Die gefährliche Macht der Corona-Mythen
Stand: 11.04.2020
Die Mythen rund um Corona, die derzeit im Netz geteilt werden, haben längst ihre Wirkung entfaltet. Wie viele Millionen Menschen sie sehen, zeigt eine Analyse von NDR, WDR und SZ.
Von Christian Basl, WDR, Svea Eckert und Peter Hornung, NDR
Das Coronavirus sei in einem Labor gezüchtet worden, die Krise von Politikern seit langem geplant, oder die Maßnahmen der Bundesregierung schlicht überzogene Panikmache: Solche und ähnliche Mythen, Falschinformationen und Halbwahrheiten werden derzeit in Videos und Texten massenhaft in sozialen Netzwerken verbreitet. Laut einer Datenrecherche von NDR, WDR und “Süddeutscher Zeitung” (SZ) gemeinsam mit dem Datenanalysten Philip Kreißel wurden 19 solcher fragwürdigen YouTube-Videos in den letzten sechs Wochen rund zwölf Millionen Mal angesehen.
Diese und weitere Texte und Videos wurden auf Facebook 300.000 Mal geteilt. Das bedeutet: Vermutlich Millionen Menschen haben auf der Plattform Halbwahrheiten und Falschinformationen zu Corona gesehen. Journalistische Faktenchecks, die Inhalte genau dieser Videos und Texte überprüft haben, wurden dagegen zwanzig Mal weniger geteilt und erreichten demnach viel weniger Menschen.
Das Beispiel Bhakdi
Die Auswertung zeigt, wie massiv sich Falschinformationen über Covid-19 innerhalb kürzester Zeit in den sozialen Netzwerken verbreitet haben. Ein besonders prominentes Beispiel ist ein Video des emeritierten Mikrobiologen Sucharit Bhakdi. Bhakdi hat seit etwa Mitte März auf YouTube einen eigenen Kanal. Am 29. März wendet er sich in einem Video an die Bundeskanzlerin. In dem Video sitzt er an einem Tisch, liest von einem Blatt vor und zieht ab und an seine randlose Brille vom Gesicht, wenn er seine Schlussfolgerungen zieht.
Er wirft Merkel vor, überzogene politische Maßnahmen auf Grundlage lückenhafter Daten ergriffen zu haben. Die Politik sei Panikmache. Das Video wird in den folgenden beiden Wochen rund 2,2 Millionen Mal angesehen. Auf Facebook wird es über 67.000 Mal geteilt, 72.000 Mal kommentiert und mehr als 100.000 Mal mit einem Like oder einer anderen Reaktion bewertet. Auch in Texten und anderen Videos wird Bhakdis Video positiv aufgegriffen und verbreitet sich so noch stärker.
Drei Tage nach Erscheinen des Videos überprüft das Factchecking-Format #Faktenfuchs vom Bayerischen Rundfunk (BR) die Aussagen von Bhakdi: „Die Annahmen, die seinen Fragen zugrunde liegen, suggerieren, dass die Gefährlichkeit des Sars-CoV-2-Erregers überschätzt werde, sie sind aber oft nicht wissenschaftlich belegt und verweisen vor allem auf Datenlücken. „Forscher betonen: Die Lückenhaftigkeit der Datenlage sei kein Grund, Entwarnung zu geben“, schreiben die BR-Reporter.
Diffuse Gemengelage
Diese diffuse Gemengelage an wahren Informationen, steilen Thesen und erfundenen Tatsachen gilt für viele der untersuchten Videos und Texte rund um Corona. Forschende der Universitäten Münster und München untersuchten ebenso massenhaft von „alternativen Medien“ verbreitete Beiträge zu Corona in sozialen Netzwerken und fanden heraus: „Es hat sich gezeigt, dass sich die ‚Alternativmedien‘ während der Corona-Krise gerne die Faktenlage zurechtbiegen und Gerüchte sowie einzelne Verschwörungstheorien verbreiten“, so Professor Thorsten Quandt über das Ergebnis der Studie. Das macht es für Nutzer so schwer, die falschen von den wahren Informationen zu trennen.
Was tun die Plattformen dagegen? Facebook schränkt Reichweiten von Beiträgen mit irreführenden Informationen ein und kennzeichnet sie. Lediglich Beiträge, die zu physischen Schaden führen könnten – etwa der „Tipp“, Bleichmittel als Schutz vor Corona zu trinken – würden laut einem Sprecher von Facebook gelöscht. YouTube entfernt Videos, die etwa behaupten, das Coronavirus existiere nicht oder die dessen Übertragung bestreiten, sagt ein Sprecher von YouTube.
Zudem zeigt die Videoplattform Infotafeln zu Covid-19 aus seriösen Quellen an, diese seien nach eigenen Angaben bereits zehn Milliarden Mal gesehen worden. Hilft das etwas? Die Gesamtzahl der verbreiteten Corona-Mythen im Netz dürfte noch viel höher liegen: Kanäle, die generell viele Verschwörungstheorien verbreiten, veröffentlichten ebenfalls viele Videos zu Corona. 45 Millionen Menschen haben sie laut Datenanalyse von Kreißel gesehen.
Zum Vergleich: Das erfolgreichste deutsche Youtube-Video 2019 („Die Zerstörung der CDU“ von Rezo) hatte im gesamten letzten Jahr 16 Millionen Views.