Ungleiches Terrain: Studien zu Größe und Einfluss der Finanzlobby in Deutschland

Quelle: Finanzwende

Ungleiches Terrain: Eine Studie zu Größe und Einfluss der Finanzlobby in Deutschland

09.12.2020

  • Erstmalige Studie zum Budget der deutschen Finanzlobby: 200 Millionen Euro
  • Mindestens 1500 Menschen arbeiten für Verbände und Unternehmen der Finanzlobby
  • Gerade in der frühen Phase der Gesetzgebung sind Branchenverbände besonders stark

***Den Lobbyreport finden Sie in voller Länge hier. Den Datensatz zum Lobbyreport stellen wir gern auf Anfrage zur Verfügung.***

Der zerstörerische Einfluss der Finanzmärkte wurde im Jahr 2008 offensichtlich, als fehlende Regulierung und eine gefährliche Machtkonzentration im Finanzsektor eine weltweite Rezession auslösten. Diese Ereignisse hätten eigentlich deutlich machen sollen, wie dringend notwendig strengere Regeln für globale Finanzmärkte sind. Die Skandale um den Steuerraub CumEx und den Zahlungsdienstleister Wirecard sind weitere Indizien dafür, dass viele Bereiche der Finanzmarktregulierung weiterhin Lücken aufweisen.

Doch Reformen haben sich als schwierig erwiesen, nicht zuletzt aufgrund erfolgreicher Interventionen der Finanzlobby in der Europäischen Union und in Deutschland. Ihre Stärke bei der Abwehr missliebiger Reformen war ausschlaggebend für die Verwässerung und teilweise Blockade wichtiger Regulierungsvorhaben. Trotzdem fehlten bislang Zahlen und Fakten zu Einfluss und Größe dieser Lobby in Deutschland.

Finanzwende hat diese Wissenslücke zum Anlass genommen, um Einfluss und Stärke der Finanzlobby in Deutschland zu vermessen.

Mehr Geld, mehr Einfluss: Es herrscht ein gefährliches Ungleichgewicht

Unsere Studie zeigt, dass die Finanzlobby über enorme Ressourcen verfügt und einen privilegierten Zugang zu Entscheidungsträgerinnen genießt. Insgesamt gibt die Finanzindustrie unseren Schätzungen nach mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr für die Lobbyarbeit in Deutschland aus und beschäftigt mehr als 1500 Mitarbeiter. Vergleichen wir diese mit den Abgeordneten im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags (derzeit 41), der neben Steuerthemen auch für den Bereich Finanzmarkt zuständig ist, dann stehen rechnerisch jeder Abgeordneten etwa 36 Mitarbeiterinnen der Finanzlobby gegenüber. Knapp 290 verschiedene Organisationen aus Finanzlobby und erweiterter Finanzlobby haben die deutsche Politik in den Jahren 2014-2020 zu beeinflussen versucht.

Neben den Personal- und Budgetschätzungen ist der konkrete Einfluss auf die Politik eine weitere Säule unserer Untersuchung. Für unsere Studie haben wir deshalb die Einflussnahme auf Parlaments- und Regierungsarbeit analysiert. So können wir für 34 Sitzungen des Bundestags-Finanzausschusses (2014-2020) sowie für 33 Referentenentwürfe mit Finanzmarktbezug (2014-2020) einzeln zeigen, welche Verbände und Unternehmen Kommentare und Stellungnahmen abgegeben haben. Wir haben mehr als 500 Kommentare zu Referentenentwürfen und mehr als 500 Einladungen bei Ausschusssitzungen gesichtet. Wir können zeigen, wer Zugang zum Bundestag über sogenannte Hausausweise besitzt. Und wir können auch abbilden, wer sich mit jenen (wenigen) Abgeordneten getroffen hat, die ihre Lobbytreffen veröffentlichen. So lässt sich erstmals eine Kartographie der deutschen Finanzlobby darstellen.

Unsere Lobbyismus-Studie visualisiert

Wer hat welchen Referentenentwurf kommentiert? Wie verteilt sich das Budget? Hier haben wir die Aktivitäten der Finanzlobby visuell und interaktiv aufbereitet.

Zur Visualisierung

Besonders hervorstechend ist das Missverhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Finanzlobby in der frühen Phase der Gesetzgebung, bevor eine erste Fassung eines Gesetzes veröffentlicht wird. Ministerien organisieren sogenannte Verbändeanhörungen, Ministerinnen und Staatssekretäre treffen in direkten Gesprächen Unternehmens- und Verbandsvorstände. Zum Teil liegen Verbänden der Finanzindustrie Gesetzesentwürfe vor allen anderen Akteuren vor. Viele dieser Formen des Lobbyismus sind intransparent. Was bekannt ist, haben wir untersucht.

Weitgehend bekannt sind zum Beispiel die Stellungnahmen von Verbänden und Unternehmen zu sogenannten Referentenentwürfen aus dem Finanzministerium. Das Verhältnis zwischen Finanzlobby und erweiterter Finanzlobby auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite liegt hier bei 9:1 (378:41). Auf neun Stellungnahmen von Finanzlobbyisten kommt rechnerisch somit nur ein Vorschlag aus der Zivilgesellschaft.

***Für detaillierte Informationen und Kommentierungen aller einzelnen Verbände und Unternehmen stellen wir den Datensatz zum Lobbyreport auf Anfrage zur Verfügung.***

Video: Finanzwende-Vorstand Gerhard Schick erklärt das Lobby-Problem  

Finanzwende-Vorstand Gerhard Schick geht auf Hausbesuch bei den stärksten Verbänden und erzählt aus seinen eigenen Erfahrungen von der Dominanz der Finanzlobby – er selbst war 13 Jahre lang Finanzpolitiker im Deutschen Bundestag

Politik und Finanzlobby sind eng verflochten

Die deutsche Finanzlobby ist nicht nur groß und einflussreich. Sie ist auch eng verflochten mit der Politik. Nicht selten wechseln Politiker in die Finanzlobby – und umgekehrt. Diese Seitenwechsel, auch Drehtür-Effekt genannt, sind schwer messbar, machen die Finanzlobby aber umso mächtiger. Auf der einen Seite holen sich Ministerien und Behörden oft Expertise aus der freien Wirtschaft. Dagegen ist zwar grundsätzlich nichts einzuwenden. Die Praxis führt aber oftmals zu schweren Interessenkonflikten, die an der Integrität der Betroffenen erhebliche Zweifel erwecken lassen.

Auf der anderen Seite beginnen Politiker oder hochrangige Mitarbeiter aus Ministerien in Bereichen zu lobbyieren, für die sie zuvor in ihrer politischen Funktion zuständig waren. Sie wechseln gewissermaßen auf die andere Seite des Verhandlungstisches und sitzen nun ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin gegenüber. Insbesondere finanzstarke Akteure können mit attraktiven Gehältern locken und bauen sich so über Jahre Kapazitäten, Know-How und Netzwerke auf. Interessengruppen stellen dadurch einen direkten Draht zur Politik her: Die Ex-Politiker kennen schließlich die Prozesse und Kollegen genau und wissen, an welcher Stelle Entscheidungen am besten beeinflusst werden können.

Corporate America wendet sich von Trump ab

Quelle: Handelsblatt

Astrid Dörner, Katharina Kort

Nach dem Sturm aufs Kapitol

„Es tut mir leid, dass ich Trump gewählt habe“ – Corporate America wendet sich vom scheidenden Präsidenten ab

US-CEOs haben lange von Trump profitiert, doch schwenken nun kurz vor dem Ende der Präsidentschaft radikal um. Deutlich zu spät, finden Kritiker.

Mehr: „Das ist kein Law and Order, das ist Chaos“ – US-Konzerne machen Druck auf Trump

Parler-Rauswurf: Ein Rückzugsort für Trump-Fans wird unerreichbar

Quelle: Süddeutsche Zeitung

10. Januar 2021, 13:07 Uhr

Von Max Muth

Parler-Rauswurf:Ein Rückzugsort für Trump-Fans wird unerreichbar

Die App „Parler“ ist Hort für Rechte, Trump-Anhänger und QAnon-Gläubige. Nach Trumps Sperre bei Twitter und Facebook galt die Plattform als logischer Rückzugsort für den Noch-Präsidenten. Daraus wird wohl nichts.

Es sind aufregende Tage für die vergleichsweise junge App Parler. Nach dem Rauswurf des US-Präsidenten bei den Social-Media-Platzhirschen Facebook, Twitter und Instagram verzeichnete die 2018 gegründete Plattform ein schnelles Wachstum. Zahlreiche konservative und rechte Influencer tummeln sich dort seit Längerem, zu den reichweitenstärksten Accounts zählen der republikanische Senator und Trump-Unterstützer Ted Cruz sowie der Fox-News-Moderator Sean Hannity.

Die Plattform funktioniert ganz ähnlich wie Twitter, mit zwei entscheidenden Unterschieden. Nutzer, die sich gegenseitig folgen, sehen die Updates, genannt „Parlays“, der abonnierten Nutzer. Bei Parler entscheidet jedoch kein Algorithmus, was die Nutzer prominent zu sehen bekommen. Sie sehen alle Posts der von ihnen abonnierten Kanäle in umgekehrt chronologischer Reihenfolge, die neuesten zuerst. Anders als Facebook und Twitter sammelt Parler auch nicht Unmengen an Daten der Nutzer, um ihnen personalisierte Werbung anzuzeigen.

Die Plattform beruft sich auf die US-Verfassung

Der Gründer John Matze bezeichnet Parler als neutrale Plattform für die Meinungsfreiheit; im Unterschied zu Facebook und Twitter dürfe man bei Parler alles schreiben, was die US-Verfassung erlaube. Und das ist ziemlich viel. Antisemitismus, wilde Verschwörungstheorien wie QAnon und rechtsextreme Verfechter von angeblich „weißer Überlegenheit“ wie die Proud Boys – das alles hat auf Parler ein Zuhause.

Nicht weil er das gut finde, sagt Matze, sondern weil es eben erlaubt sei. Die Moderation von Inhalten übernehmen vor allem Freiwillige. Wie das Wall Street Journal im November 2020 berichtete., wird die Plattform unter anderem von der Tochter des rechtskonservativen Investors Robert Mercer, Rebekah Mercer, finanziert. In einem Post auf der Plattform begründete sie ihr Investment als eine Antwort auf die „zunehmende Tyrannei“ der mächtigen Tech-Konzerne.

Für viele gewöhnliche Trump-Fans gab es dennoch noch keinen Grund, Twitter oder Facebook, diesen „Tech-Tyrannen“, den Rücken zu kehren – bis jetzt. Denn jetzt haben die etablierten Social-Media Plattformen gezeigt, dass sie Trumps Eskapaden nicht weiter dulden wollen, und ihn bis auf Weiteres gesperrt. Für Trump-Fans offenbar Anlass genug, sich nach einer neuen Heimat umzusehen. In den App-Charts stand Parler am Samstag folgerichtig auf Rang eins.

Nummer eins in den Charts, aber bald unerreichbar

Doch die Freude währte nicht lang. Bereits am Freitag hatte Google angekündigt, dass Parler ab sofort nicht mehr im Play Store heruntergeladen werden könne, am Samstag zog Apple nach. Als Grund nannte Google, dass Parler die auf der Plattform geteilten Aufrufe zur Gewalt nicht konsequent entferne. Das verstoße gegen die Standards, die im Play Store gelten würden. Ähnlich argumentierte auch Apple. Der Rauswurf aus den App-Stores bedeutet jedoch nicht, dass die App nicht mehr genutzt werden kann. Wer Parler schon auf seinem Telefon hat, kann es normal weiter nutzen.

Ein größeres Problem für Parler ist die Ankündigung Amazons, von Sonntagnacht an kein Webhosting mehr für Parler über seine Cloud-Plattform AWS anzubieten. In einem Brief, über den zuerst das Portal Buzzfeed berichtet hatte, begründete AWS die Entscheidung mit wiederholt auf Parler geposteten Aufrufen zu Gewalt. AWS habe 98 solcher Aufrufe gefunden. „Wir können keinem Kunden unsere Services anbieten, der nicht in der Lage ist, Inhalte, die zu Gewalt aufrufen, zu finden und zu entfernen“, schreibt AWS in dem Brief. In einem Post auf Parler kündigt dessen Chef Matze bereits schwerwiegende Folgen durch den Rauswurf bei AWS an. Es sei möglich, dass Parler bis zu einer Woche lang nicht funktioniere, schreibt er.

Der Chef: „Wir waren zu schnell zu erfolgreich.“

Der Parler-Gründer wirft Google, Apple und Amazon Heuchelei vor. Mit dem „koordinierten“ Bann für seine App wollten die Tech-Konzerne seiner Ansicht nach einen missliebigen Konkurrenten loswerden. Die Sorge um den sozialen Frieden in den USA sei nur vorgeschoben. „Wir waren zu schnell zu erfolgreich“, schreibt Matze.

Der Vorwurf, dass Apple und Google mit zweierlei Maß messen, ist dabei nicht völlig aus der Luft gegriffen. Zwar gibt es bei Parler noch deutlich weniger Moderation von Inhalten als bei der Konkurrenz. Doch auch auf Twitter findet man problemlos Aufrufe zu Gewalt, auch in Facebook-Gruppen organisierten sich Trump-Anhänger für ihren Sturm aufs Kapitol. Und Donald Trump durfte sowohl auf Facebook als auch auf Twitter fast vier Jahre lang Lügen verbreiten, ohne dass die Plattformen dagegen ernsthaft etwas unternahmen.

Auf Parler hat Trump bislang gar keinen eigenen Account. In den vergangenen Tagen war immer wieder spekuliert worden, ob der Noch-Präsident nach seinem Rauswurf bei den anderen sozialen Medien nun Parler zu seinem neuen Megafon machen würde. Angesichts der aktuellen Probleme der App dürfte dieser Plan jedoch erst einmal auf Eis liegen.

Digitalisierung und Demokratie

Claus Leggewie: Digitalisierung und Demokratie. Was oft vergessen wird

304 Aufrufe•03.10.2019

Collegium Helveticum Was oft vergessen wird Referent: Prof. Dr. Claus Leggewie (Inhaber der Ludwig Börne-Professur an der Justus-Liebig-Universität Giessen) Einführung: Dr. Christian Ritter (Collegium Helveticum) Moderation: Prof. Dr. David Gugerli (Fellow am Collegium Helveticum)

Das Referat wurde am 30. September 2019 in der Semper-Sternwarte in Zürich gehalten (Details siehe: http://bit.ly/2Zp7hAY) und war Teil der vom 27. September bis zum 1. Oktober 2019 durchgeführten Themenwoche des Collegium Helveticum mit dem Titel «Staat – Demokratie – Digitalisierung». Das Gesamtprogramm der Themenwoche: siehe unter http://bit.ly/326k9ca

RESPEKT: Digitalisierung – Gefahr oder Chance für die Demokratie? ARD-alpha – 220 Aufrufe – •13.02.20

Agenda 2030: UN-Entwicklungsziele mit Rückstand nach dem ersten Drittel

Quelle: A&W-Blog

Georg Feigl

Im Herbst 2015 beschlossen die Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit 17 Entwicklungszielen, den sogenannten SDGs. Mit diesem Aktionsplan „for people, planet and prosperity“ sollte eine umfassende „Transformation der Welt“ bis zum Jahr 2030 starten.

Am Ende des ersten Drittels der Zeit ist die Bilanz ernüchternd. Ohne massive Anstrengungen werden die SDGs 2030 überwiegend verfehlt. Spätestens nach der Pandemie muss die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich wie in der EU auf der politischen Agenda ganz nach oben rücken, um den Rückstand noch aufzuholen.

UN-Agenda 2030 mit dem großen Versprechen einer besseren Welt

„Wir verpflichten uns, uns unermüdlich für die volle Umsetzung dieser Agenda bis im Jahr 2030 einzusetzen. … Wir bekennen uns dazu, die nachhaltige Entwicklung in ihren drei Dimensionen – der wirtschaftlichen, der sozialen und der ökologischen – in ausgewogener und integrierter Weise herbeizuführen.“

Große Worte der Staatengemeinschaft, denen überraschend wenig an Taten gefolgt ist. Ob globale, europäische, nationale oder regionale Ebene – die systematischen Umsetzungsversuche der Agenda 2030 blieben überschaubar. Dabei war einer der ersten Schritte überraschend konkret, nämlich die Festlegung auf 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung, die vielzitierten Sustainable Development Goals (SDGs).

Die SDGs tragen dem Umstand Rechnung, dass „Well-being“ bzw. ein gutes Leben der eigentliche Zweck des Wirtschaftens ist – und nicht etwa ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt (BIP). Zwar gibt es erhebliche Überschneidungen, allerdings geht beim BIP unter, wie dieses zustande kommt (Arbeitswelt), wer in welchem Ausmaß davon profitiert und wie nachhaltig gewirtschaftet wird (ökologisch und sozial).

Einige Aspekte eines guten Lebens verlangen darüber hinaus besondere Aufmerksamkeit, weil sie nicht automatisch zu einem höheren materiellen Wohlstand führen. Das betrifft individuelle Faktoren, klassische öffentliche Güter (wie eine intakte Umwelt oder Sicherheit) sowie die Güter und Dienstleistungen der Ökonomie des Alltagslebens (also die Deckung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Bildung oder Mobilität).

Stärkerer Fokus auf Wohlstand und Wohlergehen durch SDGs?

All diese Gesichtspunkte werden in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte nach wie vor zu wenig beachtet. Trotz zahlreicher Initiativen im letzten Jahrzehnt, die Wohlstand und Wohlergehen neu definierten und in den Mittelpunkt der (wirtschafts-)politischen Debatte rücken wollten, ist wesentlicher Fortschritt nach wie vor kaum festzustellen. Diesen charakterisieren Bache und Reardon wie folgt: „the idea of wellbeing is recognised as an important benchmark of progress, is internalised by key actors, is institutionalised in policy practices and leads to policy changes that have a significant effect on the lives of citizens“.

Eine Ausnahme stellt die OECD dar, die im letzten Jahrzehnt – anknüpfend an den Abschlussbericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission – mit ihrer Better Life Initiative die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen tatsächlich in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rückte. Diese Neuausrichtung zeigt sich mittlerweile auch in ihren Politikempfehlungen, sei es in ihren Länderberichten oder in der aktuellen Debatte, etwa wenn es um die Budgetpolitik nach der Corona-Krise geht.

Wenngleich die Agenda 2030 und die SDGs in den ersten fünf Jahren ihrem transformativen Anspruch noch nicht gerecht wurden, könnte sich das nun ändern. So widmen sich Wissenschaft und Zivilgesellschaft verstärkt den SDGs, zumindest formal auch die öffentliche Verwaltung. Nicht zuletzt der aktuelle AK-Wohlstandsbericht ist Ausdruck dieser Entwicklung. Verbessert hat sich zudem die Datengrundlage auf globaler, europäischer und nationaler Ebene.

Politische Umsetzung mangelhaft

Wesentliche Lücke besteht in der Politik. Auf globaler Ebene fehlt es an Steuerungsmechanismen und auf nationaler Ebene am politischen Willen, abseits von Lippenbekenntnissen Verantwortung für die globale Zielerreichung zu übernehmen. So überrascht es nicht, dass im Ergebnis bereits vor der COVID-19-Pandemie die erste umfassendere UN-Zwischenbilanz nicht sehr positiv ausgefallen ist. Die Erreichung vieler Ziele erscheint unwahrscheinlich, und es gibt mehr Unterziele mit Rückschritt als solche, die auf Zielkurs sind.

Besser ist es um die Verfolgung der SDGs auf nationaler Ebene bestellt. Aber auch hier dominiert der Schein. Das Engagement konzentriert sich auf das Erstellen von Monitoringberichten, deren Schwerpunkt die SDG-kompatible Darstellung eigener Erfolge ist. So hält die kritische SDGs-Zwischenbilanz des Global Policy Forum pointiert fest, dass manche Präsentationen der nationalen Fortschrittsberichte „eher den Charakter von Werbefilmen der heimischen Tourismusbehörden“ haben, während Zielabweichungen und Handlungsdefizite kaum zu finden sind. Dabei sind diese essenziell für politische Maßnahmen zur Zielerreichung. Diese Lücke versuchen zwar NGOs mit Schattenberichten zu füllen, doch bleibt deren Effekt bislang beschränkt. Österreich ist hier nicht viel anders, wenngleich gewisse Fortschritte zu verzeichnen sind.

Neue Dynamik auf europäischer Ebene

Ein stärkeres Momentum entstand in den letzten eineinhalb Jahren auf europäischer Ebene. Angesichts der globalen Relevanz der EU ist diese Ebene auch unerlässlich für die „Transformation der Welt“, da sie eine Vorreiterrolle bei der Festlegung hoher sozialer und ökologischer Standards spielen kann.

Mit dem Amtsantritt der neuen Kommission fanden die SDGs bzw. die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen stärker Eingang in zentrale politische Dokumente. Zumindest im Anhang ist nun auch in der laufenden wirtschaftspolitischen Ausrichtung im Rahmen des Europäischen Semesters der Fortschritt bezüglich der SDGs enthalten. Im Frühjahr zeigte sich dabei folgende Zwischenbilanz:

Schreibt man den Trend der vergangenen fünf Jahre fort (methodische Details im aktuellen Eurostat-Bericht), wird 2030 nur bei einem („friedliche und inklusive Gesellschaft“) der 17 SDGs wesentlicher Fortschritt festzustellen sein; bei allen anderen Zielen besteht zum Teil noch erheblicher Handlungsbedarf.

Corona-Krise: kurzfristig Rückschlag, aber Öffner für Möglichkeitsfenster?

Die COVID-19-Pandemie brachte eine dreifach negative Wirkung:

Gleichzeitig mit den negativen Auswirkungen kam mit der Pandemie allerdings auch eine positive Entwicklung in Gang, die eine Beschleunigung der Transformationsbestrebungen im Sinne der Agenda 2030 in der EU ermöglichte – insbesondere punkto Klimaschutz. Hervorzuheben ist der Recovery Plan, mit dem kurzfristig erheblich mehr Mittel für das neue Leitprojekt bis 2030 – den sogenannten Green Deal – zur Verfügung stehen.

Positive Schritte ergänzen und verstetigen

Dieses Möglichkeitsfenster im Ausnahmemodus gilt es nun zu nutzen, ehe es sich wieder schließt. Negativszenario wäre eine rasche Rückkehr zur alten Normalität der wirtschaftspolitischen Steuerung, die insbesondere auf eine strikte Budgetpolitik fokussiert. Damit würde sich die Entwicklung nach 2009 wiederholen, als auf dem vorläufigen Höhepunkt der Debatte über eine sozial-ökologische Neuausrichtung die tatsächliche Agenda zunehmend von Kürzungsvorgaben bestimmt wurde.

Für ein positives Szenario bedarf es daher einer raschen Wiederaufnahme des Reformprozesses der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung. Eine solche Reform muss ambitioniert sein und die Steuerung auf eine möglichst breite Basis stellen, also unter Einbeziehung des Parlaments, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Sie muss Debatten um „das Richtige“ innerhalb eines grundsätzlich geteilten, evidenzbasierten Rahmens ermöglichen, in dem dann – unter Berücksichtigung von Synergien und Zielkonflikten – je nach Interessen und Überzeugungen um die konkreten Schwerpunkte gerungen werden kann. Ein breites Set an Indikatoren – ähnlich dem SDGs-Datenset von Eurostat, mit Projektionen bis 2030 – soll die Entscheidungen stützen.

Abweichungen von den Zielen sollten nicht prinzipiell unter Strafe gestellt werden, sondern zu einer neuerlichen vertieften öffentlichen Debatte führen. Anstelle der verengten beratenden Expertengremien (wie Fiskalräten und nationalen Produktivitätsausschüssen) sollten plurale und interdisziplinäre Beiräte zukunftsgerichtete Analysen und Empfehlungen beisteuern, beispielsweise ähnlich der Allianz für nachhaltige Entwicklung in Italien.

Fazit: politischer Fokus auf SDGs gefragt

Die aktuelle Corona-Krise könnte ein neues Möglichkeitsfenster für eine gesellschaftliche Fokussierung auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen sein. Wenngleich mit dem Green Deal und dem Recovery Plan bereits Schritte in die richtige Richtung gesetzt wurden, so sind weitere Maßnahmen notwendig, um die SDGs bis 2030 zumindest überwiegend zu erreichen. Es hat sich gezeigt, dass gute deskriptive Monitoringberichte, eine engagierte Zivilgesellschaft und Debatten in ExpertInnenkreisen zwar wichtig, aber nicht hinreichend sind.

Zentral für die Erreichung der SDGs innerhalb der EU ist der angekündigte Reformprozess der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung. Es braucht das Engagement von Kommission, Rat und Parlament, die sich ernsthaft damit auseinandersetzen, was ihr Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen ist bzw. sein kann. Dabei darf der Horizont nicht an den Grenzen der EU enden, denn die Agenda 2030 ist eine globale Herausforderung – zu der die EU allerdings im besonderen Maße beitragen kann.