ZEIT 13. Februar 2020
„Linke, SPD und Grüne: Linke Mehrheiten gibt es nicht durch die Hintertür
Die kommende Bundestagswahl biete die Chance zum politischen Wechsel, schreibt die Linken-Vorsitzende. Diese werde ein Kampf um den grundsätzlichen Kurs der Republik.
Ein Gastbeitrag von Katja Kipping
Katja Kipping, geboren und aufgewachsen in Sachsen, ist seit 2012 Parteivorsitzende der Linkspartei. Dem Bundestag gehört die 42-Jährige seit 2005 an. Davor war sie Mitglied des sächsischen Landtags. Die Möglichkeiten für eine Mitte-Links-Regierung lotet sie auch in ihrem Mitte Februar erscheinenden Buch „Neue linke Mehrheiten – eine Einladung“ aus.
In der antiken Mythologie ist Kairos der Gott des richtigen Augenblicks. Er hat vorn eine Haarlocke, sein Hinterkopf hingegen ist kahl. Wer die Gelegenheit beim Schopfe packen will, muss im richtigen Moment zupacken, sonst bekommt er nur den haarlosen Hinterkopf zu fassen.
Den richtigen Augenblick nicht zu verpassen, sondern die Gelegenheit für neue politische Mehrheiten jenseits der Union zu ergreifen, vor dieser Herausforderung stehen derzeit auch die fortschrittlichen politischen Parteien in Deutschland. Mit den Entwicklungen in Thüringen und dem politischen Erdbeben, dass sich aus der Öffnung der konservativen Parteien hin zur AfD ergeben hat, ist jetzt mit aller Wucht deutlich geworden: Die richtige Zeit ist jetzt, ist heute.
Die kommende Bundestagswahl bietet, mehr als vorangegangene, die Chance zum politischen Wechsel. Sie wird, und das ist spätestens durch die Rücktrittsankündigung von Annegret Kramp-Karrenbauer klar, ein Kampf um den grundsätzlichen Kurs in unserer Republik werden. Dabei geht es nicht nur darum, wie viel soziale Sicherheit wir realisieren können oder ob ein ökologischer Wandel gelingt, der nicht auf Kosten der Ärmsten geht. Es wird auch um den republikanischen Grundkonsens in unserer Gesellschaft gehen. Dass dieser in Gefahr ist, haben die Ereignisse in Thüringen gezeigt.
Drei mögliche Entwicklungen
Klar ist: Angela Merkel tritt nicht wieder an. Die entscheidende Mobilisierungsfrage wird lauten: Was folgt auf die Groko? Denkbar ist, dass der Wahlkampf zu einer reinen Personaldebatte verkommt. Dass ein Zweikampf aufgeführt wird nach dem Motto: Wollt ihr Friedrich Merz oder Robert Habeck? Olaf Scholz oder Armin Laschet? Oder – und das wäre die weit bessere Variante – es gelingt eine Auseinandersetzung darum, welchen Kurs dieses Land künftig einschlagen soll.
Drei Entwicklungspfade sind dabei vorstellbar: erstens autoritärer Kapitalismus, also die Verbindung von Konservativen und völkischer Rechten. Zweitens ein modernisierter Neoliberalismus mit grünem Anstrich. Parteipolitisch steht dafür hierzulande Schwarz-Grün. Und drittens eine sozialökonomische Wende, die nur von Parteien links der Union getragen werden könnte. Nur eine gemeinsame linke Regierung wäre zu einem echten Politikwechsel in der Lage, der die Klimakrise, die militärischen Eskalationen, den Rechtsruck und die soziale Spaltung nachhaltig entschärfen könnte.
Für die Parteien links der Union ist das der Kairos-Moment: Wir müssen den Kampf um neue linke Mehrheiten für eine sozialökonomische Wende jetzt aufnehmen. Die Gelegenheit ist günstig, doch die Zeit drängt.
Mehrere Kipppunkte
Denn in gleich mehrfacher Hinsicht steuern wird derzeit auf Kipppunkte zu. Veränderungen also, die, wenn sie einmal eingetreten sind, unumkehrbare Folgen haben. Die Dringlichkeit des Klimaschutzes ist in aller Munde. Einmal geschmolzene Gletscher lassen sich nicht wieder vereisen. Darum besteht in der ökologischen Frage höchster Handlungsbedarf. Aber man darf nicht dem Irrtum erliegen, deshalb die Dringlichkeit der sozialen Frage geringer zu schätzen nach dem Motto: Den Kampf gegen die Armut können wir auch noch in zehn Jahren beginnen. Die Folgen sozialer Spaltung können für Menschen und Demokratien nicht weniger zerstörerisch sein als die Treibhausgasemissionen für das Klima. Auch die soziale Spaltung kann einen Kipppunkt erreichen.
Auch der Rechtsruck der vergangenen Jahre könnte irgendwann nicht mehr zurückzudrehen sein, wenn wir nicht handeln. Um der Verführungskraft rechter Ideologien etwas entgegenzusetzen, gilt es, auf die entfesselte Ökonomie mit einer neuen Idee des Wirtschaftens zu reagieren: mit einer Ökonomie des Gemeinsamen, die auf Demokratisierung der Wirtschaft setzt und die gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Kooperativen und Genossenschaften fördert.
Bei der sozialökonomischen Wende geht es um mehr und um weniger als Kapitalismuskritik. Um weniger, weil die konkreten Schritte notwendigerweise unter dem Anspruch einer Überwindung des Kapitalismus bleiben werden. Und um mehr, weil diese Reformen Teil eines Prozesses zur Stärkung von Produktions- und Eigentumsformen sind, die über den Kapitalismus hinausweisen und ein postkapitalistisches Morgen ermöglichen.
Schwarz-Grün wäre eine Sackgasse
Vor allem bei den Grünen gib es jedoch viele, die auf ein Bündnis mit der Union statt auf eine linke Mehrheit setzen. Doch bei Schwarz-Grün blieben die systemischen Ursachen unangetastet. Wirksamer Klimaschutz geht nur mit Mitte-Links, denn er erfordert die Bereitschaft, sich mit Konzernen anzulegen. Immerhin gehen zwei Drittel aller CO2-Emmissionen auf das Konto von 100 großen Konzernen. Hinzu kommt: Wenn sich die Menschen zwischen ihren materiellen Sorgen am Monatsende und der Angst vor dem Weltende entscheiden müssen, wird nichts Gutes dabei herauskommen. Damit Klimaschutz auch nachhaltig Rückhalt in der Bevölkerung hat, muss er Hand in Hand mit mehr sozialem Schutz gehen.
Um diese Mehrheiten links der Union zu ermöglichen, gilt es, jene zu begeistern, die schon jetzt Lust auf Veränderung haben. Und jene zu erreichen, denen das heute noch Sorgen macht, weil Veränderung für sie bisher hieß, etwas zu verlieren – den Job, Sicherheit oder Anerkennung. Solche Sorgen werden SPD, Grüne und Linke nur zerstreuen können, wenn sie offensiv für ein Bündnis werben und die Möglichkeiten aufzeigen, die damit verbunden sein können. Eine wirkliche Transformation lässt sich nicht durch die Hintertür erreichen, wie das manch ein Sozialdemokrat oder Grüner hoffen mag. Wir müssen gemeinsam für ein politisches Projekt stehen, das Hoffnung macht.
Wir brauchen Unterstützung aus der Gesellschaft
Ein solches Projekt kann allerdings nicht den Parteien allein überlassen werden. Wir brauchen einen progressiven Ruck aus unserer Gesellschaft.
Es braucht starke Stimmen aus sozialen Bewegungen, Verbänden, Gewerkschaften und Kirchen, die ein Parteienbündnis motivieren, auch herausfordern und zu Standfestigkeit zwingen. Denn das muss man immer sagen: Wer Machtverhältnisse verändern will, wird viel Gegenwind erfahren und viel Durchhaltevermögen brauchen.
Wir können in den nächsten Jahren Zeugen von sich verschärfenden Krisen bis hin zum Klimakollaps und einer autoritär-nationalistischen Aufweichung unseres demokratischen Gemeinwesens werden. Oder wir gehen die Ursachen der Krisen an und stellen dem entfesselten Markt eine neue Ökonomie des Gemeinsamen entgegen.
Neue linke Mehrheiten könnten ernst machen mit einer Politik des Friedens und des Klimaschutzes, damit wir alle eine Zukunft haben. Eine Regierungsalternative, die damit beginnt, alle vor Armut zu schützen und die Mitte besser zu stellen.
Neue linke Mehrheiten stellen der Rechten die Kraft der Solidarität entgegen. Auf dass alle ohne Angst anders sein können und zugleich das Gemeinschaftliche wachsen kann. Also: Nutzen wir den Augenblick, nutzen wir das Momentum.“