Im Herbst 2015 beschlossen die Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit 17 Entwicklungszielen, den sogenannten SDGs. Mit diesem Aktionsplan „for people, planet and prosperity“ sollte eine umfassende „Transformation der Welt“ bis zum Jahr 2030 starten.
Am Ende des ersten Drittels der Zeit ist die Bilanz ernüchternd. Ohne massive Anstrengungen werden die SDGs 2030 überwiegend verfehlt. Spätestens nach der Pandemie muss die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Österreich wie in der EU auf der politischen Agenda ganz nach oben rücken, um den Rückstand noch aufzuholen.
UN-Agenda 2030 mit dem großen Versprechen einer besseren Welt
„Wir verpflichten uns, uns unermüdlich für die volle Umsetzung dieser Agenda bis im Jahr 2030 einzusetzen. … Wir bekennen uns dazu, die nachhaltige Entwicklung in ihren drei Dimensionen – der wirtschaftlichen, der sozialen und der ökologischen – in ausgewogener und integrierter Weise herbeizuführen.“
Große Worte der Staatengemeinschaft, denen überraschend wenig an Taten gefolgt ist. Ob globale, europäische, nationale oder regionale Ebene – die systematischen Umsetzungsversuche der Agenda 2030 blieben überschaubar. Dabei war einer der ersten Schritte überraschend konkret, nämlich die Festlegung auf 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung, die vielzitierten Sustainable Development Goals (SDGs).
Die SDGs tragen dem Umstand Rechnung, dass „Well-being“ bzw. ein gutes Leben der eigentliche Zweck des Wirtschaftens ist – und nicht etwa ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt (BIP). Zwar gibt es erhebliche Überschneidungen, allerdings geht beim BIP unter, wie dieses zustande kommt (Arbeitswelt), wer in welchem Ausmaß davon profitiert und wie nachhaltig gewirtschaftet wird (ökologisch und sozial).
Einige Aspekte eines guten Lebens verlangen darüber hinaus besondere Aufmerksamkeit, weil sie nicht automatisch zu einem höheren materiellen Wohlstand führen. Das betrifft individuelle Faktoren, klassische öffentliche Güter (wie eine intakte Umwelt oder Sicherheit) sowie die Güter und Dienstleistungen der Ökonomie des Alltagslebens (also die Deckung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Bildung oder Mobilität).
Stärkerer Fokus auf Wohlstand und Wohlergehen durch SDGs?
All diese Gesichtspunkte werden in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte nach wie vor zu wenig beachtet. Trotz zahlreicher Initiativen im letzten Jahrzehnt, die Wohlstand und Wohlergehen neu definierten und in den Mittelpunkt der (wirtschafts-)politischen Debatte rücken wollten, ist wesentlicher Fortschritt nach wie vor kaum festzustellen. Diesen charakterisieren Bache und Reardon wie folgt: „the idea of wellbeing is recognised as an important benchmark of progress, is internalised by key actors, is institutionalised in policy practices and leads to policy changes that have a significant effect on the lives of citizens“.
Eine Ausnahme stellt die OECD dar, die im letzten Jahrzehnt – anknüpfend an den Abschlussbericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission – mit ihrer Better Life Initiative die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen tatsächlich in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rückte. Diese Neuausrichtung zeigt sich mittlerweile auch in ihren Politikempfehlungen, sei es in ihren Länderberichten oder in der aktuellen Debatte, etwa wenn es um die Budgetpolitik nach der Corona-Krise geht.
Wenngleich die Agenda 2030 und die SDGs in den ersten fünf Jahren ihrem transformativen Anspruch noch nicht gerecht wurden, könnte sich das nun ändern. So widmen sich Wissenschaft und Zivilgesellschaft verstärkt den SDGs, zumindest formal auch die öffentliche Verwaltung. Nicht zuletzt der aktuelle AK-Wohlstandsbericht ist Ausdruck dieser Entwicklung. Verbessert hat sich zudem die Datengrundlage auf globaler, europäischer und nationaler Ebene.
Politische Umsetzung mangelhaft
Wesentliche Lücke besteht in der Politik. Auf globaler Ebene fehlt es an Steuerungsmechanismen und auf nationaler Ebene am politischen Willen, abseits von Lippenbekenntnissen Verantwortung für die globale Zielerreichung zu übernehmen. So überrascht es nicht, dass im Ergebnis bereits vor der COVID-19-Pandemie die erste umfassendere UN-Zwischenbilanz nicht sehr positiv ausgefallen ist. Die Erreichung vieler Ziele erscheint unwahrscheinlich, und es gibt mehr Unterziele mit Rückschritt als solche, die auf Zielkurs sind.
Besser ist es um die Verfolgung der SDGs auf nationaler Ebene bestellt. Aber auch hier dominiert der Schein. Das Engagement konzentriert sich auf das Erstellen von Monitoringberichten, deren Schwerpunkt die SDG-kompatible Darstellung eigener Erfolge ist. So hält die kritische SDGs-Zwischenbilanz des Global Policy Forum pointiert fest, dass manche Präsentationen der nationalen Fortschrittsberichte „eher den Charakter von Werbefilmen der heimischen Tourismusbehörden“ haben, während Zielabweichungen und Handlungsdefizite kaum zu finden sind. Dabei sind diese essenziell für politische Maßnahmen zur Zielerreichung. Diese Lücke versuchen zwar NGOs mit Schattenberichten zu füllen, doch bleibt deren Effekt bislang beschränkt. Österreich ist hier nicht viel anders, wenngleich gewisse Fortschritte zu verzeichnen sind.
Neue Dynamik auf europäischer Ebene
Ein stärkeres Momentum entstand in den letzten eineinhalb Jahren auf europäischer Ebene. Angesichts der globalen Relevanz der EU ist diese Ebene auch unerlässlich für die „Transformation der Welt“, da sie eine Vorreiterrolle bei der Festlegung hoher sozialer und ökologischer Standards spielen kann.
Mit dem Amtsantritt der neuen Kommission fanden die SDGs bzw. die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen stärker Eingang in zentrale politische Dokumente. Zumindest im Anhang ist nun auch in der laufenden wirtschaftspolitischen Ausrichtung im Rahmen des Europäischen Semesters der Fortschritt bezüglich der SDGs enthalten. Im Frühjahr zeigte sich dabei folgende Zwischenbilanz:
Schreibt man den Trend der vergangenen fünf Jahre fort (methodische Details im aktuellen Eurostat-Bericht), wird 2030 nur bei einem („friedliche und inklusive Gesellschaft“) der 17 SDGs wesentlicher Fortschritt festzustellen sein; bei allen anderen Zielen besteht zum Teil noch erheblicher Handlungsbedarf.
Corona-Krise: kurzfristig Rückschlag, aber Öffner für Möglichkeitsfenster?
Die COVID-19-Pandemie brachte eine dreifach negative Wirkung:
- Die bisher erzielten Fortschritte bei einzelnen SDGs werden zumindest zum Teil wieder zunichtegemacht (etwa bei der Armutsbekämpfung oder guter Arbeit).
- Der Reformprozess der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU, der eine bessere Verankerung von Wohlstand und Wohlergehen ermöglicht hätte, kam zum Stillstand.
- Die öffentlichen Haushalte wurden massiv belastet – erheblicher Konsolidierungsdruck könnte bei Reaktivierung der europäischen Budgetregeln nach der Corona-Krise Fortschritte erschweren.
Gleichzeitig mit den negativen Auswirkungen kam mit der Pandemie allerdings auch eine positive Entwicklung in Gang, die eine Beschleunigung der Transformationsbestrebungen im Sinne der Agenda 2030 in der EU ermöglichte – insbesondere punkto Klimaschutz. Hervorzuheben ist der Recovery Plan, mit dem kurzfristig erheblich mehr Mittel für das neue Leitprojekt bis 2030 – den sogenannten Green Deal – zur Verfügung stehen.
Positive Schritte ergänzen und verstetigen
Dieses Möglichkeitsfenster im Ausnahmemodus gilt es nun zu nutzen, ehe es sich wieder schließt. Negativszenario wäre eine rasche Rückkehr zur alten Normalität der wirtschaftspolitischen Steuerung, die insbesondere auf eine strikte Budgetpolitik fokussiert. Damit würde sich die Entwicklung nach 2009 wiederholen, als auf dem vorläufigen Höhepunkt der Debatte über eine sozial-ökologische Neuausrichtung die tatsächliche Agenda zunehmend von Kürzungsvorgaben bestimmt wurde.
Für ein positives Szenario bedarf es daher einer raschen Wiederaufnahme des Reformprozesses der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung. Eine solche Reform muss ambitioniert sein und die Steuerung auf eine möglichst breite Basis stellen, also unter Einbeziehung des Parlaments, der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Sie muss Debatten um „das Richtige“ innerhalb eines grundsätzlich geteilten, evidenzbasierten Rahmens ermöglichen, in dem dann – unter Berücksichtigung von Synergien und Zielkonflikten – je nach Interessen und Überzeugungen um die konkreten Schwerpunkte gerungen werden kann. Ein breites Set an Indikatoren – ähnlich dem SDGs-Datenset von Eurostat, mit Projektionen bis 2030 – soll die Entscheidungen stützen.
Abweichungen von den Zielen sollten nicht prinzipiell unter Strafe gestellt werden, sondern zu einer neuerlichen vertieften öffentlichen Debatte führen. Anstelle der verengten beratenden Expertengremien (wie Fiskalräten und nationalen Produktivitätsausschüssen) sollten plurale und interdisziplinäre Beiräte zukunftsgerichtete Analysen und Empfehlungen beisteuern, beispielsweise ähnlich der Allianz für nachhaltige Entwicklung in Italien.
Fazit: politischer Fokus auf SDGs gefragt
Die aktuelle Corona-Krise könnte ein neues Möglichkeitsfenster für eine gesellschaftliche Fokussierung auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen sein. Wenngleich mit dem Green Deal und dem Recovery Plan bereits Schritte in die richtige Richtung gesetzt wurden, so sind weitere Maßnahmen notwendig, um die SDGs bis 2030 zumindest überwiegend zu erreichen. Es hat sich gezeigt, dass gute deskriptive Monitoringberichte, eine engagierte Zivilgesellschaft und Debatten in ExpertInnenkreisen zwar wichtig, aber nicht hinreichend sind.
Zentral für die Erreichung der SDGs innerhalb der EU ist der angekündigte Reformprozess der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung. Es braucht das Engagement von Kommission, Rat und Parlament, die sich ernsthaft damit auseinandersetzen, was ihr Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen ist bzw. sein kann. Dabei darf der Horizont nicht an den Grenzen der EU enden, denn die Agenda 2030 ist eine globale Herausforderung – zu der die EU allerdings im besonderen Maße beitragen kann.