Ein neues Zeitalter der Aufrüstung

Quelle t-online Christoph Coeln – 22.3.22

Russland setzt im Ukraine-Krieg bereits eine neue Generation Waffen ein. Weitere militärische Eskalationen werden befürchtet. Der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn sieht ein neues Zeitalter der Aufrüstung gekommen. 

t-online: Herr Kühn, Russland hat im Ukraine-Krieg offenbar ein neues Waffensystem getestet, das als „Wunderwaffe“ gilt. Warum setzt Russland dieses System ausgerechnet jetzt ein?

Ulrich Kühn: Es kann sein, dass Wladimir Putin dem Westen damit seine Durchsetzungsfähigkeit und militärische Stärke demonstrieren will. Es kann aber auch etwas anderes sein, dass nämlich dem russischen Militär langsam die Hochpräzisionswaffen ausgehen und man deswegen solche Systeme einsetzt. Das wiederum wäre ein Zeichen der Schwäche, denn es würde bedeuten, dass sich die russischen Munitionsdepots leeren. Ganz genau wissen wir das noch nicht.

Handelt es sich denn wirklich um eine „Wunderwaffe“?

Die Idee ist so neu nicht, die gab es schon im Kalten Krieg. Das Neue an diesem System ist, dass die Kinschal wegen ihrer semiballistischen Flugkurve während der gesamten Zeit innerhalb der Atmosphäre fliegen kann. Zusammen mit der Manövrierfähigkeit, mit der die Kinschal angeblich ausgestattet ist, macht es das gegnerischen Abwehrsystemen sehr schwer, eine solche Rakete vom Himmel zu holen. Und wenn das Trägersystem dann noch mit Decoys ausgestattet ist, also mit Täuschobjekten, sinken die Abwehrchancen zusätzlich.

Hohe US-Militärs, wie der General John E. Hyte, sprechen davon, dass sich die Nato gegen diese Systeme nicht verteidigen kann. Das klingt einigermaßen beunruhigend.

Es ist nicht so, dass es auf westlicher Seite gar keine Abwehrmöglichkeiten gibt. Systeme wie die Patriot sind durchaus effektive Abwehrsysteme, die ausgelegt sind, um ballistische Raketen und ihre Flugkörper herunterzuholen. Ob das bei der Kinschal aber schon möglich ist, dafür gibt es derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse.

Dennoch schleicht sich ein Gefühl der Verwundbarkeit ein.

Der Krieg in der Ukraine wird unabhängig vom Einsatz dieser neuen strategischen Waffen zu einem Wiederaufflammen der Sicherheitsdebatte führen. Dabei geht es um die Frage, in welcher Form wir die Länder an der Ostflanke der Nato unterstützen, denn wir dürfen eines nicht vergessen: Durch den Ukraine-Krieg verschiebt sich die Karte. Bisher hatte die Nato eine Grenze mit Russland im Baltikum und in Polen. Jetzt verläuft die Grenze auch entlang von Ländern wie der Slowakei, Ungarn, Rumänien und, wenn man die Seegrenze im Schwarzen Meer dazuzählt, auch Bulgarien. Diese Länder werden mit gutem Recht fragen: Tut die Nato militärisch genug für unsere Sicherheit?

Welche Antwort sollten wir ihnen geben?

Wir werden sehr bald eine neue Stationierungsdebatte führen, wie man diese Länder konventionell rückversichern kann. Ganz konkret: Was müssen da für Verbände hingesetzt werden, wie viele Soldaten müssen dort stehen, welche Luftabwehrsysteme können und wollen wir dahin setzen? Das ist auch eine Kostenfrage, denn Luftabwehrsysteme sind kostspielig.

Es droht uns also eine neue Aufrüstungsspirale?

Ja, ich sehe leider eine klare Remilitarisierung auf Europa zukommen. Ob das Ganze einen Rüstungswettlauf bedeutet, wissen wir noch nicht. Aber ich möchte es nicht ausschließen. Und ich würde auch nicht ausschließen, dass die Nato irgendwann eine neue Debatte beginnt über die mögliche Stationierung nuklearer oder zumindest von Dual-Use-Systemen in Osteuropa, also solcher Systeme, die konventionelle und nukleare Sprengköpfe tragen können.

Putin wirft uns also in die Zeit des Kalten Krieges zurück?

Man muss das leider so sagen. Ich würde sogar sagen, dass wir uns in einer längeren Krise befinden, die unter Umständen schwerer sein wird als die Kuba-Krise 1962 und die eine klare nukleare Dimension besitzt.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin den Konflikt auch auf Nato-Gebiet ausweitet?

Momentan gibt es keine Anzeichen dafür, dass Putin oder sein Militär eine weitere Eskalation gegen die Nato forciert. Was ich aber sehe, ist die Gefahr unbeabsichtigter Eskalation. Beispielsweise an der Grenze der Ukraine zur Slowakei. Dort gibt es einen Flugplatz, der sehr nah an der Grenze liegt. Wenn Russland diesen Flugplatz mit Hochpräzisionslenkwaffen bombardieren sollte, kann es durchaus passieren, dass ein oder zwei davon auf Nato-Gebiet landen. Das passiert in einem heißen Krieg schon mal.

Dann würde der Bündnisfall nach Artikel 5 eintreten. Das würde aber nicht zwangsläufig eine nukleare Eskalation bedeuten.

Das ist richtig. Es gibt eine Hotline zwischen hochrangigen russischen und amerikanischen Militärs, um etwa ein solches Szenario wie mit der verirrten Rakete schnell aufzuklären. Die Chance einer nuklearen Eskalation ist momentan sehr gering, aber sie ist eben auch nicht bei null, und ich könnte mir vorstellen, dass sie in den kommenden Wochen noch steigt, je mehr Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Er muss Nuklearwaffen ja nicht unbedingt gegen die Nato einsetzen, er könnte sie auch gegen die Ukraine einsetzen.

Mit taktischen Nuklearwaffen?

Nuklearwaffen mit einer kürzeren Reichweite und unter Umständen auch einem kleineren Gefechtskopf, der eine geringere Sprengkraft hat. Aber was heißt in diesem Fall schon „klein“?

Es gibt keinen „kleinen“ Atomkrieg.

Ein Einsatz von Nuklearwaffen zum jetzigen Zeitpunkt würde bedeuten, dass wir ein 77 Jahre lang bestehendes Tabu gebrochen sehen würden. Das wäre das Schlimmste, was wir erleben könnten. Und ich hoffe sehr, dass das nicht passieren wird.

Wie sieht es mit einer Eskalationsstufe darunter aus, dem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen?

Nachdem der Krieg für Putin gar nicht nach Plan verläuft, Russland sich jetzt auf den Beschuss durch klassische Artillerie verlegt und dabei anscheinend auch thermobarische Systeme einsetzt, wäre das natürlich die nächste Eskalationsstufe. Was wir bislang noch nicht gesehen haben, ist der Einsatz chemischer Waffen, wie Russland es im Syrienkrieg gemacht hat. Aber es gibt zu denken, dass es von russischer Seite diese öffentlich vorgebrachten Lügen gibt, dass es angeblich B- und C-Waffenprogramme in der Ukraine gebe. Das sind klare Lügen. Die Uno hat sich dazu ja auch schon entsprechend geäußert. So was lässt natürlich die Möglichkeit offen, dass Russland False-Flag-Aktionen und möglicherweise C-Waffen einsetzt, um es dann der ukrainischen Seite in die Schuhe zu schieben. Auch das haben wir bereits in Syrien gesehen. Das wäre extrem schlimm. Natürlich zuerst für die Zivilbevölkerung. Es würde aber auch den Druck auf den Westen erhöhen, irgendetwas zu tun. Vor diesem Irgendetwas warne ich als jemand, der sich seit Jahren mit solchen Eskalationsdynamiken beschäftigt.

Weil?

Weil das in der Konsequenz bedeutete, dass die Nato mit Truppen in die Ukraine hineingehen, russische Stellungen beschießen und Präzisionsschläge gegen russisches Territorium vornehmen müsste. Und da wäre es dann angebracht, die Worte von Joe Biden zu wiederholen: Dann wären wir mitten im Dritten Weltkrieg.

Dr. Ulrich Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs „Rüstungskontrolle und Neue Technologien“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er ist außerdem ein Non-Resident Scholar des Nuclear Policy Program, Carnegie Endowment for International Peace, sowie Gründer und Ständiges Mitglied der trilateralen Deep-Cuts-Kommission. Vor seinem Wechsel zum IFSH arbeitete Ulrich Kühn für das Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation, die Helmut-Schmidt-Universität und das Auswärtige Amt.

Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine

Winfried Wolf: 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine (Auszüge)

Komplettfassung: alle 15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine Winfried Wolf

1

Die uneingeschränkte Verantwortung für den Ukraine-Krieg trägt die russische Regierung

Die russische Führung begann am Morgen des 24. Februar 2022 einen Krieg gegen die Ukraine. Es handelt sich um einen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land. Dieser Krieg ist ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Es gibt für ihn Ursachen, Erklärungen, Hintergründe – aber keinerlei Entschuldigung.

Von der russischen Führung ist der sofortige Rückzug hinter die russischen (und weißrussischen) Grenzen vom Stand 23. Februar 2022 zu fordern. Jede Stunde Fortgang des Kriegs kostet Menschenleben, zerstört unnötig Werte, richtet sich auch gegen die innerrussische demokratische Zivilgesellschaft, lässt das Ansehen der russischen Regierung gegen Null sinken, trägt zur weltweiten Hochrüstung bei, stärkt den weltweiten Militarismus und insbesondere den westlichen Imperialismus und gefährdet in wachsendem Maß den Weltfrieden – was die Menschheit an die Schwelle eines atomar geführten Kriegs führen kann.

Die Folgen der Auseinandersetzung für die Weltwirtschaft sind nicht absehbar; sicher ist, dass die weltweite Inflation gestärkt und der Anstieg der Energiepreise beschleunigt wird. Damit bezahlen die einfachen Leute einen erheblichen Teil der Kriegskosten.

Es ist Aufgabe der weltweiten Friedensbewegung, durch vielfältige Aktivitäten, nicht zuletzt durch Demonstrationen, unsere Antikriegspositionen und unsere Solidarität mit der Antikriegshaltung der Zivilgesellschaften in der Ukraine und in Russland zum Ausdruck zu bringen und Druck auf Russland auszuüben, die Truppen zurückzuziehen und wieder den Weg von Dialog und Verhandlungen zu beschreiten.

Gleichzeitig müssen wir uns gegen die Hochrüstungspolitik des Westens, der Nato, der EU, der Regierung in Berlin und gegen die Waffenlieferungen in die Ukraine, mit denen der Krieg verlängert und intensiviert wird, einsetzen.

Die Politik permanent gesteigerter Sanktionen ist abzulehnen; sie trifft in erster Linie die Bevölkerung in Russland. Sie zielt darauf ab, die russische Regierung zum Äußersten zu treiben und die Energieexporte in die EU zu stoppen. Sie nimmt die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise und eines Finanzcrashs mit unabsehbaren Folgen bewusst in Kauf. Vor allem steigert sie die Gefahr der Ausweitung dieses Kriegs hin zu einem Weltenbrand, zu einem atomar geführten Dritten Weltkrieg.

2

Wir, die Friedensbewegung, linke Gruppen und Parteien und fortschrittliche Publikationen, lagen falsch

Ein großer Teil der traditionellen Antikriegsbewegung – darunter die Zeitung gegen den Krieg selbst und ich als Person – haben sich getäuscht, als wir bis wenige Stunden vor Beginn des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine davon ausgingen, dass die russische Regierung nicht den Krieg sucht. Wir gingen fälschlich davon aus, dass die breit angelegten Manöver der russischen Streitkräfte im Grenzgebiet zur Ukraine und auf belorussischem Boden im Januar und bis zum 23. Februar lediglich der Versuch seien, damit Druck aufzubauen, um eine Verhandlungslösung – oder eventuell eine „Absicherung“ der „Volksrepubliken“ in der Ost-Ukraine, möglicherweise ergänzt um eine völkerrechtliche Anerkennung  der Integration der Krim in die Russische Föderation – zu erreichen.

Diese Fehleinschätzung hing eng zusammen mit dem bisherigen Verlauf der West-Ost-Konfrontation seit 1990/91, in dem Russland fast ausschließlich reaktiv agierte. Eine vergleichbare Einschätzung wurde auch in fortschrittlichen bürgerlichen Kreisen vertreten – stellvertretend hierfür genannt sei der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi oder der Industrielle und Top-Manager Oliver Hermes, Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft. Selbst die Regierung in Kiew ging bis zum 23. Februar nicht davon aus, dass eine direkte und flächendeckende Invasion durch russische Truppen stattfinden würde. Es gab nicht einmal eine Mobilmachung der ukrainischen Armee.

Trotz der vielen, die vergleichbar falsch lagen, gilt: Wir haben uns getäuscht. Diejenigen, auch Teile der Linken, hatten Recht, die von einem grundsätzlich aggressiven Charakter der Regierung Putin und davon ausgingen, dass Russland ein typisch imperialistisches Land sei.

Jenseits der Debatten über den Charakter des russischen Staates ist meines Erachtens davon auszugehen, dass es hier einen Umschlag von Quantität in eine neue Qualität gibt. Elemente eines solchen aggressiven Potentials in der Politik des Kreml waren auch früher zu beobachten; vorherrschend in der russischen Politik war jedoch bis Anfang 2022 das Berechenbare, die Ratio. Das scheint seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr der Fall zu sein.

3

Innere Dynamik in Russland, die zum Angriffskrieg führte

Es gibt eine Reihe von Ursachen für die Veränderungen in der russischen Politik. Diese wurzeln in starkem Maß in der aggressiven Politik des Westens.

An dieser Stelle ist es jedoch zunächst notwendig, die innerrussischen Ursachen hervorzuheben. In Russland gab es nach dem Zusammenbruch der nichtkapitalistischen oder „staatssozialistischen“ Sowjetunion im Jahr 1991 die Wiederherstellung einer kapitalistischen Wirtschaft.

Es handelt sich um einen Kapitalismus mit speziellen Ausprägungen: mit einer privatkapitalistischen Wirtschaft, die von zwei oder drei Dutzend Oligarchen kontrolliert wird, und die koexistiert mit einem starken staatlichen Sektor. Der letztgenannte staatliche Wirtschaftsbereich hat seine ökonomische Basis im staatlichen Rohstoffsektor und im militärisch-industriellen Komplex, wobei es enge Verbindungen zum in größeren Teilen staatlichen Finanzkapital gibt.[1] Dabei haben wir den Grundcharakter der russischen Gesellschaft nicht beschönigt. So wurde die politische Situation in Russland in der jüngsten Zeitung gegen den Krieg von Anfang Februar 2022 – verfasst also vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – wie folgt charakterisiert: „Russland ist ein autoritär regiertes Land, in dem die Menschenrechte verletzt und oppositionelle – auch kritische-demokratische – Medien ausgegrenzt und verboten werden. Die Schließung der verdienstvollen „Memorial“-Aufklärungsinstitution ist ein Beispiel.“[2]

Diese Grundeinschätzung hat sich mit der russischen Invasion in die Ukraine bestätigt. Sie wurde mit dem einstimmigen Beschluss der Duma vom 22. Februar, die beiden ostukrainischen „Volksrepubliken“ als „unabhängige Staaten“ anzuerkennen und der bizarren Sitzung des russischen Sicherheitsrats am 23. Februar dokumentiert. Auf diesem Treffen des Sicherheitsrats ließ Putin im Stil eines feudalen Alleinherrschers die Vertreter unterschiedlicher Dienste und Gremien förmlich antanzen und vorführen.

Putins Rede zur Begründung des Kriegs enthielt irrationale, absurde Passagen, so die Hinweise, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden beziehungsweise die Behauptung, an der Spitze der ukrainischen Regierung stünden „Drogenabhängige“.

Diese Rede war vor allem von einem großrussischen Chauvinismus geprägt, so wenn Putin die Eigenstaatlichkeit der Ukraine – die Moskau ja selbst 1991 anerkannt und mehr als ein Vierteljahrhundert lang akzeptiert hat – mit höhnischen Bemerkungen in Frage stellte. Und es war Wladimir Iljitsch Lenin, der vor diesem – historisch entwickelten – unmenschlichen Charakterzug in der russischen Politik gewarnt hatte.[3] Es passt dann in dieses Bild, dass Putin in derselben Rede zur Begründung des Kriegs eben diesen W. I. Lenin dafür verantwortlich machte, dass die Ukraine überhaupt sich als Staat herausbilden konnte.

Richtig ist: Die ukrainische Sprache war bis zum Sieg der Oktoberrevolution 1917 im zaristischen Russland unterdrückt und jede Form von Eigenstaatlichkeit des Landes und alle Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit waren abgelehnt worden. Es war die siegreiche Revolution von 1917 in deren Gefolge zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes Ukrainisch als Sprache anerkannt und die Ukraine sich als Republik – innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) – herausbilden konnte. Zweifellos gab es auch innerhalb der UdSSR Phasen einer russisch-chauvinistische Politik gegenüber der Ukraine, insbesondere in der Stalin-Ära. Es gab jedoch auch positive, dem entgegengesetzte Tendenzen. Bilanz: Das Gesamtbild ist widersprüchlich, auch wenn ukrainisch-nationalistische Personen wie Petro Poroschenko, Wolodymir Selenskyj und Vitali Klitchko dies nicht wahrhaben wollen.

4

Absolut verantwortungslos ist Putins Drohung mit einem Atomkrieg

In der Rede von Wladimir Putin zur Begründung des Kriegs gibt es eine Passage, in der er alle diejenigen, die sich „einmischen“ würden, mit drastischen Worten warnt. Russland würde sich für einen solchen Fall alle, auch äußerste Gegenmaßnahmen, vorbehalten. Putin hat damit faktisch erklärt, dass Russland gegebenenfalls Atomwaffen als Antwort auf eine solche „Einmischung“ einsetzen würde.[4] Es waren bislang der Westen und hier die Nato, die einen atomaren Erstschlag als „Prävention“ in ihre Militärstrategie einbezogen haben – und die einen solchen atomaren Erstschlag auch aktuell, im Rahmen der „Modernisierung der Atomwaffen“, als integralen Bestandteil der Militärstrategie sehen. Bisher hat einzig die US-Regierung mit den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 das zivilisatorische Tabu des Einsatzes von Atomwaffen gebrochen.

Wenn die Regierung in Moskau nun ihrerseits zumindest indirekt mit einem atomaren Erstschlag (als „Antwort“ auf welche Art „Einmischung“ auch immer) droht, so ist dies verbrecherisch.

Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen. Sie richten sich von ihrem Charakter her immer gegen die Zivilbevölkerung, da sie unterschiedslos menschliches (und anderes) Leben in einer großen Region töten. Unser grundsätzliches Nein zu Atomwaffen gilt selbstverständlich auf Weltebene. Die indirekte Drohung, diese einzusetzen, wird von uns in aller Schärfe verurteilt. Mit dieser Drohung wurde es auch der US-Regierung und der Nato erleichtert, an der Eskalationsspirale zu drehen.

5

Westliche Aufrüstung und Einkreisungspolitik

Um es nochmals klarzustellen: Die Verantwortung für den aktuellen Krieg liegt allein bei der russischen Führung; für sie sind der russische Präsident Wladimir Putin und seine enge Umgebung direkt verantwortlich. Diese Festzustellung muss ergänzt werden um eine Kritik an der Politik des Westens. Die irrationale Reaktion Putins erfolgt als Reaktion auf eine rationale, kriegstreiberische Politik der Nato. Eine solche Politik ist auf fünf Ebenen zu erkennen:

Erstens gibt es den Bruch der Vereinbarungen von 1990, die Nato nicht nach Osten auszuweiten.[5] Seit 1990 gab es eine systematische Ausweitung dieses Militärbündnisses in Richtung der russischen Grenzen – mit einer Erhöhung der Zahl der Nato-Mitgliedsländer von 16 im Jahr 1990 auf aktuell 30. Dies musste von Russland als Politik der Einkreisung empfunden werden.

Zweitens gibt es eine systematische westliche Politik der Militarisierung entlang der östlichen Grenzen Russlands durch die Stationierung von Nato-Truppen und Raketensystemen (u.a. in den baltischen Staaten und in Rumänien), durch die Aufrüstung der Ukraine und durch eindeutig gegen Russland gerichtete Manöver“ („Defender 2020“ und die beiden nachfolgenden „Defender“-Großmanöver 2021 und 2022).

Drittens haben die USA einseitig Abrüstungsverträge gekündigt, die gegen Ende der Sowjetunion bzw. direkt nach 1990 abgeschlossen wurden.

Viertens setzte der Westen spätestens seit Ende der 1990er Jahre zu einem neuen Wettrüsten an, das Parallelen zu dem Wettrüsten in den 1980er Jahren aufweist und das auf ein Totrüsten hinausläuft. Im vergangenen Jahr 2021 lagen die Nato-Rüstungsausgaben beim Sechszehnfachen der Rüstungsausgaben Russlands – Tendenz bei diesem Abstand steigend. Das „2-Prozent-Ziel“, das bereits vor einigen Jahren von allen Nato-Mitgliedsländern beschlossen wurde, dient der Steigerung dieses Rüstungswettlaufs. (Zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts sollen für Rüstung ausgegeben werden).

Und schließlich fünftens haben die USA – begleitet von den Atommächten Großbritannien und Frankreich – mit dem seit einem Jahrzehnt betriebenen Projekt „Modernisierung der Atomwaffen“ einen atomaren Rüstungswettlauf in Gang gesetzt. Die deutschen Regierungen unter Angela Merkel und aktuell unter Olaf Scholz unterstützten und unterstützen diesen Prozess, indem sie auch einer Stationierung „modernisierter“ Atomwaffen auf deutschem Boden und der Fortsetzung der Politik der „atomaren Teilhabe“ zustimmen und für deren Einsatz neue Kampfflugzeuge ordern wollen. Das heißt: Auch vor dem 24. Februar 2022 stand fest, dass die Bundeswehr sich aktiv an einem gegen Russland gerichteten atomaren Krieg beteiligt.

6

Unverantwortliche Politik in Kiew

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat als einen Hintergrund die Rechtsentwicklung und die antirussische Politik in Kiew.

Bis 2014 gab es in Kiew eine offizielle Politik, mit der der Ost-West-Konflikt weitgehend ausbalanciert wurde. Das trug dem Charakter der Ukraine als einem großen Grenzland zu Russland, als einem Land, in dem mindestens 30 Prozent ethnische Russinnen und Russen sind und in dem rund 50 Prozent im Alltag russisch reden, Rechnung.

2014 gab es mit dem Sturz der Regierung Wiktor Janukowytsch und der Verhinderung einer – damals noch mit der Zustimmung Moskaus und Berlins getroffenen – Vereinbarung, wonach es in einem angemessenen zeitlichen Abstand Neuwahlen geben würde – einen vom Westen massiv unterstützten „regime-change“, der einem Staatsstreich gleichkam.

In einer unmittelbaren ersten Reaktion beschloss die 2014 neu gebildete, westlich orientierte Regierung in Kiew, Russisch als zweite Amtssprache abzuschaffen. Es kam im Gefolge zu massiven, gewalttätigen Akten gegen die russische Minderheit. Einen abstoßenden Höhepunkt bildeten dabei die Vorgänge in Odessa am 2. Mai 2014. Damals wurden mehr als 40 Personen im Gewerkschaftshaus von einem ukrainisch-nationalistischen Mob eingeschlossen, das Gebäude wurde in Brand gesetzt; 42 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib beziehungsweise beim Sprung aus dem brennenden Gebäude. Erst im Kontext dieser Ereignisse kam es zur Abspaltung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ostukraine. 2015 wurde das „Minsker Abkommen“ geschlossen, an dem Frankreich, Deutschland, die Ukraine und Russland beteiligt sind.

Gemäß diesem Abkommen sollte den beiden überwiegend russisch-sprachigen Bezirken in der Ostukraine eine Teilautonomie zugestanden und die Verfassung der Ukraine entsprechend geändert werden. Danach sollte es, auf dieser Basis, regionale Wahlen geben und die abtrünnigen Regionen wieder in den Staat Ukraine voll integriert werden. Die drei Regierungen, die es seither in Kiew gab, weigerten sich jedoch sieben Jahre lang, das Minsker Abkommen umzusetzen – unter anderem, indem sie es ablehnten, sich mit den Vertretungen der Volksrepubliken auch nur an einen Tisch zu setzen. Und die westlichen Signatarmächte Deutschland und Frankreich übten keinen größeren Druck auf Kiew aus, dieses Abkommen umzusetzen.

Es gab schließlich in den Monaten vor Kriegsbeginn eine Reihe ukrainisch-nationalistischer Akte, die das Klima anheizten und die in Moskau als Provokation empfunden werden mussten.

Ende Februar 2022 sollte probeweise das ukrainische Stromnetz mehrere Tage lang vom russischen Stromverbund abgekoppelt werden; spätestens 2023 sollte die Ukraine dann unabhängig vom russischen Stromnetz sein und im Übrigen möglichst Strom nach Westen exportieren. 55 Prozent des ukrainischen Stroms basieren auf Atomenergie. Dieser Anteil soll deutlich ausgebaut werden, wovon vor allem die französische und die US-amerikanische Atomindustrie profitieren will.

Als provokativ antirussisch empfunden wird vor allem das 2019 beschlossene Gesetz, wonach in der Ukraine alle Publikationen, die in russischer Sprache erscheinen, zugleich in ukrainischer Sprache publiziert werden müssen.

Dieses Gesetz, das Anfang 2022, kurz vor Kriegsbeginn, Gültigkeit erlangte, bedeutet das Aus für ein halbes Hundert Zeitungen, Zeitschriften und Verlage, die in erster Linie in russischer Sprache publizieren. Die antirussische Politik, die die Regierungen in Kiew betreiben, mündete darin, dass in die Verfassung der Ukraine das Ziel eines Nato-Beitritts hineingeschrieben wurde. Das heißt, ein Land, dessen Name übersetzt „Grenzland“ bedeutet, will sich direkt an der Grenze zu Russland einem gegen Russland gerichteten Militärbündnis anschließen.

Putins Ausfälle gegen Kiew, in denen von „Nazis“ und „Faschisten“ die Rede ist, sind in der vorgetragenen Form absurd. Sie finden allerdings eine gewisse Basis in der Tatsache, dass es in der Ukraine spätestens seit 2014 eine offene Ehrung faschistischer und antisemitischer Personen und Gruppen gibt, dass in dem Land offen faschistische Kräfte geduldet werden, solche auch in die ukrainische Arme aufgenommen wurden.

Das trifft zu auf das sogenannte Asow-Bataillon, inzwischen Teil der ukrainischen Armee, dessen Kommandant Andrij Biletzki den Kampf gegen die ostukrainischen Volksrepubliken als einen „Kreuzzug für die weiße Rasse […] gegen die von Semiten geführten Untermenschen“ ausgerufen hat.[6] Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, der in den Tagen des Krieges in vielfacher Form in allen deutschen Medien als großer Demokrat präsentiert wird, ging während der Maidan-Proteste 2014/15 eine Allianz mit der rechtsextremen und antisemitischen Swoboda-Partei ein. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, die Klitschko und seine Partei UDAR seit vielen Jahren massiv fördert, ging deshalb auf eine gewisse Distanz zu Klitschko; die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kritisierte Klitschko deshalb massiv. In der Ukraine wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten an vielen Orten Hunderte Stepan-Bandera-Statuen aufgestellt. In Kiew wurde – ebenfalls betrieben vom Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko – der „Moskau Prospekt“ in „Stepan Bandera-Prospekt“ umbenannt.

Stepan Bandera war ein ukrainischer Nationalist, Faschist, Kriegsverbrecher und glühender Antisemit, der mit dem NS-Regime zusammenarbeitete und dessen ukrainischer Kampfverband OUN (bzw. OUN-B) an der Ermordung von Tausenden Jüdinnen und Juden und Polinnen und Polen beteiligt war. Gegen die vielfältigen Ehrungen von Bandera in der Ukraine protestierten die Regierungen in Warschau, Moskau und Tel Aviv.

Wiederaufrüstung ist das Wort der Stunde – Ist der Pazifismus endgültig passé?

Philosophischer Stammtisch – Give peace a chance – Aber wie? | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur33.885 Aufrufe – 21.03.2022

Wiederaufrüstung ist das Wort der Stunde. Mit Putins Invasion der Ukraine scheint Pazifismus endgültig passé: Aggressoren kann man nur militärisch besiegen oder abschrecken, Gewalt nur mit Gegengewalt beenden. Notwendige Einsicht oder fataler Fehlschluss?

Russlands Invasion der Ukraine wird als Zeitenwende beschrieben. Vorbei der Glaube an einen Kontinent des Friedens durch Völkerrecht und Handel. Geschlossen wird die Notwendigkeit zur Wiederaufrüstung und zu harten Wirtschaftssanktionen betont. Selbst die Schweiz trägt die EU-Sanktionen mit; das neutrale Schweden beschliesst Waffenlieferungen. Fast scheint es, als sei Pazifismus im Angesicht des Grauens endgültig passé, das Pochen auf gewaltfreien Widerstand nichts als der naive Traum verweichlichter Gemüter, die Friedensbewegung ein Relikt vergangener Tage.

Doch lässt sich Gewalt nur mit Gegengewalt wirksam begegnen? Das eigene Land und dessen Werte letztlich nur kriegerisch schützen? Oder zeigt nicht gerade der Krieg in der Ukraine, dass militärische Gewalt selbst im Verteidigungsfall die schlechteste aller Lösungen ist, weil sie das Leiden der Bevölkerungen verlängert und intensiviert? Give peace a chance – aber wie?

Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger diskutieren am Philosophischen Stammtisch mit dem Philosophen Wilfried Hinsch und der Publizistin Elke Schmitter.

Sternstunde Philosophie vom 20.03.2022

Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“ – Interview mit Wolfram Wette

Quelle: Kontext  Ausgabe 572 Gesellschaft

Von Oliver Stenzel (Interview)

Datum: 16.03.2022

Ukrainekrieg und Militarismus – „Diesen Krieg hätte man verhindern können“

Pazifismus und Engagement gegen Aufrüstung haben gerade wenig Konjunktur, bleiben aber wichtig und richtig, meint der Historiker Wolfram Wette. Ein Gespräch über die Friedensbewegung, Kriegsprävention und die Gefahren einer Militarisierung der Welt als Folge des Ukrainekriegs.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, gilt als einer der renommiertesten Militärhistoriker Deutschlands – mit einem für sein Fach ungewöhnlichen Schwerpunkt: Er forschte intensiv zu Kriegsprävention und Pazifismus. Von 1975 an arbeitete er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, ab 1998 war er Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Wette ist Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung und unter anderem Mitglied des pazifistischen Arbeitskreises Darmstädter Signal sowie des Vereins „Gegen Vergessen – für Demokratie“. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933“ und „Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914“, beide erschienen im Donat-Verlag.  (os)

Herr Wette, in der Friedensbewegung herrscht wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine Ratlosigkeit. Ist momentan eine schlechte Zeit für Pazifisten?

Auf den ersten Blick haben wir es mit einem Scheitern des Projekts „Ernstfall Frieden“ zu tun, das an Gustav Heinemanns Satz anknüpft: „Der Frieden ist der Ernstfall!“ In der Friedensbewegung ist man schockiert und stellt sich die Frage: Haben alle, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für ein dauerhaftes Friedensprojekt gearbeitet haben, etwas falsch gemacht?

Haben sie? Oder anders: Was war richtig, was falsch?

Zunächst: Eine moderne Friedensbewegung muss man wohl mit dem Buchenwald-Schwur „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ beginnen lassen. Diese Forderung richtete sich an jene, die in der Vergangenheit Krieg zu verantworten hatten, und das waren die Deutschen selbst. Es war ein Appell an die Bevölkerung zu begreifen, dass wir ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufschlagen müssen.

Die Friedensforderung war also nach innen gerichtet.

Nach innen, es ging um eine Mentalitätsveränderung, weg von einer militaristischen, hin zu einer demokratisch-friedlichen. Daran haben nach 1945 Generationen gearbeitet. Es gab Bewegungen von unten, die sich der Remilitarisierung Deutschlands entgegengestellt haben, es gab aber auch ein großes Lernen in den politischen Eliten, die sich von kriegerischen Überlegungen verabschiedeten und sagten: Zukunft ist nur noch mit Sicherheitspolitik zu gestalten, das heißt mit Kriegsverzicht.

Darauf aufbauend, haben wir Jahrzehnte erlebt, in denen das militärische, machtpolitische Denken in die Defensive geraten und sich neue Mehrheiten für friedlichere Lösungen gefunden haben. Machtpolitisch geprägte Menschen haben das als „postheroisch“ zu verunglimpfen versucht, nach dem Motto: Wer von militärischer Macht nichts versteht, soll gefälligst von der Politik die Finger lassen. Doch eine große Mehrheit hat im Sinne Heinemanns begriffen: Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall. Jetzt wird diese fundamentale Einsicht massiv in Frage gestellt.

Das Friedensprojekt, das stark nach innen gerichtet war, ist nun herausgefordert durch einen Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht. Wie reagiert man darauf?

Im aktuellen Krieg in der Ukraine ist die Kriegsschuldfrage zunächst einmal klar: Russland hat, aus welchen Gründen auch immer, das Land überfallen. Aber alle anderen Probleme, die damit zusammenhängen, scheinen aktuell wenig interessant zu sein. Es drängt sich der Eindruck auf, als falle die lange Vorgeschichte von Putins Aggression der offensichtlichen Kriegsschuld Putins zum Opfer. Eine wirkliche Analyse der Kriegsursachen gibt es zurzeit nicht.

Ein Versäumnis in ihren Augen?

Stets ist zu fragen, ob mit jedem Krieg, der beginnt, die Diplomatie versagt hat, oder ob in der Vorgeschichte die Fehler zu suchen sind. Zurzeit ist es unpopulär, solch eine Frage überhaupt zu stellen.

Aber ich bin überzeugt: Auch dieser Krieg hätte verhindert werden können. Kriege sind keine übernatürlichen Erscheinungen, keine Schicksale. Kriege sind Menschenwerk, deshalb gilt grundsätzlich: Auch die Kriegsverhinderung ist Menschenwerk und damit der Erhalt des Friedens möglich – eine mehr als wichtige Aufgabe.

Nun hört man sagen, Putin hat den Krieg gewollt, ergo ließ er sich nicht verhindern. Aber so ist es eben nicht, Putin hat eine Entwicklung durchgemacht. Die zurückliegenden Jahrzehnte sind dabei von allergrößter Bedeutung, wenn man verstehen will, was jetzt los ist. Zum Beispiel habe ich die Beobachtung gemacht, dass die Rolle der USA nach dem Kalten Krieg, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Bildung der neuen Länder, die zuvor zur Sowjetunion gehört hatten, die NATO-Osterweiterung mit ihren verschiedenen Etappen, dass all das fast völlig außerhalb jeder Diskussion ist. Darauf ist aufmerksam zu machen, ohne gleich ein abschließendes Urteil darüber abzugeben.

Auch ohne abschließendes Urteil: Wo hätte der Westen aufmerksamer sein müssen?

Es hätte größere Aufmerksamkeit auf die Bedrohtheitsgefühle der Russen gerichtet werden müssen. Wenn man sich selbst sagt, ich bedrohe doch niemanden, ist das nur die eine Seite des Problems. Wenn der andere sich bedroht fühlt, ist das die andere Seite. Deshalb ist in der Friedens- und Konfliktforschung viel von Bedrohtheitsvorstellungen und -gefühlen die Rede – weil das eben subjektive, aber auch kollektive Empfindungen sind, die man ernst zu nehmen hat – und das ist nicht genügend getan worden.

Hätte nach dem Ende des Kalten Kriegs mehr Augenmerk auf eine globale Friedens- oder Sicherheitspolitik gelegt werden sollen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die „Nie wieder Krieg“-Parole im Wesentlichen auf das bis dahin aggressive Deutschland ausgerichtet. Die Siegermächte – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – haben zwar auch die UNO-Charta unterschrieben, die auf Krieg verzichtet, in der Praxis gleichwohl immer wieder Krieg geführt und das militärische Instrument als relativ normales Mittel der Politik eingesetzt. Es gab den Korea-Krieg, den Vietnam-Krieg, den Afghanistan-Krieg der Russen, den des Westens, die Suez-Krise, den Falklandkrieg und viele andere – da war keine gebrochene Tradition wie in Deutschland, sondern eine Kontinuität von militärisch gestützten Interessen.

Dennoch gehörte, Sie haben es erwähnt, die Forderung „Nie wieder Krieg“ auch zu den Grundlagen der Charta der Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 1944. Nun war die UNO in den letzten Jahrzehnten mit Kriegsprävention nicht sehr erfolgreich. Müsste versucht werden, sie wieder zu stärken?

Die Versuche, den Krieg rechtlich einzudämmen, gehen noch weiter zurück. Der Versailler Vertrag 1919 hat eine wichtige Rolle gespielt, der Briand-Kellogg-Pakt von 1929, der das Verbot des Angriffskrieges beinhaltete, galt weltweit als ein Fanal für die Zukunft. Es hat sich nur später herausgestellt: So schön es ist, dass man den Angriffskrieg ächtet und mit internationalen Gerichten darüber wacht, es ist sehr schwer, ihn überhaupt zu definieren und später juristisch zu fassen. Denn spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden alle militärischen Handlungen auf der Welt, ganz egal, wie sie aussehen, immer als Verteidigung ausgegeben. Ob am Hindukusch, am Suezkanal, auf den Falklandinseln oder sonst irgendwo, alle haben immer nur verteidigt.

Auch jetzt wieder.

Der russische Außenminister Lawrow sagte vor kurzem in Antalya – eigentlich ganz im Sinne der deutschen Führung von 1941, die behauptet hatte, Deutschland sei mit seinem Überfall auf die Sowjetunion nur einem Angriff der Roten Armee zuvorgekommen, habe also einen Präventivkrieg begonnen –, Russland sei das eigentliche Opfer. Der Westen habe mit scharfen Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine „wie ein Tollwütiger“ reagiert, es gehe dem Westen um eine Aggression gegen alles, was russisch ist. Die Schuldumkehr ist ein beliebtes Mittel von Aggressoren. Das macht die Schwierigkeit der rechtlichen Einhegung von Kriegen aus. Ich glaube, das Problem liegt tiefer.

Und zwar wo?

Man muss zum Frieden bereit sein, es kommt ganz maßgeblich auf den Willen zum Frieden an. Für mich war erhellend, was der kenianische Uno-Botschafter Martin Kimani am 23. Februar gesagt hat: Alle unsere Grenzen in Afrika sind durch Kolonialregime gezogen worden. Wir empfinden das als ungerecht und unmöglich, trotzdem haben wir uns entschlossen, die Grenzen zu akzeptieren. Alles andere hätte keine Zukunft. Es läge ein Jahrhundert von afrikanischen Kriegen vor uns, wenn wir es anders machen würden.

Also der Grundsatz, dass man endlich mal die Grenzen als unverrückbar betrachtet und keine Politik mehr mit Krieg betreibt, wenn das alle akzeptieren würden, dann wären wir schon weiter. Aber das ist jetzt von Russland nicht akzeptiert worden. Welch abenteuerliche Vorstellung, die Ukraine sei eigentlich kein Staat; das ist eine Revitalisierung geopolitischer Ansichten – ein Rückfall in Eroberungspolitik früherer Zeiten.

Die internationalen rechtlichen Institutionen, zu denen auch Grenzen gehören, scheinen es also im Moment nicht richten zu können. Sobald ein Akteur den Friedenswillen nicht teilt, sind Krisen und Konflikte möglich.

Es besteht die große Gefahr, dass es international zu einer gravierenden Neuorientierung kommt. Solche Stimmung wie in der Bundestagssondersitzung am 27. Februar, wo man sich in einem bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaß darüber einig war, dass die Rüstungsanstrengungen in Deutschland zu verdoppeln sind, verbunden mit ähnlichen Stimmungen in anderen Ländern, die sich bedroht fühlen, das wirkt wie ein Signal, dass die Devise jetzt weltweit nicht mehr Frieden heißt, sondern Vorbereitung auf kriegerische Auseinandersetzungen. Und immer wo aufgerüstet wird, entstehen Feindbilder – und frohlocken die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes. Da werden die Diplomaten weniger wichtig – und Friedensbemühungen eher belächelt als bestärkt. Man geht einen hochgefährlichen Weg in militärische Eskalationsspiralen hinein mit der Folge, dass genau das geschieht, was wir eigentlich nach 1945 als großes Lernziel vermeiden wollten.

Blicken wir genauer auf Deutschland: Sie haben einmal den Kosovokrieg als Präzedenz- und Sündenfall zugleich bezeichnet, weil es erstmals der Einsatz der Bundeswehr in einem Angriffskrieg war. Sind jetzt die Waffenlieferungen für einen kriegführenden Staat, verbunden mit dem Bekenntnis zu Aufrüstung, für Sie auch ein Präzedenz- und Sündenfall?

Also, es ist zunächst einmal ein Bruch mit allem, was man bisher verkündet hat. Man hat in der Bundesrepublik ja schon seit den 1950er Jahren Waffenexport betrieben, aber gleichzeitig gesagt, spätestens ab den Siebzigern, wir wollen es nur sehr restriktiv handhaben, wollen nicht an kriegführende Länder liefern, nicht in Spannungsgebiete, nicht an Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Trotz dieser Beschränkungs-Rhetorik sind weiter massiv Waffen verkauft worden, selbst an kriegführende Länder, zuletzt an Saudi-Arabien, das mit dem Jemen im Krieg steht. Man hat also die Grundsätze stets unterlaufen, und alle Anstrengungen, das zu unterbinden, haben bis jetzt nicht zum Erfolg geführt. In dieser Kontinuität gesehen sind die Waffenlieferungen an die Ukraine nur teilweise eine Neuigkeit. Damit ist die Tradition der angeblich restriktiven Rüstungsexportpolitik nun endgültig kassiert.

Und kommt auch nicht wieder?

Dass man jetzt Waffen in die Ukraine exportiert, heißt ja keinesfalls, dass es falsch war, gegen die Exporte von Rüstung zu sein und zu argumentieren. Es bleibt dabei, dass mit Waffen zugleich die Option für Kriegführung exportiert wird; dass eine Welt, die vollgepumpt ist mit Waffen aus den Industrieländern, immer gefährlicher wird. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass man ein neues Rüstungsexportgesetz nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa etablieren will, womit endlich die Restriktionen auch durchsetzbar seien. Für all das gibt es natürlich zurzeit wenig Grundlage.

Welche Folgen könnte das haben?

Ich habe die Befürchtung, dass der enorme Aufrüstungssprung in der Bundesrepublik Wellen auslöst mit Militarisierungstendenzen in der ganzen Welt und dass eine reale Steigerung von Sicherheit dabei nicht herauskommt. Langfristige Sicherheit ist nur möglich, wenn sich alle Kräfte darauf richten, die internationale Vernetzung – eine strukturelle Basis von Frieden – und den politischen Willen zu Gewaltverzicht miteinander zu verbinden. Es kann ja sein, dass das nicht gelingt, aber dann sähe es übel aus. Das ist die Alternative, die wir haben und die ich sehe: Einerseits eine Militarisierung der Welt, ein neuer kalter Krieg, mit der Gefahr eines realen Krieges, oder wieder Anknüpfung an die vielen positiven Erfahrungen, die wir auch mit der Pazifizierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte gemacht haben.

In Ihrem Buch „Militarismus in Deutschland“ von 2008 haben Sie konstatiert, dass Sie keine breitflächige Militarisierung sehen in der Gesellschaft, dass der „Humus für die Entwicklung eines neuen Militarismus“ noch fehle. Sehen Sie das immer noch so?

Im Moment ist das noch schwer durchschaubar. Ich habe nur in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet, dass die Abneigung gegen alles Kriegerische und damit auch die Distanz zum Militär immer mehr gestiegen ist, und das korrespondierte ja mit einer sich verfestigenden pazifistischen Grundeinstellung in der Bevölkerung. Ob sich die Haltung eines großen Teils der Bevölkerung – wir sprechen von 80 Prozent – jetzt durch den Ukrainekrieg geändert hat, ist durch Meinungsumfragen meines Wissens noch nicht ermittelt.

Der Soziologe Harald Welzer scheint zumindest pessimistisch zu sein: Er sieht in einem taz-Interview „einen totalen Rollback“, beklagt Militarisierung von Sprache und womöglich auch von Mentalitäten. Und tatsächlich hat sich die Sprache – in den Medien – ja schon teilweise geändert, hin zu einer gewissen Pathetisierung und Emotionalisierung des Krieg-Führens. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der medialen Berichterstattung über frühere Kriege so viele „Helden“ unterwegs waren, dass der Widerstand einer Kriegspartei nicht etwa „hartnäckig“, sondern „heldenhaft“ oder „tapfer“ war. Künden diese sprachlichen Veränderungen schon von einer neuen Militarisierung?

Wir haben ja viel Erfahrung mit den Helden in Deutschland. Hier war der Held über das kriegerische 20. Jahrhundert hinweg keineswegs der, der einen Strauchelnden aus dem Wasser gezogen und ihn damit gerettet hat. Sondern Held war zumeist, wer sich unterwürfig in das militärische Ordnungssystem eingepasst und Krieg geführt hat. Das heißt, für mich ist der Begriff des Helden in Deutschland mit sehr negativen Begleiterscheinungen verknüpft, keinen positiven. Wenn heute der ukrainische Präsident Selenskyj zum „heldenhaften Widerstand“, zur Verteidigung des ukrainischen Vaterlandes aufruft, dann hat das doch eine etwas andere Konnotation. Das sollte man beachten. Aber die Sprache ist immer der Vorbote und Ausdruck dessen, was unter der Zunge liegt.

Bemerkenswert ist auch, dass im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg ein teils sehr sorgloser Umgang mit einigen Begriffen stattfindet: Dass etwa der CDU-Politiker Norbert Röttgen häufig davon spricht, Putin führe einen „Vernichtungskrieg“, auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang hat sich schon so geäußert. Der Begriff wurde ja bislang eher auf Kriege wie den deutschen Überfall auf die Sowjetunion gebraucht.

Das Verwenden dieses Begriffes und anderer Begriffe belegt für mich, dass eine Ent-Historisierung sich Raum greift, dass viele Menschen heute gar nicht mehr wissen, was für einen Charakter der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion hatte. Man weiß wohl, dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte. Aber dass es zugleich ein systematischer Vernichtungskrieg war – wobei „Vernichtung“ eben nicht nur die Schäden meint, die durch einen einzelnen militärischen Angriff auf ein Objekt geschehen, sondern eine flächendeckende, planmäßige Vernichtung von Bevölkerung und von Infrastruktur, um auf dem eroberten Gebiet ein neues Herrschaftssystem mit neuen Menschen aufzubauen. Und das nun leichtfertig mit Zerstörungen zum Beispiel von Hochhäusern in der Ukraine in Verbindung zu bringen, ist historisch unzulässig. Jenes Ausmaß an Vernichtungswillen, das vom damaligen nazistisch infizierten Deutschland ausgegangen ist, das haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherlich nicht.

Ist das schlicht historische Unkenntnis oder ein bewusst fahrlässiger Gebrauch des Begriffs?

Ich fürchte, das ist Ausfluss eines reaktivierten Feindbilddenkens. Es passt alles in die Schablone: Der aggressive russische Bär im Osten, der uns bedroht, dem alles Böse zuzutrauen ist, diese jahrhundertealte Vorstellung. Außerdem: Wenn man einen Begriff wie „Vernichtungskrieg“ verwendet für das, was aktuell im Ukrainekrieg passiert, dann ist das eine Relativierung und Verharmlosung des deutschen Vernichtungskrieges von 1941 bis 1944. Das ist genauso zu kritisieren, wie wenn etwa ein Gegner der Corona-Maßnahmen sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf die Jacke klebt und damit verharmlost, was mit dem Judenstern verbunden war. Das ist schon Teil politischer Propaganda, indem man die eigenen Verbrechen verkleinert dadurch, dass man sie mit anderen Verbrechen vergleicht, die aber bei weitem nicht die Dimension oder Intensität aufweisen.

Wie kommt man aus einer Situation wie der jetzigen raus? Wie müsste sich, im Hinblick auf kommende Krisen oder mögliche Eskalationsherde, die Politik verhalten?

Wie es schon immer war im Krieg: Rein kommt man schnell, raus aber ganz schwer.

Ein paar Sachen kann man, glaube ich, als sicher feststellen, über andere kann man nur Vermutungen äußern:

Sicher ist, dass durch die Anwendung von Waffengewalt, wie wir es zurzeit erleben, eine Revitalisierung der ukrainischen Nation stattgefunden hat. Man kann auch sehen, dass der Hass der Bedrohten auf die Angreifer massiv angestiegen, und dass eine dauerhafte Entfremdung von Russland und der Ukraine eingetreten ist, genau das Gegenteil von dem, was sich die russische Führungsspitze – nach allem, was ich weiß – erhofft hat.

Und das sind alles jenseits des Waffenhandwerks langfristig wirksame, negative Erscheinungen, die alle Anstrengungen, Frieden wieder herzustellen, schwieriger machen.

Wenn es zu einer Block-Konfrontation kommen sollte, die militärisch abgestützt ist, wird es darauf hinauslaufen, dass die mit dem Krieg produzierte Verfeindung von Russland und der Ukraine mittelfristigen Bestand hat. Und es ist zurzeit schwer vorstellbar, wie die beiden Kontrahenten eine Brücke zueinander finden sollen.

Das Konzept „Ernstfall Frieden“ bleibt jedoch in Kraft, auch wenn das erforderliche Vertrauen erst ganz allmählich wieder aufzubauen ist. Alles andere verfestigt den Kriegszustand, der weit über die Ukraine hinausgehen kann.