Krieg und Frieden in der Ukraine – Das wird noch dauern

Krieg und Frieden in der Ukraine – Das wird noch dauern

Alle rufen nach Verhandlungen im Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Aber wie genau die aussehen und zustande kommen könnten, bleibt die große Frage. Selbst Wissenschaftler:innen, die erforschen, wie sich Kriege beenden lassen, haben nicht das eine goldene Rezept.

„Verhandeln, verhandeln, verhandeln“ hieß ein Kontext-Artikel im Juni 2022, geschrieben von Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim Internationalen Versöhnungsbund. An Plädoyers und Vorschlägen für Verhandlungen ist seitdem – und auch schon davor – kein Mangel. Jürgen Habermas plädiert in einem Text in der „Süddeutschen Zeitung“ für Verhandlungen und nennt einige Kriterien dafür. Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht plädieren in ihrem offenen Brief für Verhandlungen statt Rüstungslieferungen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nennt vor kurzem Verhandlungen als „einzigen Weg zum Frieden“.

So weit, so gut. Jeder will eigentlich Verhandlungen. Während es bei manchen Wortmeldungen so erscheint, als wäre das Aufnehmen von Verhandlungen so leicht wie einen Schalter umzulegen, wenn westliche Staaten keine Waffen mehr liefern, sind andere Vorschläge differenzierter. Ronnefeldt plädierte in seinem Kontext-Artikel für den italienischen Friedensplan, der im Mai 2022 von der italienischen Regierung vorgelegt wurde. Schon im März vergangenen Jahres hatten Russland und die Ukraine über einen Waffenstillstand in Istanbul verhandelt und ein vorläufiges Zehn-Punkte-Papier dazu verfasst – bevor im April die Verhandlungen ohne Ergebnis abgebrochen wurden. Es gibt noch einige Pläne und Vorschläge mehr – eine Übersicht hat die Initiative Internationale Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges zusammengestellt (hier zum Download).

Der Weg an den Verhandlungstisch ist kompliziert

Was die meisten frühen Vorschläge eint, ist eine Rückkehr zum Status quo ante vor dem 24. Februar 2022, eine (wenigstens vorläufige) politische Neutralität der Ukraine, also kein Nato-Beitritt, und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Territorium. Als Ausgleich gibt es Sicherheitsgarantien mehrerer Länder, die im Angriffsfalle unterstützend agieren sollen. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger weicht in seinem jüngsten Vorschlag Mitte Januar davon ab. Für ihn könnte ein Kompromiss darin bestehen, dass Russland die Krim und den Donbass erhält, während die Ukraine aber der Nato beitreten kann. Die Nato-Mitgliedschaft wäre laut Kissinger eine „angemessene Folge“ des russischen Angriffs.

Egal wie ausgefeilt all diese Pläne sein mögen oder auch nicht, egal wie viele ihrer Prämissen geteilt werden, sie bleiben leere Hüllen, wenn nicht von beiden Kriegsparteien darüber verhandelt wird. Wie aber sie an den Verhandlungstisch bringen?

Der Diplomat Wolfgang Sporrer äußerte sich dazu am 6. Februar im Magazin „Jacobin“ zunächst recht skeptisch. Eine nicht-militärische Konfliktlösung sei „zurzeit sehr unwahrscheinlich“. Weil zum einen „beide Parteien die Option, miteinander über eine Konfliktbeilegung zu verhandeln, mehr oder weniger ausgeschlossen haben – die Ukraine per Gesetz, die Russen per Vorbedingungen“. Und weil beide Seiten momentan der Meinung seien, militärisch sei die Zeit auf ihrer Seite – die Ukraine wegen Waffenlieferungen, Russland wegen Mobilisierungen und Produktionssteigerungen in der Rüstung. Beide Seiten glauben, dass sie gewinnen können – „das sind natürlich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, um zu einer politischen Konfliktlösung oder hin zu einer Mediation zu kommen“, urteilt Sporrer.

Immerhin: Für Getreideexporte wurde geredet

Trotzdem gäbe es Möglichkeiten, zu deeskalieren. Indem etwa die bestehenden Gesprächskanäle, die ja bei Getreideexporten funktionieren, auf andere Themen ausgeweitet werden, etwa „auf Entflechtungszonen rund um Atomkraftwerke“ oder „Waffenstillstände an verschiedenen Orten rund um Krankenhäuser und Schulen“.

So ein Vorgehen hätte mehrere Vorteile: Humanitäre Fortschritte könnten erzielt werden, vor allem aber könnte durch „diese sehr langsame Arbeit“ wieder Vertrauen zwischen beiden Seiten hergestellt werden. Und drittens hätten „Verhandlungen über kleine Deeskalationsschritte eine sehr wichtige Frühwarnfunktion. Wenn beide Seiten, die USA und der Westen und vielleicht noch etliche andere Vermittler wie China regelmäßig in einem Raum sitzen, um sich jede Woche auszutauschen, sich anzuschreien, um Sitzplätze zu streiten, aber dann auch Kaffee miteinander zu trinken, bekommt man ein besseres Gespür für die Lage. So könnte das Eskalationspotenzial verringert werden.“ Und diese ganzen Vorteile, so Sporrer, würden sich zu Kosten ergeben, „die für alle eigentlich bei null liegen. Keine Seite müsste Zugeständnisse machen, aber alle Parteien müssten ohne Vorbedingungen in diese Verhandlungen gehen.“

Wie gelangt man dorthin? Sporrer glaubt, wenn einerseits die USA und die EU die Ukraine, andererseits China und Indien Russland zu solchen Verhandlungen ohne Zugeständnisse auffordern würden, könnte dies gelingen. „So könnte man eine Art Forum schaffen, wo sicher am Anfang nichts Weltbewegendes geschehen würde. Aber es wäre ein wichtiger Schritt mit greifbaren Vorteilen“, sagt Sporrer.

Sehr viel Konjunktiv auch hier. Wie sieht es in der Geschichte mit grob vergleichbaren diplomatischen Initiativen bei Kriegen aus? Wie ist die Forschung dazu?

Wenig Forschung zur Beendigung von Kriegen

Eher mau. „Die Forschung zur Beendigung von Kriegen ist vergleichsweise übersichtlich“, schreibt Wolfgang Schreiber in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Wissenschaft & Frieden“, die sich interdisziplinär der Friedensforschung, Friedenspolitik und Friedensbewegung widmet. Statistisch-empirische Untersuchungen zu Kriegsbeendigungen gäbe es wenige.

Schreiber ist Lehrbeauftragter und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Universität Hamburg, sollte sich also auskennen. Trotz dürrer Forschungslage hat er aus der Analyse von Datenbanken Interessantes zusammengetragen: Von 1945 bis 2021 wurden rund 54 Prozent aller Kriege durch militärische Siege einer Seite gelöst, 43 Prozent durch Verhandlungen, letztere zu drei Vierteln durch eine Vermittlung von Dritten. Über die Bedingungen, die zum militärischen oder Verhandlungserfolg geführt haben, sei damit aber wenig gesagt. In 75 Prozent der Fälle sei die militärische Situation entscheidend, meist eine klar erkennbare Überlegenheit (60 Prozent), seltener eine Pattsituation (13 Prozent). Direkte militärische Intervention von außen spielten in acht Prozent der Fälle eine Rolle, indirekte (wozu auch Waffenlieferungen gezählt werden) in 17 Prozent. Externer Druck, ob durch Diplomatie oder Sanktionen, habe immerhin in rund 26 Prozent der Kriegsbeendigungen eine Rolle gespielt.

Schreiber schaut sich dann vor dem Hintergrund der (wenigen) bestehenden Forschungen an, welche Faktoren gerade im laufenden Krieg zum Tragen kommen. Da sind erstens die Waffenlieferungen der EU-Staaten und der Nato an die Ukraine. Laut der Forschung spiele dies für Kriegsbeendigungen (unabhängig, wie das Ende genau aussieht) vor allem dann eine positive Rolle, wenn diese Unterstützungsform eingestellt werde. Als Beispiel nennt er die Zeit der 1970er und 1980er Jahre, in der „auffallend wenige Kriege beendet“ worden seien. Denn in dieser Zeit seien im Rahmen des Kalten Krieges viele Staaten entweder von den USA oder der Sowjetunion oder von beiden unterstützt worden – klassische Stellvertreterkriege. „Mit dem Wegfall dieser Unterstützung – meistens in Kombination mit diplomatischen Initiativen – wurden viele dieser Kriege dann Anfang der 1990er Jahre beendet“, so Schreiber. „Waffenlieferungen an die Ukraine könnten also „zunächst einmal nur dazu beitragen, dass die Ukraine den Krieg nicht in absehbarer Zeit verliert“.

Was bringen Wirtschaftssanktionen?

Was Schreiber nicht in seine Betrachtung miteinbezieht, ist dabei die Frage, über welche Rüstungsindustrien die von USA oder UdSSR unterstützten Länder selbst verfügten. Die Ukraine selber hat eine ziemlich große – auch wenn aktuelle Berichterstattung oft den Eindruck erweckt, sie stünde ohne Unterstützung aus dem Westen völlig blank da. In den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Unabhängigkeit exportierte sie vor allem Panzer und Kriegsschiffe, war zeitweise der größte Rüstungslieferant für China, während mittlerweile Russland diesen Spitzenplatz eingenommen hat. Ohne westliche Unterstützung wäre sie also zweifellos schwächer, ein Zusammenbruch innerhalb weniger Wochen, wie dies in Talkshows bisweilen ventiliert wird, erscheint dennoch nicht zwangsläufig.

Neben Waffenlieferungen üben EU- und Nato-Staaten mit Wirtschaftssanktionen Druck gegen Russland aus. Dies sei generell selten ein Faktor für Kriegsbeendigungen – und im aktuellen Fall wohl ebenfalls nicht. Zum einen, weil die Sanktionen wegen der Abhängigkeit von Energierohstoffen wie Gas oder Öl nur lückenhaft oder spät kamen – und weil es auch andere Abnehmer für diese Rohstoffe gibt.

Wichtiger sei laut Schreiber bei den „externen Druckmitteln“ der diplomatische Druck. Aber auch hier sieht er momentan wenig Handfestes. Zwar habe die UN-Generalversammlung zweimal mehrheitlich das russische Handeln verurteilt, einmal kurz nach Beginn des Angriffskrieges, dann nach der Annexion eroberter Territorien. Aber für viele Staaten, die den Resolutionen zugestimmt hatten, sei Russland weder als Handels- noch als Gesprächspartner diskreditiert.

„Es sieht also nicht so aus, als würden im Krieg in der Ukraine in absehbarer Zeit Faktoren zum Tragen kommen, die in der Vergangenheit zu Kriegsbeendigungen beigetragen haben“, schlussfolgert Schreiber. Und das pessimistische Urteil wird nicht besser, wenn ähnliche Kriege in der Vergangenheit gesucht werden. „Ähnlich“ ist natürlich dehnbar – laut Schreiber lasse sich der aktuelle Krieg am ehesten mit solchen vergleichen, in denen eine Großmacht einem militärisch unterlegenen Gegner gegenüberstand. „Wenn es keine schnellen Siege gab“, wie etwa 1956 bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch die Sowjetunion oder bei den US-Kriegen gegen Grenada 1983, Panama 1989 oder den Irak 1991, „so dauerten diese Kriege vergleichsweise lang“. Und für die Erkenntnis, „dass ein Krieg nicht zu gewinnen ist, brauchten Großmächte in der Regel lange“, so Schreiber. „Dies galt für Vietnam ebenso wie für die Kriege sowohl der Sowjetunion als auch der USA in Afghanistan.“ Diese Aussichten machen nicht eben Mut.