Das Ende der amerikanischen Demokratie? Donald Trump und die Politik der Feindschaft

Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 11, 2020*

Steven LevitskyDaniel Ziblatt

Nahezu alle lebenden Amerikaner wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass unsere Demokratie etwas Selbstverständliches ist. …Damit aber ist es vorbei. Die Amerikaner schauen mit wachsendem Unbehagen auf die drohende Entgleisung unseres politischen Systems. …. Laut einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr denken 39 Prozent der Amerikaner, unsere Demokratie stecke „in der Krise“, weitere 42 Prozent sehen sie vor „ernsthaften Herausforderungen.“ Nur 15 Prozent gaben an, der US-Demokratie „geht es gut.“[1]

Die Aushöhlung der Demokratie in den Vereinigten Staaten ist keine theoretische Frage mehr. Sie hat bereits begonnen. Angesehene globale Demokratie-Indexe – wie die von Freedom House, Varieties of Democracy und des Economist Intelligence Unit – zeigen seit 2016 allesamt eine Erosion der amerikanischen Demokratie.[2] Laut der Einstufung von Freedom House sind die USA mittlerweile weniger demokratisch als Chile, Tschechien, Slowenien, Taiwan und Uruguay – und in derselben Kategorie wie neuere Demokratien vom Schlage Kroatiens, Griechenlands, der Mongolei und Panamas.[3]

Doch die Probleme begannen lange vor 2016 und reichen tiefer als Donald Trumps Präsidentschaft. … Amerikas Verfassungssystem hat vielen mächtigen und ambitionierten Präsidenten Einhalt geboten, darunter Demagogen wie Andrew Jackson und Kriminelle wie Richard Nixon. Daher setzten die Amerikaner in ihrer Geschichte immer ein großes Vertrauen in unsere Verfassung. Eine Umfrage von 1999 ergab, dass 85 Prozent der Amerikaner dachten, sie sei der Hauptgrund, warum unsere Demokratie so erfolgreich war.[4]

Aber Verfassungen allein reichen nicht, um die Demokratie zu schützten. Selbst die brillanteste Verfassung funktioniert nicht automatisch, sondern muss durch starke, ungeschriebene demokratische Normen verstärkt werden.

Für eine Demokratie sind dabei zwei grundlegende Normen unerlässlich.

Die erste ist gegenseitige Tolerierung, sprich: die Norm, die Legitimität seiner politischen Konkurrenten zu akzeptieren. Das bedeutet: Wie sehr wir mit unseren Gegnern auch streiten – und wie unsympathisch wir sie gar finden –, erkennen wir doch an, dass sie loyale Bürger sind, die ihr Land ebenso lieben wie wir selbst und die dasselbe und legitime Recht zum Regieren haben. Mit anderen Worten: Wir behandeln unsere Konkurrenten nicht wie Feinde.

Die zweite Norm lautet institutionelles Unterlassen. Unterlassen meint in diesem Fall, dass man davon absieht, seinen Rechtsanspruch durchzusetzen. Es ist ein Akt vorsätzlicher Selbstbeschränkung – wir schöpfen die uns rechtlich zustehende Macht bewusst nicht voll aus. …

Der Punkt ist, dass Politiker den Buchstaben der Verfassung auf eine Weise ausnutzen können, die diese ihres Geistes beraubt: durch die Veränderung des Obersten Gerichtshofes, durch parteiliche Impeachment-Verfahren, das Lahmlegen der Regierung, durch die Begnadigung von Verbündeten, die im Auftrag des Präsidenten Verbrechen begehen, oder die Ausrufung des Notstands, um den Kongress zu umgehen.

All diese Handlungen folgen dem Buchstaben des Gesetzes, um dabei doch seinen Geist zu untergraben. Der Rechtswissenschaftler Mark Tushnet nennt ein solches Verhalten „constitutional hardball“ – ein rücksichtsloses Vorgehen auf verfassungsgemäßem Wege.[5] Bei jeder scheiternden oder gescheiterten Demokratie findet sich constitutional hardball im Überfluss…

Die ungeschriebenen Normen der gegenseitigen Tolerierung und Unterlassung dienen als sanfte Leitplanken der Demokratie. Sie sorgen dafür, dass aus einem gesunden politischen Wettbewerb nicht jener politische Kampf auf Leben und Tod wird, der die Demokratien in Europa in den 1930er Jahren und in Südamerika in den 1960er Jahren zerstört hat.

Amerika verfügte nicht immer über starke demokratische Leitplanken. Sie fehlten in den 1790er Jahren …Es verlor diese Leitplanken im Vorfeld des Bürgerkriegs, und sie blieben während des späten 19. Jahrhunderts schwach.

Im 20. Jahrhundert jedoch erwiesen sich diese Leitplanken zumeist als gefestigt. Obwohl das Land zuweilen Anschläge auf die demokratischen Normen erlebte – wie den McCarthyismus in den 1950ern –, praktizierten beide Parteien im Großen und Ganzen die gegenseitige Tolerierung und das Unterlassen, wodurch wiederum unser System der checks and balances funktionierte. In den ersten drei Vierteln des 20. Jahrhunderts gab es keine Impeachments oder erfolgreiche Beispiele für die Vergrößerung von Gerichten. Die Senatoren zeigten sich umsichtig, wenn es um den Einsatz von Filibustern und der Bestätigungsklausel bei Nominierungen durch den Präsidenten ging – die meisten Anwärter für den Obersten Gerichtshof erhielten eine problemlose Bestätigung, selbst wenn die Präsidentenpartei nicht über eine Senatsmehrheit verfügte. Und außerhalb von Kriegszeiten unterließen es die Präsidenten überwiegend, mit unilateralen Handlungen den Kongress oder die Gerichte zu umgehen. Mehr als ein Jahrhundert lang funktionierte Amerikas System der checks and balances also.

Jedoch liegt im Herzen dieser Geschichte eine wichtige Tragödie verborgen.

Die sanften Leitplanken, die Amerikas Demokratie im 20. Jahrhundert lenkten, wurden auf rassistischem Ausschluss errichtet und wirkten in einer politischen Gemeinschaft, die überwiegend weiß und christlich war.

Die Bemühungen, nach dem Bürgerkrieg eine multi-ethnische Demokratie zu errichten, führten zu gewalttätigem Widerstand, vor allem in den Südstaaten. Die dortigen Gliederungen der Demokratischen Partei betrachteten die Reconstruction nach dem Krieg als eine existentielle Bedrohung und widersetzten sich ihr sowohl mit constitutional hardball als auch mit offener Gewalt. Erst als die Republikaner die Reconstruction aufgaben – und es den Demokraten so erlaubten, im Süden die rassistischen Jim-Crow-Gesetze einzuführen –, betrachteten die Demokraten ihre Konkurrenten nicht länger als existentielle Bedrohung.

Erst dann begannen beide Parteien friedlich zu koexistieren und ermöglichten die Herausbildung von Normen der gegenseitigen Tolerierung und des Unterlassens. Mit anderen Worten: Diese Normen konnten sich erst verankern, nachdem die Gleichheit zwischen den Ethnien von der Agenda genommen und Amerikas politische Gemeinschaft damit auf Weiße reduziert worden war.

Erste Anzeichen dafür zeigten sich in den 1990er Jahren, als Newt Gingrich seine republikanischen Parteifreunde anregte, von „Betrug“ und „Verrätern“ zu sprechen, wenn es um die Demokraten ging. Damit ermunterte er die Republikaner, die gegenseitige Tolerierung aufzugeben. Die Gingrich-Revolution sorgte zudem für eine Zunahme von constitutional hardball, darunter der große Shutdown von 1995 und drei Jahre später ein Impeachment-Verfahren gegen Präsident Bill Clinton – das erste in 130 Jahren.

Die Erosion demokratischer Normen beschleunigte sich während der Präsidentschaft von Barack Obama. Führende Republikaner wie Gingrich, Sarah Palin, Rudy Giuliani, Mike Huckabee und Donald Trump erzählten, dass der Präsident und die Demokraten keine Patrioten und wahren Amerikaner seien. Trump und andere stellten gar infrage, dass Obama amerikanischer Staatsbürger ist. Hillary Clinton erfuhr eine ähnliche Behandlung: Trump und andere Republikaner stellten sie als Kriminelle dar.

Diese Entwicklung bot bereits Anlass zu großer Besorgnis: Wenn die gegenseitige Tolerierung schwindet, geben die Politiker auch das Unterlassen auf. Sobald wir unsere politischen Konkurrenten als Feinde betrachten, oder als existentielle Bedrohung, wächst die Versuchung, alle nötigen Mittel einzusetzen, um sie aufzuhalten.

Genau dies geschah im vergangenen Jahrzehnt. Die Republikaner im Kongress behandelten die Obama-Regierung als eine existentielle Bedrohung … Constitutional hardball wurde zur Norm. In Obamas zweiter Amtszeit gab es mehr Filibuster als in all den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und Ronald Reagans zweiter Amtszeit zusammen. Der Kongress legte zwei Mal die Regierung lahm und brachte das Land dabei zwischenzeitlich an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Obama antwortete ebenfalls mit constitutional hardball. Als der Kongress sich weigerte, eine Einwanderungsreform oder Klimaschutzgesetze zu verabschieden, umging er ihn und griff zu Präsidentenverfügungen. Dieses Vorgehen war technisch gesehen legal, verstieß aber klar gegen den Geist der Verfassung.

Der wohl folgenreichste Akt von constitutional hardball während der Obama-Jahre war die Weigerung des Senats, Merrick Garland, Obamas Kandidaten für den Obersten Gerichtshof, anzuhören. Jeder Präsident seit 1866, der die Gelegenheit bekam, einen freien Platz am Obersten Gerichtshof zu besetzen, bevor sein Nachfolger gewählt wurde, durfte dies auch tun (obschon nicht immer im ersten Anlauf). Mit der Weigerung, Obamas Kandidaten überhaupt nur in Erwägung zu ziehen, verletzte der Senat also eine 150 Jahre alte Norm.

Das Problem besteht somit nicht bloß darin, dass die Amerikaner mit Donald Trump einen Demagogen gewählt haben – sondern, dass wir dies zu einem Zeitpunkt taten, als sich die sanften Leitplanken, die unsere Demokratie schützen, aus ihrer Verankerung lösten.

Das weiße Amerika gegen die Regenbogenkoalition

Die treibende Kraft hinter der Erosion demokratischer Normen ist die Polarisierung. In den vergangenen 25 Jahren haben Republikaner und Demokraten einander fürchten und hassen gelernt.

Eine aktuelle Studie zeigt, dass bei Demokraten wie Republikanern um die 60 Prozent glauben, die andere Partei sei eine „ernsthafte Bedrohung“ für die USA.[9] Einen solchen politischen Hass haben wir seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr gesehen.

Ein gewisses Maß an Polarisierung ist normal – und sogar gesund – für die Demokratie. Aber extreme Polarisierung kann sie töten. Die aktuelle Forschung des Politikwissenschaftlers Milan W. Svolik zeigt, dass wir in hoch polarisierten Gesellschaften eher bereit sind, undemokratisches Verhalten auf unserer eigenen Seite zu tolerieren.[10] Wenn die Politik so polarisiert ist, dass wir den Sieg unserer politischen Konkurrenten als katastrophal oder völlig indiskutabel erachten, werden wir zur Verhinderung dessen den Einsatz außergewöhnlicher Maßnahmen rechtfertigen, darunter Wahlbetrug und Gewalt, bis zum militärischen Putsch. …

Was wir heute in den USA erleben, ist keine traditionelle, in Demokratien übliche Polarisierung zwischen Linksliberalen und Konservativen. Die Menschen fürchten und hassen einander nicht wegen Steuerfragen oder der Gesundheitspolitik. Vielmehr reichen die heutigen politischen Spaltungen tiefer: Es geht bei ihnen um die ethnische und kulturelle Identität.[11]

Unsere demokratischen Normen wurden von einer und für eine politische Gemeinschaft errichtet, die überwiegend weiß und christlich war – und die gewaltsam Millionen Afroamerikaner im Süden ausschloss. Im vergangenen halben Jahrhundert hat sich die amerikanische Gesellschaft jedoch dramatisch gewandelt. Durch umfangreiche Einwanderung und Schritte zu mehr ethnischer Gleichheit ist unsere Gesellschaft vielfältiger und demokratischer geworden.

Diese Veränderungen haben sowohl die Größe als auch den gesellschaftlichen Status von Amerikas ehemaliger christlicher Mehrheit untergraben. In den 1950er Jahren stellten weiße Christen weit über 90 Prozent der amerikanischen Wählerschaft. Noch 1992, als Bill Clinton zum Präsidenten gewählt wurde, waren 73 Prozent der Wähler weiße Christen. Bei Obamas Wiederwahl 2012 war ihr Anteil auf 57 Prozent gefallen und bis 2024 dürfte er auf unter 50 Prozent sinken.[12] 

Weiße Christen verlieren bei Wahlen also ihre Mehrheit. Sie büßen zudem ihren dominanten sozialen Status ein. Vor nicht allzu langer Zeit standen weiße christliche Männer an der Spitze aller gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Hierarchien in unserem Land. Sie besetzten das Präsidentenamt, den Kongress, den Obersten Gerichtshof und die Residenzen der Gouverneure. Sie stellten die CEOs, die Nachrichtensprecher und die meisten Prominenten und führenden wissenschaftlichen Autoritäten. Und sie waren das Gesicht beider großer politischer Parteien.

Diese Tage sind Geschichte.

Aber der Verlust des dominanten gesellschaftlichen Status kann zutiefst bedrohlich wirken. Viele weiße christliche Männer glauben, ihnen werde das Land entrissen, in dem sie aufgewachsen sind. Das fühlt sich für viele wie eine existentielle Bedrohung an.

Dieser demographische Wandel ist politisch explosiv geworden, weil Amerikas ethnische und kulturelle Differenzen nun nahezu perfekt von den beiden großen Parteien abgebildet werden. Dies war in der Vergangenheit nicht der Fall. Noch in den späten 1970er Jahren verteilten sich weiße Christen gleichmäßig auf Demokraten und Republikaner.

Während des vergangenen halben Jahrhunderts ist es jedoch zu drei bedeutenden Veränderungen gekommen:

  • Erstens hat die Bürgerrechtsbewegung zu einer massiven Abwanderung der Weißen aus den Südstaaten von den Demokraten zu den Republikanern geführt, während Afroamerikaner – die im Süden neuerlich wahlberechtigt wurden –, überwiegend für die Demokraten stimmten.
  • Zweitens erlebten die Vereinigten Staaten eine große Immigrationswelle und die meisten dieser Einwanderer orientierten sich zu den Demokraten.
  • Und drittens strömten, beginnend mit Reagans Präsidentschaft in den frühen 1980ern, weiße evangelikale Christen zu den Republikanern.

In der Konsequenz repräsentieren die beiden großen Parteien nun höchst unterschiedliche Teile der amerikanischen Gesellschaft.

  • Die Demokraten vertreten eine Regenbogenkoalition, die städtische und gebildete weiße Wähler sowie People of Color umfasst. Nahezu die Hälfte der demokratischen Wähler sind keine Weißen.
  • Die Republikaner hingegen bleiben überwiegend weiß und christlich.[13]

Die Amerikaner haben sich also in zwei Parteien einsortiert, die radikal unterschiedliche Gemeinschaften, soziale Identitäten und Vorstellungen davon repräsentieren, was Amerika ist und sein sollte. Die Republikaner vertreten zunehmend das weiße christliche Amerika – und die Demokraten alle anderen. Diese Spaltung liegt der tiefen Polarisierung unseres Landes zugrunde.

Was diese Polarisierung so gefährlich macht, ist ihre Asymmetrie.

Während die Basis der Demokraten vielfältig ist und sich erweitert, repräsentieren die Republikaner eine einst dominante Mehrheit im zahlen- und statusmäßigen Niedergang. Viele Republikaner fürchten sich daher vor der Zukunft. Slogans wie „Take our country back!“ und „Make America great again!“ spiegeln dieses Gefühl der Gefährdung wider. Mehr noch: Diese Ängste haben eine besorgniserregende Entwicklung genährt, die unsere Demokratie bedroht – eine wachsende Aversion der Republikaner gegenüber Wahlniederlagen.

Die Republikaner und die Angst vor der Niederlage

In einer Demokratie müssen Parteien wissen, wie man verliert. Politiker, die eine Wahl verlieren, müssen bereit sein, die Niederlage zu akzeptieren, nach Hause zu gehen und ihr Glück später noch einmal zu versuchen. Ohne diese Norm würdevollen Verlierens kann eine Demokratie nicht bewahrt werden.

Damit Parteien ihre Niederlage akzeptieren, müssen allerdings zwei Bedingungen gelten:

  • Erstens müssen sie überzeugt sein, dass ihre Niederlage nicht ruinöse Konsequenzen nach sich zieht.
  • Und zweitens müssen sie glauben, dass sich ihnen in der Zukunft wieder eine realistische Chance auf einen Sieg bietet.

Wenn Parteiführer fürchten, künftige Wahlen nicht gewinnen zu können oder dass eine Niederlage eine existentielle Bedrohung für sie oder ihre Wähler darstellt, dann erhöht das den Einsatz.  Verzweiflung lässt Politiker zu unfairen Mitteln greifen.

Heute zeigen sich bei den Republikanern ganz ähnliche Anzeichen von Panik.

  • Ihre Wahlaussichten schwinden. Sie bleiben eine überwiegend weiße christliche Partei in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft. Die wachsende Vielfalt der amerikanischen Wählerschaft macht es den Republikanern schwerer, auf nationaler Ebene Mehrheiten zu erreichen. Tatsächlich haben sie in den vergangenen 30 Jahren bei nur einerPräsidentschaftswahl die meisten Stimmen erhalten.
  • Zudem kehren ihnen jüngere Wähler den Rücken: 2018 wählten die 18- bis 29jährigen mit einem Abstand von zwei zu eins die Demokraten und die 30jährigen entschieden sich zu knapp 60 Prozent für die Demokraten. 

Keine Partei verliert gerne, aber bei den Republikanern wird das Problem durch eine zunehmende Auffassung an ihrer Basis vergrößert, dass eine Niederlage katastrophale Konsequenzen haben werde.

Viele weiße christliche Republikaner fürchten, nicht nur Wahlen, sondern bald auch ihr Land zu verlieren. Wie einst die Südstaaten-Demokraten greifen die Republikaner daher zusehends zu unfairen Mitteln. Dies zeigte sich am deutlichsten in den jüngsten Bestrebungen, bei Wahlen das Spielfeld zu kippen.

  • Seit 2010 haben ein Dutzend republikanisch geführter Staaten neue Gesetze erlassen, die die Wählerregistrierung erschweren.[16]Republikanische Regierungen in Staaten und Kommunen haben Wahllokale in überwiegend afroamerikanischen Nachbarschaften geschlossen, Wählerverzeichnisse „gesäubert“ und neue Hindernisse für Registrierung und Stimmabgabe geschaffen.
  • So gestattet seit 2017 in Georgia das sogenannte „exact match law” Wählerregistrierungen abzulehnen, wenn die dortigen Angaben nicht „exakt“ mit bestehenden Akten „übereinstimmen“.
  • Im Gouverneurswahlkampf von 2018 versuchte der damalige Secretary of State und heutige Gouverneur Brian Kemp, mit Hilfe dieses Gesetzes zehntausende von Registrierungsformularen für ungültig zu erklären, von denen die meisten von Afroamerikanern stammten.[17]Zudem „bereinigte“ er auch das Wählerverzeichnis um hunderttausende Personen.[18]

Die weitere Aushöhlung der Demokratie

Die Trump-Regierung gefährdet die amerikanische Demokratie wie keine andere in der modernen amerikanischen Geschichte.

Wir sehen drei potentielle Bedrohungen:

  • eine fortgesetzte Aushöhlung der Demokratie,
  • den Abstieg in die Dysfunktionalität und
  • eine Minderheitenherrschaft.

Fortgesetzte Aushöhlung der Demokratie

Trump hat, erstens, die Medien angegriffen, die Kontrollmöglichkeiten des Kongresses mit Füßen getreten und um eine ausländische Einmischung in unsere Wahlen ersucht. Wie die Autokraten in Ungarn, Russland und der Türkei hat er versucht, den Regierungsapparat für persönliche, parteipolitische und sogar undemokratische Ziele einzusetzen.

  • Nur das jüngste Beispiel für dieses Phänomen markiert die Furcht, dass die Trump-Regierung auf schockierende Weise in der Covid-19-Pandemie versucht, die US-Post dafür einzuspannen, dass die Stimmabgabe erschwert und das Wahlergebnis manipuliert wird.
  • Überall im Regierungsapparat stehen die Verantwortlichen für Strafverfolgung, Geheimdienstarbeit, Verteidigung, Sicherheit der Wahl, Volkszählung und sogar Wettervorhersage unter Druck, für das persönliche und politische Wohl des Präsidenten zu arbeiten – und gegen seine Kritiker und Widersacher.
  • Wer sich dem verweigert – darunter Kontrolleure, die für die unabhängige Aufsicht über Regierungsbehörden zuständig sind – wird herausgedrängt und durch Trump-Loyalisten ersetzt.

So werden Autokratien errichtet: Anführer verwandeln die Strafverfolgung, die Geheimdienste und andere Institutionen in parteipolitische Waffen und nutzen sie, um sich gegen Ermittlungen abzuschirmen sowie um gegen Kritiker zu ermitteln und sie zu bestrafen.

Der Abstieg in die Dysfunktionalität.

Amerikas System der checks and balances sorgt oftmals für ein divided government, konfrontiert den Präsidenten also mit einer oppositionellen Kongressmehrheit. Daher funktioniert es nur mit einem gewissen Grad an gegenseitiger Tolerierung und Unterlassen. Wenn die Polarisierung diese Normen aushöhlt und zu constitutional hardball führt, kann ein divided government zu einer Art permanenter institutioneller Kriegsführung verkommen – und die Bundesregierung außerstande setzen, ihren grundlegenden Aufgaben nachzukommen.

Dysfunktionalität behindert aber nicht nur die Arbeit der Regierung, sondern sie kann auch das öffentliche Vertrauen in die Demokratie untergraben. Wenn die Regierungen daran scheitern, auf die drängendsten Probleme der Bürger zu reagieren, verlieren diese das Vertrauen in das politische System. Es gibt im heutigen Amerika starke Anzeichen für einen solchen Vertrauensverlust: So hat sich die Zahl der Amerikaner, die unzufrieden mit der Demokratie sind, in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt, von weniger als 25 Prozent im Jahr 2000 auf heute 55 Prozent.[19] Wenn Gesellschaften aber das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit ihrer Regierung verlieren, werden sie empfänglich für Demagogen oder politische Außenseiter, die versprechen, „die Dinge zu regeln“, und zwar mit anderen – radikal autoritären – Mitteln.

Die Herrschaft der Minderheit

Die dritte Bedrohung unserer Demokratie ist weniger sichtbar, aber wohl die schädlichste von allen.

Schauen wir uns die folgenden Tatsachen an:

  • Die letzten beiden republikanischen Präsidenten kamen ins Amt, obwohl sie nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnten – und das könnte dieses Jahr ohne weiteres erneut passieren.
  • Die Demokraten haben die Präsidentschaftswahl von 2016 und die Senatswahl von 2018 mühelos gewonnen – aber die Republikaner kontrollieren nach wie vor den Senat.
  • 2017 wurde mit Neil Gorsuch erstmals ein Richter am Obersten Gerichtshof von einem Präsidenten nominiert, der bei der Wahl keine Stimmenmehrheit hinter sich hatte, und dann von Senatoren bestätigt, die weniger als die Hälfte des Landes repräsentierten.
  • Ein Jahr später stieg Brett Kavanaugh auf genau demselben Weg zum Obersten Gerichtshof auf, was dort eine konservative Mehrheit, die eindeutig in einer Minderheit verwurzelt ist, schuf – und die jetzt durch Amy Coney Barrett sogar noch ausgebaut werden dürfte.
  • Und im Februar 2020 sprachen sich 52 Senatoren gegen ein Impeachment von Präsident Trump aus – vertraten dabei jedoch aufgrund der Bevölkerungsstruktur ihrer Staaten 18 Millionen Amerikaner weniger als die 48 Senatoren, die für eine Amtsenthebung stimmten.

Diese Beispiele bieten einen Vorgeschmack auf das Leben unter der Herrschaft einer politischen Minderheit.

Unsere Verfassung und unsere Wahlgeographie haben sich unwillentlich zugunsten der Republikaner verschworen. Dies könnte zu dem führen, was der Soziologe Paul Starr die Verschanzung an der Macht durch eine Minderheit der Wahlberechtigten nennt – die hauptsächlich aus ländlichen, konservativen und überwiegend weißen Gegenden kommen. Gewiss, die Minderheitenherrschaft hat eine lange Geschichte in Amerika.

Unsere Gründerväter schufen ein Verfassungssystem, das kleinere oder schwach bevölkerte Staaten bevorzugt. Aber mit der Zeit erwuchs aus dieser Bevorzugung eine massive Überrepräsentation ländlicher Staaten, mit Auswirkungen auf drei mehrheitsbrechende Institutionen:

  • Das Wahlmännergremium, das den Präsidenten bestimmt, ist leicht zugunsten spärlich bevölkerter Staaten verschoben,
  • der Senat stark;
  • und da der Senat den Nominierungen für den Obersten Gerichtshof zustimmen muss, ist auch dieser ein Stück weit zugunsten bevölkerungsschwacher Staaten verschoben.

Dieses Problem wird durch die schleichende Entvölkerung der ländlichen Gebiete noch verschärft: In 20 Jahren werden 70 Prozent der US-Bevölkerung in 16 Staaten leben, wodurch 30 Prozent des Landes 68 Prozent des Senats kontrollieren werden.[20]

In den meisten Phasen der US-Geschichte hatte diese Bevorzugung der ländlichen Regionen kaum parteipolitische Auswirkungen, da die großen Parteien über städtische und ländliche Flügel verfügten. Mit anderen Worten: Das System hat immer schon Vermont gegenüber New York bevorzugt, aber es bevorzugte nicht eine bestimmte Partei.

Zuletzt jedoch haben sich die Parteien entlang der Stadt-Land-Frage gespalten. Heute konzentrieren sich die demokratischen Wähler in den großen urbanen Zentren, während die Republikaner zunehmend in dünn besiedelten Gebieten verankert sind. Das verschafft der Republikanischen Partei einen systematischen und wachsenden Vorteil im Wahlmännergremium, im Senat und im Obersten Gerichtshof.

Die Herrschaft einer politischen Minderheit ist schon schlimm genug, aus ihr erwächst aber eine sogar noch gefährlichere Konsequenz.

Die Republikaner werden von ihrer ängstlichen weißen christlichen Basis in eine „Jetzt-um-jeden-Preis-gewinnen“-Mentalität getrieben und könnten daher ihren Vorteil in den mehrheitsbrechenden Institutionen nutzen, um sich an der Macht einzugraben, ohne Stimmmehrheiten zu gewinnen – und dies tatsächlich sogar im Angesicht dauerhafter oppositioneller Mehrheiten. 

Das Wahlmännergremium gestattete Donald Trumps Wahl (und könnte dies erneut tun), während der Senat seinen unerhörten Machtmissbrauch ermöglichte. Ebenso hat der Oberste Gerichtshof weitgehend die republikanischen Versuche gestützt, über Gerrymandering, die Säuberung des Wählerverzeichnisses und neue Hindernisse bei Registrierung und Stimmabgabe das Spielfeld für die Wahlen zu kippen. Kurz gesagt, könnten die Amerikaner auf eine Phase der Herrschaft einer politischen Minderheit zusteuern.

Diese Wahl ist also entscheidend. Trumps Sieg würde die zerstörerischen Trends beschleunigen, die wir in den vergangenen vier Jahren gesehen haben: die Aushöhlung demokratischer Normen, die Aufgabe der etablierten demokratischen Praxis, den fortgesetzten Angriff auf den Rechtsstaat und die weitere Verankerung der Herrschaft einer politischen Minderheit. Sollte Trump bis 2024 regieren, droht die amerikanische Demokratie unkenntlich zu werden.

Die hier wiedergegebene Fassung des ausgezeichneten Textes von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt ist die leicht gekürzte Version eines Aufsatzes, der in der Novemberausgabe 2020 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ erschienen ist.

Dieser Text basiert auf einem Beitrag der Autoren, der unter dem Titel „The Crisis of American Democracy“ am 18.9.2020 auf der Website der US-Gewerkschaft American Federation of Teachers veröffentlicht wurde. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel.