Montagsdemos dürfen Ursachen der Krise nicht verschweigen
Christian Wolff • 19. August 2022
Nicht der Ukraine-Krieg ist die Ursache für die Inflation, Energieprobleme oder gar die Klimakrise. Die eigentlichen Ursachen sind die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte, die sich nun bitter rächen. Das sollten die Montagsdemos ehrlich benennen.
Nun soll es wieder losgehen – mit den sog. Montagsdemos. Dieses Mal initiiert von der Partei DIE LINKE, beginnend am 05. September 2022. Wo? Natürlich in Leipzig.
Anlass: Die enorm gestiegenen Energiekosten und die damit verbundenen drohenden sozialen Verwerfungen insbesondere durch die Gas-Umlage. Kein Wunder, dass all diejenigen sofort auf den Zug aufzuspringen versuchen, die nach Flüchtlingskrise und Coronapandemie den nächsten Anlass suchen, um verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen: die Rechtsnationalisten von der AfD und diverse Verschwörungsgruppen. Sie wittern ihre Chance, die Verunsicherung vieler Bürgerinnen und Bürger verursacht durch die Anhäufung von Krisen – Coronapandemie, Krieg, Inflation, Naturkatastrophen – auf ihre Mühlen lenken zu können. Wenig überraschend aber auch, dass DIE LINKE mit ihrem Aufruf an ihre zweite Geburtsstunde anzuknüpfen versucht: die Proteste gegen die sog. Hartz-IV-Gesetze vor 18 Jahren.
Reiner Protest greift zu kurz
Nun ist es in der Demokratie jedermanns Recht, politische Protestaktionen zu planen und dazu aufzurufen. Die Zeiten sind auch so, dass die aktive Beteiligung der Bürger*innen an den jetzt notwendigen politischen Weichenstellungen dringend erforderlich ist. Sie allein den Regierungen und Parlamenten zu überlassen, ist eine demokratische Überforderung der Mandatsträger*innen. Aber das bedeutet gleichzeitig, dass die politische Stoßrichtung von Aktionen kritisch hinterfragt werden kann und muss. Denn wer jetzt die Proteste lediglich auf die drohende soziale Schieflage ausrichtet, in die viele Menschen aufgrund der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten und Energiepreise geraten (sind), greift viel zu kurz.
Die dramatische Situation, in der wir uns befinden, müssen wir als Ergebnis von 30 Jahren rücksichtsloser Verbrauchspolitik ohne Folgenabschätzung betrachten. Der Ukrainekrieg ist jedenfalls nicht die Ursache für die jetzige Krise, sondern ein Teil davon. Er wirkt als Katalysator. Ein Kriegsende wird also an der Dramatik, in der wir stecken, nicht viel ändern – wohl aber an den Verbrechen, die dem Krieg innewohnen und dem die Menschen in der Ukraine ausgesetzt sind. Ursache für die jetzige Lage sind die enormen Versäumnisse:
Versäumnis 1: Energiewende. Schon in den 80er Jahren zeichnete sich ab, dass weder unser Land geschweige denn der Planet Erde den Energieaufwand und Ressourcenverbrauch der Industriestaaten wird ökologisch verkraften können. Doch dann kamen die Friedliche Revolution und der Zusammenbruch der Warschauer Paktstaaten und in der Folge die Globalisierung. Alle Notwendigkeiten eines entschlossenen Ausbaus der erneuerbaren Energien wurden zurückgestellt; und ein wesentlicher Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland, nämlich der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, geriet auch in den Kirchen in Vergessenheit. Das Drei-Liter-Auto, die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene, Ausbau des ÖPNV, Reduzierung des Fleischkonsums verschwanden in den Schubladen – stattdessen SUW, LKWs als fahrende Lagerhallen, Ausbau des Flugverkehrs und der Fleischindustrie…
Versäumnis 2: Obwohl Mitteleuropa die Erfahrung aufweisen konnte, dass gesellschaftliche Transformationsprozesse auch ohne kriegerische Gewalt möglich sind (darum ja: Friedliche Revolution!), wurde unmittelbar nach 1990 wieder auf militärische Interventions- und der damit verbundenen Aufrüstungspolitik gesetzt. Dafür steht vor allem der Golfkrieg 1991. Die Folge davon war, dass die Gestaltung einer europäischen Friedensordnung und die Einbindung Russlands in eine solche Politik immer mehr verkümmerten. Schließlich beschränkte sich die Russlandpolitik Europas auf die Sicherung der Lieferung von billigem Gas – gleichzeitig mit Ursache dafür, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien im Schulterschluss von Bundesregierungen und Wirtschaft vernachlässigt wurde. Man kann nicht oft genug daran erinnern: 80.000 (!) Arbeitsplätze gingen zwischen 2010 und 2015 in Ostdeutschland in der Solarindustrie verloren.
Versäumnis 3: Alle Krisen haben wir bis jetzt nicht wirklich begriffen als STOP-Schilder, die uns in den Weg gestellt wurden: weder die Finanzkrise 2008, noch die sich häufenden dramatischen Folgen des Klimawandels (Jahrhundertflut in Sachsen, Ahrtal-Flut, Waldbrände, Dürren), noch die Corona-Pandemie. Stattdessen kehren wir in der aktuellen Krisenzeit zu den Verhaltensweisen zurück, die die Krisen mit verursacht haben – und nennen das „Normalität“. Jetzt wird gefordert, die Atomkraftwerke nicht abzuschalten und möglichst neue zu bauen; jetzt wird ein gigantisches Aufrüstungsprogramm in Gang gesetzt; jetzt bezeichnen Politiker wie Michael Kretschmer (CDU) den Aufruf zum Energiesparen als „zynisch“ und örtliche Funktionäre von Unternehmerverbänden halten das für „reine Alibipolitik“ – so der Leipziger Unternehmer Mathias Reuschel.
Versäumnis 4: Nach wie vor sind die sozialen Lasten in den Demokratien ungleich verteilt – mit der Folge, dass die Menschen, die über geringe Einkommen verfügen, die mit Krisen verbundenen Einschränkungen am ehesten und existentiell bedrohlich zu spüren bekommen. Wir haben zwar ein allgemeines, gleiches Wahlrecht, aber die Teilhabe an Einkommen, Vermögen, Wohnen, Bildung ist nach wie vor sehr ungleich. Gerade die Coronapandemie hat aufgedeckt, dass diejenigen, die in sozial prekären Verhältnissen leben bzw. Migrationshintergrund haben, davon am stärksten betroffen waren. Das sind aber nicht selten die Menschen, die im Reinigungs- und Logistikservice wertvollste Arbeit leisten. Die sozialen Schieflagen zu beseitigen, muss oberste politische Priorität in der Demokratie haben, insbesondere dann, wenn finanzielle Lasten auf alle Bürger*innen umgelegt werden. Das darf aber nicht zur Rechtfertigung der anderen Versäumnisse herangezogen werden.
Wer aber jetzt auf die Straße geht, der kann dies eigentlich nur tun, wenn er deutlich und selbstkritisch diese Versäumnisse im Blick hat und benennt. Denn an ihnen sind wir alle – natürlich mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Verantwortungsgrad – beteiligt. Darum greift es viel zu kurz, die Proteste auf die Gasumlage zu konzentrieren und die Bevölkerung vom Energiesparen auszunehmen (daran haben nur die ein Interesse, die die Energiewende blockieren!). Gerade das Energiesparen muss Thema auf allen gesellschaftlichen Ebenen sein.
Jeder kann selbst handeln
Wir sollten dies als Ausdruck aktiver Beteiligung eines*r jeden, die Folgen des Klimawandels abzumildern, verstehen. Jeder kann achtsam mit dem eigenen Energieverbrauch umgehen, sich im Straßenverkehr an 40-80-120 km/h halten und die Erfahrung machen: Sparen bringt Gewinn! Wer also der Gefahr entgehen will, dass diejenigen, die den Klimawandel leugnen, den Aggressionskrieg Russlands verharmlosen, ihr Heil in nationalen Alleingängen sehen, die Demokratie verachten, sich die Proteste zunutze machen, der sollte eher an „Fridays for Future“ anknüpfen als an die „Montagsdemos“ der Friedlichen Revolution. Er sollte die Menschen aus ihrer Opferrolle befreien und sie zu Beteiligten machen.
Aber auch Parteien wie SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die in Regierungsverantwortung stehen, sind gefordert, die Prioritäten klar setzen und zu kommunizieren:
- entschlossener Ausbau der erneuerbaren Energiequellen;
- Tempolimit 40-80-120 km/h;
- eine europäische Friedenspolitik, die auf Gewaltminimierung setzt;
- Stärkung der Demokratie durch deutlich einseitige finanzielle Entlastungen der Haushalte mit geringem Einkommen angesichts von Inflation und hohen Energiekosten.
Wogegen und wofür wir auch auf der Straße eintreten wollen – wir werden Menschen nur dann überzeugen können, wenn sie für sich eine lebenswerte Zukunftsperspektive zu entwickeln vermögen. Eine solche ist aber ohne demokratische und soziale Teilhabe und einer dem Klimawandel angepassten Lebensgestaltung nicht zu haben.
Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.