Russischer Verteidigungsexperte Ruslan Puchow im Interview zum Ukraine-Krieg: Ungleicher Kampf der Gladiatoren?

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Roger Näbig 14. August 2022

Russischer Verteidigungsexperte Ruslan Puchow im Interview zum Ukraine-Krieg: Ungleicher Kampf der Gladiatoren?

In einem bemerkenswerten Interview vom 4.8.2022 hat der russische Verteidigungsanalyst und Rüstungsexperte Ruslan Puchow, Direktor des Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien (CAST), eine recht schonungslose Beschreibung der Stärken und Schwächen der beiden Konfliktparteien im Russland-Ukraine-Krieg gegeben. 

Ruslan Puchow (49) ist seit 2012 Mitglied des Expertenrates der Regierung der Russischen Föderation und eng mit dem russischen Verteidigungsministerium verbunden. Er verfasste vor dem Krieg in der Ukraine eine Reihe von Artikeln und Meinungsbeiträgen zu verschiedenen Verteidigungsfragen u.a. für die New York Times, Defense News und The National Interest. Er hat auch eine Reihe von Büchern veröffentlicht, u.a. „Brothers Armed: Military Aspects of the Crisis in Ukraine“, „The Tanks of August“ und „The Turkish Military Machine“. Er wird zudem des Öfteren von russischen und ausländischen Medien zu Verteidigungsthemen interviewt, darunter Wedomosti, Kommersant, das Wall Street Journal und die Nachrichtenagentur Reuters.

Das Interview

In dem nun veröffentlichen Interview mit PRISP, einem russischen Beratungs- und Analyseunternehmen, spricht Ruslan Puchow von beträchtlichen Problemen Russlands in der seit Ende Februar laufenden „militärischen Spezialoperation“. Die an die Ukraine gelieferten modernen westlichen Waffensysteme seien der alten, teils noch aus Zeiten der UdSSR stammenden Ausrüstung der russischen Streitkräfte deutlich überlegen. Russland verfüge über kein einsatzbereites Kampfflugzeug der 5. Generation, weil die Serienproduktion der Su-57 wohl gerade erst anläuft (siehe hierzu auch meinen Beitrag: „Suchoi Su-57: Russlands missverstandener Stealth-Kampfjet der 5. Generation„). Es fehlen der russischen Armee darüber hinaus Hochpräzisionswaffen mit modernen Zielvorrichtungen. Zusammen mit der nach wie vor einsatzfähigen ukrainischen Flugabwehr behindere dies die russische Luftwaffe enorm bei ihrem Versuch, die eigenen Bodentruppen in ihrem Kampf gegen die ukrainische Armee zu unterstützen.

Das russische Heer wiederum verwende größtenteils veraltete T-72 Kampfpanzer, die in der Ukraine zu einer leichten Beute für westliche Panzerabwehrwaffen werden. Den T-90 bezeichnet Ruslan Puchow in dem Interview als „getunten T-72“. Der neue, fortschrittliche T-14 Armata Kampfpanzer werde in absehbarer Zukunft nicht beim russischen Heer eingeführt werden, weil bei ihm ebenfalls die Serienproduktion noch nicht angelaufen sei (siehe hierzu mein Beitrag: „Russlands Kampfpanzer T-14 Armata – Daten, Fakten, Mythen„). Er beklagt, dass Russland zwar als erstes Land aktive Panzerschutzsysteme entwickelt habe, die in der Ukraine nun eingesetzten russischen Kampfpanzer damit aber nicht ausgestattet seien und daher auf dem Gefechtsfeld nicht überleben könnten.

Derzeit profitiere Russland bei der „militärischen Spezialoperation“ noch davon, dass die westlichen Waffenlieferungen die Ukraine bislang nur in kleinen Stückzahlen erreichen, was vor allem politischen Erwägungen geschuldet sei. Der Westen schrecke außerdem davor zurück, eigene Ausbilder und eventuell sogar Soldaten in die Ukraine zu schicken sowie zu viele Waffensysteme abzugeben, um nicht ihre eigenen Streitkräfte zu schwächen. Sollte sich aber der Westen entscheiden, mehr Waffen zu liefern, und die zahlenmäßige Überlegenheit der ukrainischen Armee durch die allgemeine Mobilmachung bestehen bleiben, dann könnte sich die Lage für Russland zum Ende des Sommers hin dramatisch verschlechtern.

Das frei zugängliche, nicht hinter einer Bezahlschranke befindliche Originalinterview in russischer Sprache finden Sie hier. Es folgt nun das ganze Interview in einer maschinellen, von Hand nachbearbeiteten deutschen Übersetzung zu rein wissenschaftlichen Zwecken ohne kommerziellen Hintergrund sowie zu einer militärpolitischen wie zeitgeschichtlichen Analyse des zurzeit noch andauernden Russland-Ukraine-Krieges:

„Ukraine: Kampf der Gladiatoren

Der Journalist und Experte des PRISP-Zentrums, Pjotr Skorobogati, sprach mit Ruslan Puchow, dem Direktor des Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien, über die aktuellen Schwierigkeiten der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Front, die Folgen westlicher Waffenlieferungen an die Streitkräfte der Ukraine und die Frage, ob westliche Rüstungsunternehmen die Waffenproduktion erhöhen können.

– Den ukrainischen Streitkräften stehen inzwischen westliche Waffen zur Verfügung. Wie erfolgreich ist Ihrer Meinung nach die russische Armee, die hauptsächlich mit sowjetischer Ausrüstung ausgestattet ist, gegen sie? Mit welchen technischen Problemen haben unsere Streitkräfte derzeit zu kämpfen?

– Was die neue Waffengeneration betrifft, so verfügen die russischen Streitkräfte leider über so gut wie keine Kampfflugzeuge der fünften Generation. Die neueste Version unserer Su-34-Bomber gehört zu den Flugzeugen der 4+ Generation. Darüber hinaus verfügen wir nicht über genügend Präzisionswaffen und moderne Zielgeräte. Dadurch wird die Effektivität dieses Bombertyps noch weiter verringert, da er entweder ungelenkte Bomben in einer Höhe einsetzen muss, die in der Reichweite feindlicher MANPADS liegt, oder er ganz auf die Unterstützung der Truppen verzichten muss.

Am Boden setzt die russische Armee jetzt hauptsächlich modernisierte Panzer der dritten Generation ein. Die nächste Armata-Familie von Kampffahrzeugen liegt noch in weiter Ferne. Selbst unser modernster Panzer, der T-90, ist eine Modifikation des veralteten T-72. Der T-90 ist, einfach ausgedrückt, ein Tuning eines sowjetischen Panzers. Daher ist es nicht ganz fair, von diesem zu verlangen, den neuesten Panzerabwehrsystemen wie Javelin, NLAW oder Matador erfolgreich zu widerstehen. Hinzu kommt eine paradoxe Situation: Die Sowjetunion war das erste Land, das die abstandsaktiven Schutzsysteme [für Kampfpanzer] (KAZ) erfand. Aber es gibt kein KAZ an unseren Panzern. Das ist natürlich eine Schande, denn die Gefechtserfahrungen in der Ukraine haben gezeigt, dass ein Panzer ohne KAZ auf dem Schlachtfeld gar nicht mehr überlebensfähig ist.

Gleichzeitig haben die Israelis ihre Panzer mit abstandsaktiven Schutzsystemen ausgestattet, die Amerikaner haben damit begonnen, ihre Panzer damit auszurüsten, wir aber nicht. Ich habe also eine wichtige Frage an unser Militär und an Uralwagonsawod. [Russisches Hauptpanzerwerk]

– Beziehen Sie sich auf abstandsaktive Schutzmaßnahmen?

– Ja. Es ist wie ein Gladiatorenkampf. Der eine kämpft mit einem Kurzschwert und einem Schild, der andere mit einem Dreizack und einem Netz. Sie sind also unterschiedlich bewaffnet. So ist es jetzt. Die Streitkräfte der Ukraine sind größtenteils eine Armee aus Infanterie und Artillerie, und unsere Streitkräfte nutzen gepanzerte Fahrzeuge. Und die sind auch nicht mit einem modernen, wirklich wirksamen Schutz ausgestattet.

– Und was ist mit der Infanterie?

– Wir haben einen erheblichen Mangel an Infanterie. Die Front ist groß und es gibt nicht genug Einsatzkräfte für die militärische Spezialoperation. Die Ukrainer sind in der Defensive, sie haben eine Menge Artillerie und Kampfflugzeuge. Wir hingegen müssen die Front mit einer unzureichenden Anzahl von Soldaten sowie mit anfälligen Panzern und Schützenpanzern durchbrechen. Im Donbass versucht die russische Seite, dieses Problem durch den Einsatz von Artillerie zu lösen, aber wie Sie sehen können, geht das sehr langsam.

Ein weiterer Punkt ist, dass die militärische Spezialoperation gezeigt hat, dass die Luftlandetruppen im Moment, grob gesagt, eine schlechte Ersatzinfanterie sind. Denn ihre Aluminium-BMDs [russischer Luftlandeschützenpanzer] sind im Allgemeinen leicht zu treffen, und sie haben kaum eine andere Bewaffnung als die motorisierte Infanterie.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Ukrainer ihre Armee seit acht Jahren aktiv ausbilden. Sie haben praktisch ihre gesamte Infanterie durch den Donbass geschickt und ihre Artillerie aktiv eingesetzt. Das heißt, wir haben unsere Artillerie nur in sehr begrenztem Umfang verwendet, meist in Syrien oder bei Übungen, während sie sie in einer Kampfsituation eingesetzt haben. Daher sind ihre Artilleristen auch erfahrener. Außerdem haben sie gelernt, ihre alten sowjetischen Geschütze in Verbindung mit handelsüblichen Quadrocoptern einzusetzen. Dadurch haben sie ein besseres „Situationsbewusstsein“, wie man heute sagt, und können besser zielen. Einfach ausgedrückt: Im Falle eines Artillerieduells ist es wahrscheinlicher, dass sie uns besiegen. Generell hat der Einsatz von kleinen Drohnen den Einsatz von Artillerie revolutioniert. Wir haben diese Revolution in der Tat verpasst und müssen sie nun nachholen.

Die militärische Spezialoperation hat wieder einmal bewiesen, dass man Hunderte, Tausende ungelenkter Raketen abschießen kann, die scheinbar billig sind, aber diese ganze Leistung wird durch zwei gelenkte Raketen ausgeglichen, die das Ziel mit Präzision treffen. Zwei Raketen wären zwar teuer, würden aber mehr Probleme lösen als Tausende von ungelenkten Raketen. Die alten konventionellen Granaten richten beim Feind keinen großen Schaden an, vor allem, wenn er tief im Boden vergraben ist oder in Betonbunkern Schutz findet. Dies ist ein weiterer Beweis für den Siegeszug der Präzisionswaffen.

– Die Angriffe auf Awdijiwka und Marjinka sind nur Beispiele dafür, dass man gut befestigte Gebiete einen Monat lang beschießen kann, ohne einen Durchbruch zu erzielen?

– Ja, ja, die Methoden des Ersten Weltkriegs (um es ganz offen zu sagen) funktionieren nicht, vor allem, wenn man dem Feind bei der Infanterie nicht überlegen ist. Eine Kombination aus modernen Aufklärungsmitteln (einschließlich Drohnen) in Verbindung mit einer Vielzahl von Präzisionswaffen könnte die gegnerische Frontstellung auflösen – aber genau daran mangelt es uns. Außerdem haben wir einfach nicht genug Truppen, um in einer anderen Richtung wirksam anzugreifen.

– Westliche Staaten beliefern die Ukraine nun mit Waffen, insbesondere mit Artillerie und MLRS. Diese Lieferungen haben daher Fragen nach der Reichweite dieser Waffen aufgeworfen. Warum ist die Reichweite so wichtig?

– Tatsache ist, dass die sowjetischen Waffen, die sowohl Russland als auch die Ukraine jetzt einsetzen, seien es Haubitzen oder Mehrfachraketenwerfer, bis auf wenige Ausnahmen nicht weiter als 20-25 km feuern. Außerdem haben wir viele 122-mm-Haubitzen, die nur bis zu 13 km weit schießen. Die moderne westliche Artillerie hat eine größere Reichweite, insbesondere 155-mm-Haubitzen des Kalibers 39 und vor allem des Kalibers 52 – letztere haben eine Reichweite von 40-41 km. Das Problem der UdSSR und Russlands, bei der Reichweite des Artilleriefeuers zurückzuliegen, ist leider seit den achtziger Jahren offensichtlich. Zwar werden westliche Waffen an die Streitkräfte der Ukraine bisher nur in homöopathischen Mengen geliefert, aber die Lieferungen nehmen zu. Dementsprechend können ukrainische Systeme bei einem Artillerieduell unsere Batterien zerstören, und das russische Gegenfeuer erreicht das Ziel einfach nicht.

Besonders akut wird diese Frage schließlich im Zusammenhang mit der Lieferung von HIMARS- und MLRS-Mehrfachraketenwerfer an die Streitkräfte der Ukraine, die hochpräzise GMLRS-Raketen mit GPS-Lenkung und einer Reichweite von bis zu 85 km abfeuern.

– Was ist mit der Luftwaffe?

– Hier gibt es zwei Probleme: Erstens verfügen wir, wie bereits erwähnt, nicht über genügend Präzisionsmunition und genauere Erkennungs- und Zielgeräte in unserer Luftwaffe, und zweitens gibt es nach wie vor eine nicht unterdrückte ukrainische Flugabwehr, die mit sowjetischen Systemen (S-300, Buk usw.) arbeitet. Darüber hinaus haben die Ukrainer eine große Anzahl von tragbaren Flugabwehrsystemen erhalten. Infolgedessen kann die Luftwaffe weder aus großer und mittlerer Höhe noch aus geringer Höhe effektiv operieren, was ihre Wirksamkeit erheblich einschränkt, gerade bei der Bekämpfung der ukrainischen Artillerie und dem Einwirken auf feindliche Truppen. Um es ganz offen zu sagen: Wir haben keine Luftüberlegenheit. Der Beginn der Lieferung moderner westlicher Mittelstrecken-Flugabwehrsysteme an die Ukraine könnte dieses Problem noch verschärfen.

Zu westlichen Waffentransfers

– Warum sind die westlichen Waffenlieferungen so langsam? Liegt es an der Schwierigkeit der Ausbildung oder wird der Versand absichtlich gedrosselt?

– Auf der allgemeinen politischen Ebene ist der Westen immer noch nicht gewillt, der Ukraine wirklich große Mengen schwerer Waffen zu liefern, da dies sowohl die teilweise „Entblößung“ ihrer Streitkräfte als auch die Notwendigkeit voraussetzen würde, eine große Zahl von Ausbildern in die Ukraine zu entsenden, um zu schulen, und in Wirklichkeit ihr eigenes militärisches Personal, das diese Waffen zumindest teilweise bedienen würde. Zu einem solchen Engagement und einer solchen Eskalation ist der Westen noch nicht bereit, abgesehen von vereinzelten Russenhassern wie den Polen.

Daher beschränken sich die Leistungen für die Ukraine jetzt weitgehend auf die technischen und organisatorischen Aspekte, die ohne ein solches Maß an Mitwirkung akzeptabel sind. Das heißt, die Ausrüstung muss reaktiviert werden, Wartungsarbeiten müssen durchgeführt werden. Dann müssen die Kräfte auf der ukrainischen Seite geschult werden. Selbst wenn die Militärangehörigen ausgebildet sind, werden sie nicht auf dieselbe Weise feuern wie erfahrene Kämpfer aus westlichen Armeen. Mit anderen Worten: Erfahrung ist gefragt.

Aber die Ukrainer lernen sehr schnell, und sie haben bewiesen, dass sie sehr talentierte Kämpfer sind. Die Ausbildung dauert mehrere Wochen, und das Angebot an Waffen nimmt zu, auch in Bezug auf die Qualität (wie z.B. HIMARS). Bis zum Ende des Sommers könnte sich die Situation an den Fronten dramatisch zuspitzen. Außerdem sind wir nicht mobilisiert, sondern kämpfen mit einer Friedensarmee. Und sie haben bereits die vierte Mobilisierungswelle hinter sich, es gibt also keinen Mangel an Menschen. Ja, die Kaderarmee der ukrainischen Streitkräfte ist weitgehend ausgeschaltet, aber es gibt eine erste Reserve, die durch die Anti-Terror-Operation [Bezeichnung in der Ukraine für den Konflikt im Donbass von 2014 bis zum 24.2.2022] getrieben wurde. Es gibt eine zweite und dritte Staffel. Das heißt, irgendwann kann es zu einer Pattsituation kommen, wie im Koreakrieg im Jahr 1951, und unsere Armee wird einfach stehen bleiben und nicht weiter vorrücken können. Es ist ja nicht so, dass wir sie mit Atomwaffen angreifen würden.

– Es wird aber die These vertreten, dass die westlichen Waffenlieferungen nicht groß genug sind, um die Bildung von Reserven zu ermöglichen. Sie werden in den Kampf geworfen und sofort ausgeschaltet. Folglich ist es für die Ukrainer schwierig, eine Angriffstruppe für einen Gegenangriff aufzustellen.

– Ich bin nicht bereit, darüber zu streiten. Diese These scheint in TV-Talkshows zur Selbstbeweihräucherung geäußert zu werden. Ja, wir sehen ein Bild eines ukrainischen „Volkssturms“ irgendwo in Lemberg, bewaffnet mit Maxim- oder Degtjarow-Maschinengewehren. Aber die Einheiten, die an der Front kämpfen, sind recht gut ausgerüstet. Sie verfügen über ein Reservekorps, und die Streitkräfte der Ukraine können bei Bedarf einen Gegenangriff starten. Ich glaube, sie sind besser bewaffnet als der Volkssturm. Die Unterschätzung des Feindes hat uns in der Tat einen grausamen Streich gespielt.

Bislang haben die ukrainischen Streitkräfte noch nicht bewiesen, dass sie in der Lage sind, wirksame Offensiven durchzuführen, die über die taktische Ebene hinausgehen, wie etwa die Rückeroberung eines Dorfes. Im Grunde haben sie bei der Offensive die gleichen taktischen Probleme wie die russische Seite – die vorrückenden Kräfte sind in der Regel zahlenmäßig gering, sie geraten unter Artilleriebeschuss (der in der Regel nicht unterdrückt werden kann) und ziehen sich schnell zurück oder sind nicht in der Lage, die gerade eingenommenen Positionen zu halten, gepanzerte Fahrzeuge werden massiv getroffen. Mal sehen, ob sich die Ukrainer in dieser Hinsicht als besser erweisen.

– Es gibt noch eine weitere These: Es kommt nicht so sehr auf die Anzahl der Läufe an, sondern auf die Zusammensetzung des Munitionsvorrats an. Wie sieht es Ihrer Einschätzung nach mit der regelmäßigen Versorgung mit Munition aus, reicht sie für die Kampfeinsätze aus? Gibt es einen Mangel an Geschossen?

– Ich finde es schwierig, diese Frage zu beantworten. Die Tatsache, dass sie immer noch Donezk beschießen und es keinen Mangel an Treibstoff gibt, vermittelt nicht den Eindruck, dass die Streitkräfte der Ukraine ein ernsthaftes Problem damit haben. Sie leben auch, sie sterben auch, aber ich bin mir nicht sicher, dass die Ukrainer ernsthaft unter Granatenmangel leiden, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie begonnen haben, auf westliche Systeme mit westlichen Granatenlieferungen umzustellen. Ich könnte mich aber auch irren.

Ich weiß eines: Im Gegensatz zu den Ukrainern sind wir mit Samthandschuhen in die militärische Spezialoperation gestartet. Das heißt, wir wollten sicherstellen, dass keine Einheimischen zu Schaden kommen. Wir haben die Feindseligkeiten als eine Art ritterliches Duell eröffnet. Dies ist jetzt, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein dreckiger Kampf in einer Gasse, in der es keine Regeln gibt.

Testgelände Ukraine

– Wie steht es heute um den militärisch-industriellen Komplex im Westen? Die Amerikaner und Europäer hatten größtenteils die Möglichkeit, ihre alten Waffen loszuwerden und ihre Lagerbestände zu räumen. Und es ist eine Art Reset im Gange. Gerüchten zufolge brauchen westliche Rüstungskonzerne lange, um ihre Produktion wieder aufzunehmen. Andere wiederum sagen, die Ukraine sei ein Testgebiet für westliche Waffen, so dass sie besser auf die nächsten Zusammenstöße vorbereitet seien.

– Ja, die westlichen Armeen entledigen sich ihrer alten Ausrüstung und bestellen jetzt neue. Natürlich ist das für die Staaten von Vorteil: Es gibt mehr Arbeit, neue Arbeitsplätze, neue Steuern und so weiter. Jeder Krieg ist ein Testgelände. Für uns ist es Syrien, für den Westen ist es die Ukraine. Das ist keine Schande; es wäre dumm, dies nicht auszunutzen.

Was die Probleme angeht, die sie haben, so handelt es sich meiner Meinung nach um die typischen Jaroslawna-Klagen der meisten Rüstungsindustriellen. Überall auf der Welt beklagen sich die Menschen darüber, dass ihnen etwas fehlt. Denken Sie daran, wie gut sie während des Kalten Krieges waren. Alle diese Branchen können schnell hochgefahren werden. Wenn die Deutschen zum Beispiel keine Chips haben, werden sie die Amerikaner darum bitten. Die Amerikaner werden sie von Deutschland anfordern. Wussten Sie zum Beispiel, dass der Abrams-Panzer eine deutsche Kanone hat? Sie haben eine Lizenz von ihnen erworben und sind damit sehr erfolgreich. Oft ist das, was wir für amerikanisch halten, in Wirklichkeit pan-westlich und gemeinsam hergestellt. In der Vergangenheit kauften die USA Lizenzen für unbemannte Drohnen von Israel.

Gemessen an den Zahlen sollten die Klagen der westlichen Militärs nicht überbewertet werden. Die Gesamtzahl der Waffen und Ausrüstungen, die bei den Armeen des gesamten NATO-Blocks im Einsatz sind, ist sehr groß, um ein Vielfaches größer als bei uns und größtenteils neuer.

– Wie sieht es mit der Koordinierung zwischen den verschiedenen Auftragnehmern aus?

– Sehr oft geschieht dies nicht auf staatlicher Ebene, sondern auf der Ebene von Privatunternehmen. Als wir zum Beispiel amphibische Angriffsschiffe vom Typ Mistral von Frankreich kaufen wollten, mussten sie die Produktion anpassen. Denn bei der Herstellung dieser Schiffe für den Eigenbedarf werden zahlreiche amerikanische Komponenten oder französische Teile in amerikanischer Lizenz verwendet. Die Amerikaner weigerten sich, Komponenten für den russischen Auftrag zu liefern, woraufhin sie das Schiff modifizieren mussten.

Westliche Rüstungsunternehmen mögen koreanische Komponenten, weil sie billig sind. Die Existenz mehrerer Produktionsketten könnte zu Problemen führen. Wir sollten jedoch nicht glauben, dass diese Probleme ein Hindernis für die Deckung des eigenen und ukrainischen Bedarfs an Ausrüstung darstellen. Es kann zu Unterbrechungen bei der Versorgung mit einzelnen Geräten kommen, aber das sind nur Einzelfälle.“

Die schonungslose Analyse des auch international anerkannten russischen Verteidigungsexperten Ruslan Puchow überrascht, obwohl es sich manchmal wie ein Erklärstück für die russische Öffentlichkeit anhört, warum Russlands „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine, trotz aller Beteuerungen von offizieller Seite, auf immer größere Probleme stößt.

Seine Kritik richtet sich dabei hauptsächlich gegen die eigene Armee und die heimische Rüstungsindustrie. Die Staatsführung unter Präsident Putin, die ja seit Jahrzehnten die Leitlinien der russischen Verteidigungspolitik vorgibt und den Angriffsbefehl gab, wird mit keiner Silbe erwähnt. Seine fast im bedauernswerten Ton vorgetragenen Defizite bei der russischen Luftwaffe und dem Heer legen zwar den Finger in eine wesentliche technische Wunde, eine Erklärung, wie es hierzu überhaupt kommen konnte, unterlässt er aber wohlweislich. Denn diese Defizite könnten eben nicht nur der geringen Wirtschaftskraft Russlands geschuldet sein, die eine Beschaffung teurer und moderner Waffensysteme verhindert haben, sondern auch ein Ergebnis der westlichen Sanktionen seit 2014 sein. Seitdem fehlt es vor allem an moderner Elektronik für russische Waffensysteme, wie etwa für den T-14 Armata Kampfpanzer. Diese Umstände wären aber der Armee und Rüstungsindustrie nicht direkt anzulasten.

Seine weitere Kritik an den russischen Luftlandetruppen, einer der Eliteeinheiten in der russischen Armee, geht in meinen Augen am konkreten Problem vorbei. Diese können schon grundsätzlich nicht als „Ersatz-Infanterie“ eingesetzt werden, da ihnen im taktischen Bereich auf dem Gefechtsfeld grundsätzlich andere Aufgaben zukommen. Natürlich sind deren spezielle Luftlandepanzer mit ihrer dünnwandigen Panzerung ein leichtes Ziel für westliche Panzerabwehrsysteme, übrigens ein Problem aller leicht gepanzerten Ketten- bzw. Radfahrzeuge, auch der westlichen. Die in der Ukraine erlittenen Niederlagen und Verluste bei den Luftlandeoperationen z.B. rund um Kiew dürften aber wohl eher bei der Einsatzplanung, einer grob fahrlässigen Fehleinschätzung der ukrainischen Armee und der mangelnden Luftunterstützung bzw. Lufthoheit durch die russische Luftwaffe zu suchen sein.

Auch der Hinweis, dass die Ukraine sehr viel erfolgreicher Quadrocopter für die Zielerfassung ihrer Artillerie einsetzen würde, als es Russland tut, verfängt in meinen Augen nicht. Russland hat im Donbas-Konflikt seit 2014 gezielt kleinere taktische Orlan-10 Drohnen für die Zielerfassung seiner Artillerie erfolgreich gegen die Ukraine eingesetzt. Wie Bilder aus den Manövern Zapad 2017 und Vostok 2018 zeigen, verwenden die Aufklärungseinheiten in den Artillerieregimentern zudem Kleindrohnen vom Typ „Takhion“. Da fragt sich der geneigte Betrachter, warum dies auf einmal nicht mehr funktionieren soll.

Wie ein roter Faden zieht sich durch das gesamte Interview die Lieferung und der Einsatz von HIMARS-Raketenwerfern in der Ukraine. Immer wieder kommt Ruslan Puchow gerade auf dieses westliche Waffensystem zu sprechen, das Russland offensichtlich die meisten Verluste zufügt und vor ernsthafte strategische Probleme zu stellen scheint. Sollte also noch irgendjemand der Meinung sein, dass westliche Waffenlieferungen nichts ausrichten können, den belehrt dieses Interview eines Besseren.

Ebenfalls gibt Ruslan Puchlow zumindestens eine halb-offzielle Erklärung dafür ab, warum die russische Luftwaffe derart zurückhaltend in der Ukraine agiert. Es darf als überraschend bezeichnet werden, dass die russische Armee vor dem Einmarsch ihrer Bodentruppen nicht erst eine mehrtägige oder gar -wöchige Luftkampagne startete, um die ukrainische Flugabwehr, die Flugplätze sowie einen Großteil der Kampfflugzeuge auszuschalten und so die absolute Lufthoheit zu erringen. Dass selbst nach sechs Monaten Krieg die Ukraine weiterhin in der Lage ist, offenbar unbehelligt von der russischen Seite z.B. Luftangriffe im Süden und Südwesten auf russische Stellungen zu fliegen, ist bemerkenswert.

In seiner Analyse vermisse ich schließlich Aussagen zur völlig desolaten und unzureichenden Logistik der russischen Armee in der Ukraine. Nachdem sich die Truppen schon vor Kiew und Charkiw u.a. deswegen zurückziehen mussten, zeichnet sich nun durch den massiven Beschuss von russischen Verbindungslinien und Waffen- sowie Munitionsdepots zumindestens im Südwesten in der Oblast Cherson ein weiterer militärischer Rückschlag für Russland ab. Es stellt sich hier wohl die berechtigte Frage, ob Russland im Falle einer Generalmobilmachung überhaupt eine vielfach größere Zahl an Soldaten im Feld ausreichend versorgen könnte? Die Probleme der russischen Armee sind also nicht nur technischer, sondern auch grundsätzlich struktureller Natur. Denn Soldaten gewinnen Schlachten, Logistik aber gewinnt Kriege und Russland könnte seinen in der Ukraine deswegen verlieren.

Folgende Aussagen von Ruslan Puchlow finde ich besonders interessant:

  • Wir haben einen erheblichen Mangel an Infanterie. Die Front ist groß und es gibt nicht genug Einsatzkräfte für die militärische Spezialoperation.
    Abgesehen davon, dass dieser Umstand dem russischen Generalstab schon im Vorfeld längst bekannt gewesen sein dürfte, kann man diese Aussage auch als ein verstecktes Plädoyer für eine baldige Generalmobilmachung ansehen. Es war den Fachleuten schon von Anfang an unklar, wie Russland glauben konnte, mit nur 150.000 bis 180.000 Soldaten ein so großes Land wie die Ukraine, das fast doppelt so groß wie Deutschland ist, nicht nur militärisch anzugreifen, sondern auch dauerhaft besetzen zu wollen.
  • „Um es ganz offen zu sagen: Wir haben keine Luftüberlegenheit.“
    Die Aussage ist deswegen besonders beachtenswert, weil es dem militärischen Riesen Russland offensichtlich nicht möglich war und ist, dem Zwerg Ukraine mit seiner am Anfang des Krieges eher kleinen Luftwaffe die Lufthoheit abzuringen. Ob dies an der unzureichenden Planung im Vorfeld oder mit einer völligen Unterschätzung des Gegners zusammenhängt, wird erst eine spätere Aufarbeitung des Konfliktes zeigen.
  • „Es ist ja nicht so, dass wir sie mit Atomwaffen angreifen würden.“
    Mit dieser eher nebenläufigen Bemerkung gibt Ruslan Puchow zu erkennen, dass die von der russischen Regierung immer wieder ins Spiel gebrachte nukleare Option gegenüber der Ukraine, aber auch in Richtung Westen, wohl eher als Drohgebärde verstanden werden darf. Seine Aussage sollte man aber nicht so verstehen, dass Russland im Laufe des Krieges nicht doch noch zu dieser Option greifen könnte.
  • „Die Unterschätzung des Feindes hat uns in der Tat einen grausamen Streich gespielt.“
    Das freimütige Einräumen, die Ukraine militärisch unterschätzt zu haben, ist eine weitere wesentliche Aussage in diesem Interview und erklärt auf eine kurze, einfache und nüchterne Weise, warum Russland selbst nach sechs Monaten Krieg in der Ukraine immer noch nicht gesiegt hat.
  • „Im Gegensatz zu den Ukrainern sind wir mit Samthandschuhen in die militärische Spezialoperation gestartet. Das heißt, wir wollten sicherstellen, dass keine Einheimischen zu Schaden kommen. Wir haben die Feindseligkeiten als eine Art ritterliches Duell eröffnet. Dies ist jetzt, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein dreckiger Kampf in einer Gasse, in der es keine Regeln gibt.“
    Die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage -in dem ansonsten eher nüchternen Interview- verschlägt mir persönlich die Sprache. Sich als Aggressor in einer Opferrolle zu sehen, einen Angriffskrieg als „ritterliches Duell“ zu bezeichnen und eigene mutmaßliche Kriegsverbrechen indirekt damit zu rechtfertigen, dass die Ukraine ihre Verteidigung als dreckigen Kampf in einer Gasse ohne Regeln führe, lässt nur den Schluss zu, dass für die Ukraine ein Verhandlungsfriede mit Russland noch in weiter Ferne liegen dürfte.
  • „Bis zum Ende des Sommers könnte sich die Situation an den Fronten dramatisch zuspitzen. … Das heißt, irgendwann kann es zu einer Pattsituation kommen, wie im Koreakrieg im Jahr 1951, und unsere Armee wird einfach stehen bleiben und nicht weiter vorrücken können.“
    Sollte dieser Fall tatsächlich so eintreten, stellt sich für Russland die Frage, wie mit der Situation militärisch umgegangen werden soll. Eine Antwort bleibt Ruslan Puchow mal wieder schuldig. Auch hier stellt er indirekt eine notwendige Generalmobilmachung in den Raum, ansonsten bliebe Russland nur ein „Einfrieren des Konflikts“ oder der eventuelle Einsatz taktischer Atomwaffen übrig, um die Ukraine in einen Zwingfrieden zu treiben.

Ausblick

Die Aussagen von Ruslan Puchow stehen in einem krassen Gegensatz zu den Äußerungen von Herrn Brigadegeneral a.D. Erich Vad, der in den letzten sechs Monaten in unzähligen Interviews und Talkshows immer wieder dem deutschen Publikum gebetsmühlenartig erklärt hat, dass die Ukraine wohl keine Chance habe, sich erfolgreich gegen Russland militärisch zu verteidigen. Sie widerlegen aber auch die Thesen von Prof. Johannes Varwick, der sich in der Vergangenheit vehement gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hat. Auffällig ist es, dass ein Großteil der deutschen Medien, Tageszeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme des Magazins „Der Stern“, von diesem Interview bislang wohl kaum Notiz genommen hat.

Was aber die Wenigsten zurzeit beantworten können oder wollen, auch Ruslan Puchow nicht, ist doch die eigentliche Frage, wann und wie dieser Krieg in der Ukraine einmal enden soll? Welche Position wird die Ukraine dann einnehmen und kann ihre territoriale Integrität jemals wieder vollständig hergestellt werden? Wird sie ein neutraler Staat zwischen Russland und dem Westen, aber dennoch ein EU-Mitglied sein oder sogar irgendwann der NATO angehören, wie viele andere osteuropäische Staaten?

Vor allem, kann es eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur geben, in der Russland seinen Platz findet und in der der Westen dem Land wieder genug Vertrauen entgegenbringt, sich an das Völkerrecht und getroffene Vereinbarungen zu halten? Oder sind Russlands Absichten ganz andere und wir befinden uns spätestens seit dem 24.2.2022 bereits im Kalten Krieg 2.0, allerdings ohne Aussichten auf ein „Happy End“ wie in den 1990iger Jahren?

Quellen:

Konflikte & Sicherheit – Blog von Roger Näbig

Geboren 1961 in Berlin, verheiratet, zwei Kinder. Jura Studium an der FU Berlin (Völker- & Europarecht). Referendariat beim Kammergericht Berlin. Volljurist, seit 1993 als selbständiger Rechtsanwalt in eigener Kanzlei zugelassen (Zivil- & Strafrecht), Völkerrechtler (Sicherheits- & Verteidigungspolitik, Kriegsvölkerrecht, Rüstungstechnik).