj As Sy, kürzlich vor einem weiteren Auseinanderdriften von reichen und armen Ländern im Zuge der Corona-Pandemie gewarnt hat. Die weitreichenden Hilfszusagen hätten sich überwiegend als leere Versprechungen entpuppt, heißt es in einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“. Die internationalen Solidaritätsbekundungen seien nicht mehr als Lippenbekenntnisse.

In einem unter Sys Regie entstandenen Report zur Gesundheitspolitik weltweit wird nicht nur die verfehlte Corona-Bekämpfung angeprangert. Das Gremium fordert eine Stärkung der WHO, einen fairen Mechanismus und eine zentrale Koordination für die Vorsorge und Bekämpfung von Pandemien. Das ist auch für Schneider die richtige Strategie. Längst hätte es auf der Basis des von der WHO eingesetzten Mechanismus ein Aussetzen des Patentschutzes und einen Transfer von Technologien nach Afrika geben können und müssen, damit vor Ort Impfstoffe produziert werden können. Ärzte ohne Grenzen hat auch aufgezeigt, dass dies in Ländern wie Südafrika und dem Senegal schon jetzt ohne Weiteres möglich wäre. Auch andernorts könnten schnell Kapazitäten geschaffen werden.

Eine Blaupause für das, was getan werden sollte, sieht Schneider in der Aids-Bekämpfung. Wären die Kampagnen von kirchlichen Organisationen wie Brot für die Welt oder Misereor zur Herstellung billiger Generika nicht erfolgreich gewesen, könnte heute der Großteil der weltweit 37 Millionen HIV-Infizierten nicht behandelt werden. Die günstigen Arzneimittel, die den identischen Wirkstoff wie die patentgeschützten Produkte enthalten, seien die einzige Möglichkeit zur Bekämpfung der Krise in den armen Ländern gewesen. Und die Pharmakonzerne habe dieser Schritt keineswegs in den Ruin getrieben, fügt sie hinzu.

Eigeninteresse schadet den eigenen Interessen

Seit Beginn der Pandemie ist Difäm vor Ort aktiv, gefördert vom Hilfswerk Brot für die Welt. In einem bis Ende 2022 laufenden Vier-Millionen-Euro-Projekt geht es in 20 Ländern mit 32 Partnern darum, Krankenhäuser sicherer zu machen und Gemeinden zu sensibilisieren. Außerdem werden für Gesundheitsstationen Sauerstoffkonzentratoren und andere medizinische Geräte und Schutzausrüstung geliefert. In einem weiteren Projekt werden kirchliche Partnerorganisationen für Impfaktionen fit gemacht durch die Ausstattung mit Kühlschränken und Transportmöglichkeiten. Auf digitalem Weg ist Difäm im Moment mit 200 Gesundheitsmitarbeitenden im ständigen Austausch und hat insgesamt über 2.000 Gesundheitseinrichtungen erreicht.

Grundsätzlich hält Schneider jedoch eine Abkehr vom Prinzip der Wohltätigkeit erforderlich hin zu solidarischem Teilen. Das ist ein weiter Weg. Selbst von den zugesagten Spenden ist nur ein Teil tatsächlich vor Ort angekommen. „Impfdosenspenden sind nicht verlässlich, kommen plötzlich und haben eine sehr kurze Haltbarkeit“, lautet zudem das Fazit eines Partners in Kenia. Impfkampagnen sind unter diesen Umständen nur schwer zu organisieren. Die eurozentrische Politik, ausgerichtet auf die eigenen ökonomischen und geopolitischen Interessen, könne sich am Ende in einer Pandemie schnell gegen die eigene Gesundheit und auch Wirtschaft auswirken, so Schneider.

Dies bekräftigt auch die Genfer Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch. Gegenüber der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin kritisierte sie kürzlich das bisherige internationale Vorgehen: „Zunächst einmal haben die meisten Länder, die für alle Mitgliedsländer der WHO verpflichtenden internationalen Gesundheitsvorschriften nicht umgesetzt. Dann galt sehr schnell ‚My Country First‘: Grenzen wurden hochgezogen, Lieferketten unterbrochen oder Verträge über Lieferungen von Masken nicht eingehalten. Es war ein Beispiel der Nichtzusammenarbeit.“

Gleichzeitig ist nach ihrer Ansicht auch die Schwachstelle des Entwicklungshilfemodells hervorgetreten: Globale Gesundheitspolitik lässt sich für Kickbusch nicht mit Wohltätigkeit lösen. „Es braucht ganz neue Finanzierungsformen“, sagt sie, plädiert für eine Stärkung der WHO und fordert, beim Patentschutz weniger auf die Argumente von Partikularinteressen aus der Wirtschaft zu hören.

Kann man aus den bisherigen Fehlern lernen? Schneider hofft, dass die neue Ampelkoalition andere Akzente setzt. Zumindest die Absicht zum Technologietransfer hat sie im Koalitionsvertrag gefunden. Aber reicht das für die notwendige Kehrtwende? Der Blick auf das bisherige Desaster lässt Zweifel aufkommen. Hier wären wohl einige Anknüpfungspunkte für sinnvollen Corona-Protest gegeben.