Manifest für den Frieden: Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht – kontrovers diskutiert

Manifest für den Frieden

Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.

Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass „wir“ einen „Krieg gegen Russland“ führen. Im Ernst?

Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch „Bodentruppen“ senden. Doch wie viele „rote Linien“ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?

Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der letzte.

Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!

Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!

Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: „Schaden vom deutschen Volk wenden“.

Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht

DIE 69 ERSTUNTERZEICHNERiNNEN

Dr. Franz Alt Journalist und Bigi Alt • Christian Baron Schriftsteller • Franziska Becker Cartoonistin • Dr. Thilo Bode Foodwatch-Gründer • Prof. Dr. Peter Brandt Historiker • Rainer Braun Internationales Friedensbüro (IPB) • Andrea Breth ­Regisseurin • Dr. Ulrich Brinkmann Soziologe • Prof. Dr. Christoph Butterwegge Armutsforscher • Dr. Angelika Claußen IPPNW Vize-Präsidentin Europa • Daniela Dahn Publizistin • Rudolf Dressler Ex-Staatssekretär (SPD) • Anna Dünnebier Autorin • Petra Erler Geschäftsführerin (SPD) • Valie Export Künstlerin • Bettina Flitner ­Fotografin und Autorin • Justus Frantz Dirigent und Pianist • Holger Friedrich Verleger ­Berliner ­Zeitung • Katharina Fritsch Künstlerin • Prof. Dr. Hajo Funke Politikwissenschaftler • Dr. Peter Gauweiler Rechtsanwalt  (CSU) • Jürgen Grässlin Dt. Friedensgesellschaft • ­Wolfgang Grupp Unternehmer • Prof. Dr. Ulrike Guérot Politikwissenschaftlerin • ­Gottfried ­Helnwein Künstler • Hannelore Hippe Schriftstellerin • Henry Hübchen Schauspieler • ­Wolfgang ­Hummel Jurist • Otto Jäckel Vorstand IALANA • Dr. Dirk Jörke Politikwissenschaftler • Dr. ­Margot Käßmann Theologin • Corinna Kirchhoff Schauspielerin • Uwe Kockisch Schauspieler • Prof. Dr. Matthias Kreck Mathematiker • Oskar Lafontaine Ex-Minister­präsident  • Detlef Malchow Kaufmann • Gisela Marx Journalistin • Prof. Dr. ­Rainer Mausfeld ­Psychologe • Roland May Regisseur • Maria Mesrian Theologin • Reinhard Mey Musiker und Hella Mey • Prof. Dr. Klaus Moegling ­Scientists for Future • Michael Müller Vorsitzender NaturFreunde • Franz Nadler Connection e. V. • Dr. ­Christof ­Ostheimer ver.di-Vorsitzender Neumünster • Dr. Tanja Paulitz Soziologin • Romani Rose Vors. Zentralrat Deutscher Sinti und Roma • Eugen Ruge Schriftsteller • Helke Sander ­Filmemacherin • Michael von der Schulenburg ­UN-Diplomat a.D. • Hanna Schygulla Schauspielerin • Martin Sonneborn Journalist (Die Partei) • Jutta Speidel Schauspielerin • Dr. Hans-C. von Sponeck Beigeordneter ­UN-Generalsekretär a.D. • Prof. Dr. Wolfgang Streeck Soziologe und Politikwissenschaftler • Katharina Thalbach Schauspielerin • Dr. Jürgen Todenhöfer Politiker • Prof. Gerhard Trabert Sozial­mediziner • Bernhard ­Trautvetter Friedensratschlag • Dr. Erich Vad Brigade­general a.D. • Prof. Dr. Johannes Varwick Politikwissenschaftler* • ­Günter Verheugen Ex-Vizepräsident EU-Kommission • Dr. Antje Vollmer Theologin (Die Grünen) • Prof. Dr. Peter Weibel Kunst- und ­Medientheoretiker • Nathalie Weidenfeld Schriftstellerin • ­Hans-Eckardt Wenzel ­Liedermacher • Dr. Theodor Ziegler Religionspädagoge

KUNDGEBUNG Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Brigadegeneral a.D. Erich Vad haben für den 25. Februar einen Protesttag ­initiiert: eine Kundgebung am Brandenburger Tor in Berlin.

Hier unterschreiben

SPENDEN Für die Kundgebung fallen Kosten an (Bühne, Technik, Livestream). Spenden: Stichwort „Aufstand für Frieden“ via GoFundMe

Mehr als 558.000 Unterschriften – Stand 19.2.23

Prof. Dr. Johannes Varwick Politikwissenschaftler*:  Lt. SPIEGEL vom 17.2.23 hat Prof. Varwick seine Unterschrift zurückgezogen. Er „schrieb nun auf Twitter, auf der Liste der Unterzeichnern seien »zunehmend Personen dabei, mit denen ich nicht gemeinsam genannt werden möchte«. Er habe keine Angst vor Applaus von der falschen Seite. »Aber das setzt voraus, dass eine klare Distanzierung von denjenigen Unterstützern erfolgt, die man für nicht akzeptabel hält.« Varwick erweist auf das SPIEGEL-Interview mit Wagenknecht und Schwarzer 


David Ensikat 16.02.2023 Der Tagesspiegel  Meinung

Was, wenn nicht verhandeln? Ein Plädoyer fürs Manifest der angeblich Naiven

Man wird den Aggressor Russland nicht mit ein paar Dutzend Leopard-Panzern zurückdrängen. Die Einsichten eines Gefreiten, der an russischen Waffen ausgebildet wurde.

Vor gut 35 Jahren, im November 1987, begann die schlimmste Zeit in meinem Leben, die 18 Monate Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Ich lernte, wie man mit der Kalaschnikow schießt, und wie man ein russisches Radargerät bedient, das anzeigte, wo die Flugzeuge des Klassenfeindes umherflogen. Und ich lernte ein Stück von der Verrohung kennen, die der Krieg bereits in Friedenszeiten anrichtet. Dass die ganze Veranstaltung der Vorbereitung echten Kriegsgeschehens galt, war völlig unvorstellbar. Ein solches verband man damals, mitten in Europa, ohnehin mit dem sicheren Tod.

Immerhin diese Erfahrung unterscheidet mich von den meisten unserer derzeit wehrtüchtigsten Meinungsmacher. Zum kursierenden Friedensappell von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sagen sie: Einen Waffenstillstand zu fordern, statt immer mächtigeres Kriegsgerät in die Ukraine zu liefern, sei naiv. Es spiele dem Gegner, Putin, den Russen, den Autoritären, in die Hände. Sie unterstellen, dass man gegen die Ukraine, das ukrainische Volk sei, denn diese wünschten jetzt keinen Waffenstillstand, sondern Waffen. Sie unterstellen, man würde die Opfer zu Tätern machen und nicht klar benennen, wer der Aggressor ist.

Letzteres aber steht ganz klar in dem Appell, zweiter Absatz, erster Satz. Ein Kritiker der FAZ meinte, das hätten sie nur zum Schein dort reingeschrieben, so meinen könnten sie es auf keinen Fall. Nun gut. Ich bin mit dem Appell ganz und gar einverstanden und weiß sehr genau, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Das Wort „völkerrechtswidrig“ erscheint mir in einem solchen Satz fast schon zu niedlich. Putin, seine Generäle und Propagandisten sind Verbrecher, denen kein Gran an Sympathie gebührt.

Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. 

Aus dem „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht

Was aber tun, wenn da ein Regime ist (ich glaube nicht an Putins Alleinschuld), das über eine Armee verfügt, die immer wieder versagen mag – mich erinnert das an meine NVA-Erfahrung –, die aber den ukrainischen Verteidigern in Sachen Rüstung und Soldatenstärke weit überlegen ist? Wenn dieses Regime, das mit Atomwaffen droht, diesen Krieg um den Erhalt seiner selbst unter keinen Umständen verlieren darf? Was tun, wenn die meisten ernst zu nehmenden Kriegsfachleute im Westen davon ausgehen, dass ein wesentliches Zurückdrängen den Ukrainern auf absehbare Zeit nicht gelingen dürfte? Wer im Westen glaubt ernsthaft an eine Chance auf jenen Sieg, von dem die ukrainische Regierung spricht, also dem, der die Rückeroberung der Krim einschließt?

Wir liefern ihnen Waffen, und wir wissen, dass es nicht genug sein werden

Wer sagt, es muss weitergekämpft werden, Verhandlungen haben derzeit keinen Sinn, der sagt: Tausende müssen weiter sterben. Abertausende mehr werden traumatisiert, von Tag zu Tag. Ja, Schuld sind die russischen Angreifer. Aber sie sind da, und man wird sie auch mit den paar Dutzend Leopard-Panzern nicht wegbekommen, nicht einmal mit ein paar Superflugzeugen. Die Forderungen der Russen sind unverschämt, inakzeptabel für die Ukraine. Die Forderung der Ukraine ist inakzeptabel für die Russen. Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen. Sie sagen sie wollen weiterkämpfen. Wir wissen, dass die Erfolgschancen gering sind. Wir liefern ihnen Waffen, und wir wissen, dass es nicht genug sein werden, um das Kriegsziel zu erreichen.

Was soll man denn tun, wenn nicht verhandeln?

Wenn das naiv ist, bitte ich die Nicht-Naiven, einmal zu sagen, ob sie selbst, ganz persönlich, bereit wären, in Bachmut zu kämpfen, bis die Verhandlungsposition eine bessere ist. Sie sollen sagen, wann das der Fall wäre. Und wie sie ihre Chancen einschätzen. Ein Argument gegen den Appell von Schwarzer/Wagenknecht von einem meiner Tagesspiegel-Kollegen lautete: Nicht wir haben zu entscheiden, ob gekämpft oder verhandelt wird, sondern allein die Ukrainer. Wäre ich Ukrainer, ich würde Nato-Bodentruppen fordern. Vergeblich. Nicht mal ein Flugverbot hat der Westen den Ukrainern zugebilligt. Mit gutem Grund.

Selbstverständlich entscheidet nicht die Ukraine, wie der Westen sich verhält. Die Möglichkeiten der ukrainischen Verteidiger werden im Augenblick, ob man das gut findet oder nicht, vom Westen bestimmt. Also müssen wir hier eine Haltung finden. Und das unter den beschriebenen grausamen Gegebenheiten. Oder, um noch bündiger zu argumentieren: Weil die Gefahr besteht, dass der Krieg sich über die Ukraine hinaus ausweitet, kann nicht die Ukraine über unsere Haltung bestimmen. Zudem, wer ein wenig zurückgeht im Geschehen und nach den Gründen des Konflikts sucht, wer einsieht, dass es nicht allein um böse Gedanken eines einzelnen Imperialisten im Kreml geht, der weiß, dass der Westen seit vielen Jahren eine große Rolle gespielt hat: Einbindung in EU und Nato.

Der Westen hat, wenn man etwa den Auslassungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett folgt, in die Verhandlungen vor einem knappen Jahr eingegriffen. Mit Waffenlieferungen und Sanktionen steckt er tief in der Angelegenheit. Und er wird auch weiter seine Rolle spielen, nicht zuletzt, weil es um die Friedensordnung in Europa geht. Wir wissen, dass der Aggressor nicht mit seiner Aggression aufhört, weil wir Panzer oder, wer weiß, Flugzeuge liefern. In einer solchen Situation nicht alles daranzusetzen, eine andere Lösung zu finden, und läge sie auch noch so fern, halte ich für sträflich.

Es gibt nur schlimm und schlimmer

Es stimmt, es ist kein gerechter Kompromiss vorstellbar, kein akzeptables Verhandlungsergebnis auf Dauer, denn es geht um das Territorium eines souveränen Staates. Es geht um harte Zugeständnisse, die einen Waffenstillstand ermöglichen. Und schließlich um einen langen Prozess weiterer Verhandlungen unter dem größtmöglichen Druck auf Russland. Das darf nicht sein? Der Aggressor kommt davon und wird auch noch belohnt? Es gibt keinen guten Ausweg aus der Sache. Es gibt nur schlimm und schlimmer. Denn auf die Ablösung von Putin durch einen Friedensengel muss man nicht hoffen. Und die Alternative sehen wir tagtäglich: die Zerstörung eines Landes, seiner Menschen, seiner Seelen.

Aber darf man eine Haltung unterstützen, die Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben? Sie sind mir nicht sympathisch, na und? Sie geben einer Haltung eine Stimme, die offenbar die wenigsten meiner Kolleginnen und Kollegen im deutschen Journalismus teilen – soweit sie sich zu Wort melden. Es ist auch meine Haltung. Die Art, wie darauf reagiert wurde, herablassend, falsch lesend, unterstellend, hat mich eher noch bestärkt. Und dann, da es doch um den Krieg und die Gefahr seiner Ausweitung geht, noch etwas aus meiner Grundausbildung als Kriegshandwerker. Ich war Funkorter bei der Luftabwehr. Das sind diejenigen, die als Erste ausgeschaltet werden, wenn ein Luftkrieg stattfindet, da sie sonst helfen, die Flugzeuge vom Himmel zu holen. Bevor die Ukrainer dereinst die teuren Flugzeuge aus dem Westen aufsteigen lassen, müssten sie die russische Luftabwehr ausschalten. Die befindet sich zum größten Teil auf russischem Boden.

Mehr zur Debatte um das Manifest

„Auf unserer Kundgebung ist jeder willkommen“ Sahra Wagenknecht bringt ihre Partei ins Dilemma Nach Kritik am „Manifest für Frieden“ Russland besiegen – wie soll das gehen?Die Missachtung der Ukrainer Aus Wagenknechts und Schwarzers Forderung spricht der vergnügte Ton der Bevormundung


https://www.zeit.de/kultur/2023-02/sarah-wagenknecht-alice-schwarzer-ukraine-waffenlieferungen

ZEIT online  Nils Markwardt

  1. Februar 2023, 20:52 Uhr710 Kommentare

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer: Kalte Kriegerinnen

Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer fordern ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Viele sehen darin Putinversteherei. Doch das Problem liegt woanders.

Zu den anspruchsvollen Anforderungen demokratischer Öffentlichkeit gehört die Fähigkeit, sich immer wieder in eine Art diskursiven default mode zu versetzen. Also bei jeder Kontroverse von Neuem davon auszugehen, dass der Andere womöglich recht haben könnte, man selbst hingegen falsch liegen oder zumindest über blinde Flecken verfügen könnte. Man versucht, offen zu bleiben für Argumente. Das bewahrt davor, nur noch ideologische Beißreflexe zu bedienen.

Was in der Theorie einfach klingt, ist in der Praxis knifflig. Denn die demokratische Öffentlichkeit gleicht selten einem holzvertäfelten Debattierclub, in dem Theorien und Weltsichten spielerisch durchgetanzt werden können. Geht es hier doch zum einen oft um Fragen von Leben und Tod, etwa im Fall des Ukraine-Kriegs. Zum anderen sind demokratische Debatten stets vermachtet, sie drehen sich bisweilen gerade nicht ums bessere Argument, sondern um die Mobilisierung von Mehrheiten oder das strategische Schüren von Stimmungen.

Und dennoch lohnt es sich, gerade polarisierenden Auseinandersetzungen zunächst mit einer Haltung des hermeneutischen Wohlwollens zu begegnen. Mindestens lassen sich dadurch bessere Gründe für die eigene Position finden. Das jüngst von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer lancierte Manifest für Frieden liefert dafür eine gute Probe aufs Exempel.

Gegen die mittlerweile von über 420.000 Menschen unterzeichnete Petition, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und sich für eine rasche Verhandlungslösung einzusetzen, sind nämlich eine Reihe von Einwänden vorgebracht worden, die wenig überzeugend erscheinen.

Dazu gehört erstens der Vorwurf, bei den Initiatorinnen ebenso wie den Erstunterzeichnern handele es sich nicht um Experten.

Oder konkreter: Einer Theologin wie Margot Käßmann, einem Schauspieler wie Henry Hübchen oder einem Sozialmediziner wie Gerhard Trabert fehle das nötige Fachwissen, um Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine adäquat beurteilen zu können. Das mag im Einzelfall stimmen oder auch nicht, als Argument taugt es kaum. Denn Demokratie ist eben keine Technokratie, keine Herrschaft der Experten.

Es ist richtig: Eine funktionierende Öffentlichkeit braucht den Input von Fachleuten, braucht Daten, Fakten und Forschungsergebnisse. Dementsprechend kann man auch nur froh darüber sein, dass mittlerweile so viele exzellente Osteuropahistorikerinnen und -historiker in der Debatte um den Ukraine-Krieg medial präsent sind. Doch kennt der demokratische Diskurs zunächst einmal nur Argumente, keine Sprecherinnen erster und zweiter Klasse. Zumal gesellschaftliche Großdebatten seit je her auch von Intellektuellen geprägt wurden. Und diese sind per Definition keine Fachleute, sondern Generalisten. Ihr Betätigungsfeld, so formulierte es einmal der Literaturwissenschaftler Sven Hanuscheck, ist die „inkompetente, aber legitime Kritik“. Ob Émile Zola oder Simone de BeauvoirHeinrich Böll oder Joan DidionPierre Bourdieu oder eben auch Alice Schwarzer: Sie alle haben Debatten geprägt, nicht (allein) durch Fachwissen, sondern als Vertreter dessen, was der Soziologe Karl Mannheim „freischwebende Intelligenz“ nannte.

Ein zweiter Vorwurf, der dem Manifest für Frieden gemacht wird: Es handle sich bei den Petenten um offene oder heimliche Fans der russischen Autokratie.

Nun ist es zwar richtig, dass etwa Sahra Wagenknecht seit Jahren ein mindestens verklärendes Bild des russischen Präsidenten zeichnet und diesen noch kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine als vermeintlich rationalen Machtstrategen verbuchte. Doch ist die Liste der Unterstützerinnen des Appells viel zu divers für diesen Vorwurf. Bei einem Großteil der Unterzeichner wird sich keinerlei Beleg für eine politische Liebe zum Kreml finden lassen. Zumal man in diesem Zusammenhang vielleicht auch daran erinnern sollte, wie fatal derlei pauschale Formen der Verdachtsargumentation historisch gewirkt haben. Etwa während des Red Scare in den Fünfzigerjahren, als sozialdemokratische Forderungen bisweilen schon als Ausweis vermeintlicher Stalin-Sympathie firmierten.

Putins Identitätspanik

Und schließlich gibt es noch den dritten Vorwurf: Es wird kritisch bemerkt, dass die Petition auch von AfD-Chef Tino Chrupalla unterzeichnet und begierig von russischen Staatsmedien aufgegriffen wurde.

Vor diesem Hintergrund nun darauf zu verweisen, dass es so etwas wie Kontaktschuld schlicht nicht gäbe, ist aber selbst höchstens halb richtig. Denn natürlich muss man auch nach der Verantwortung der Initiatorinnen fragen. Ist das Manifest für Frieden derart formuliert, dass die Anschlussfähigkeit für Rechtspopulisten und Kremlpropaganda willentlich in Kauf genommen, ja womöglich sogar beabsichtigt wurde? Wenn im Text etwa allgemein von kriegsbedingten Traumatisierungen und Vergewaltigungen die Rede ist, ohne in diesem Zusammenhang explizit die Hauptverantwortung Russlands herauszustellen, oder wenn Wolodymyr Selenskyj implizit als treibende Eskalationskraft beschrieben wird, schrammt das haarscharf an einer Täter-Opfer-Umkehr vorbei. Gleichwohl benennt das Manifest Russland grundsätzlich als Aggressor und spricht von der Notwendigkeit zur Solidarität mit der Ukraine. Das mag man für wohlfeile Lippenbekenntnisse halten oder auch nicht. Der Text selbst gibt es jedoch nicht her, ihn allein als reaktionäres Pamphlet oder Quasi-Auftragsarbeit aus dem Kreml abzuqualifizieren.

Insbesondere dann nicht, wenn man im Sinne des hermeneutischen Wohlwollens unterstellt, dass es den Unterzeichnerinnen im Kern tatsächlich um ein, ja um das humanistische Anliegen geht: das Töten zu beenden. Zumal es ja stimmt: Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine können nicht bemessen, wie viele Kriegsopfer es bis zu einem potenziellen Sieg der Ukraine noch geben wird, oder ob letzterer überhaupt im engeren Sinne erreichbar scheint. Ebenso lässt sich die von Wagenknecht und Schwarzer seit Monaten beschworene Gefahr einer unkalkulierbaren Eskalation des Kriegs nicht einfach von der Hand weisen.

Das Problem des Manifests für Frieden liegt im Wesentlichen also nicht darin, dass hier keine Experten auftreten, man den Unterzeichnerinnen amoralische Motive vorwerfen könnte, der Text einem Kremlnarrativ folgte oder die Petition an sich keine validen Punkte ansprechen würde.

Das Problem der Petition liegt zum einen darin, dass sie in einem spezifischen Sinne unehrlich ist.

Wer lesen möchte, wie spitzfindig Nils Markwardt den Vorwurf der „spezifischen“ Unehrlichkeit ausbreitet, sollte hier weiterlesen (aktiver LINK oben am Artikelbeginn. Im Augenblick funktioniert Verlinkung nicht, deshalb das etwas umständliche Verfahren)