Querdenker: Der Aufstand des Mittelstands

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Von William Callison und Quinn Slobodian 3. April 2021 Dieser Text ist erstmals in der „Boston Review“ in englischer Sprache erschienen. Die hier vorliegende Fassung ist demgegenüber leicht gekürzt.

Querdenker: Der Aufstand des Mittelstands

Vor einem Jahr begannen in Deutschland die Querdenker-Proteste. Doch es gibt in vielen Ländern ähnliche Bewegungen. Was kennzeichnet ihr Denken? Eine Grundsatzbetrachtung

Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich weltweit spontaner Widerstand gebildet gegen staatliche Bemühungen, das Coronavirus durch Lockdowns, Social-Distancing-Vorgaben, Maskenpflicht und Impfungen unter Kontrolle zu bekommen. Diese Bewegungen, die von wütenden Freiberuflern und Selbstständigen angeführt werden, sind eher ein „Aufstand des Mittelstands“ denn ein „Aufstand der Massen“ à la José Ortega y Gasset. Im Unterschied zum Populismus, der noch 2017 die Debatten beherrschte, sind diese Bewegungen nun weniger an medienwirksame Wortführer und Parteien gebunden; sie sind im traditionellen politischen Spektrum schwerer zu verorten und nicht so sehr auf die Übernahme politischer Macht fixiert.

In Anlehnung an die deutsche Bewegung der Querdenker bezeichnen wir die Strategie hinter den diversen Gruppierungen als „Querdenken“ und das allgemeinere Phänomen, für das sie stehen, als „Querdenkertum“. Dabei geht die Idee des Aufstiegs eines Querdenkertums über den deutschen Kontext seiner Namensgebung hinaus. Die Querdenker sind nicht zuletzt ein Produkt neuer Technologien und veränderter Kommunikationsverhältnisse. Sie stellen die herkömmliche Links-rechts-Unterscheidung gern infrage (wobei sie im Allgemeinen politisch extrem rechten Überzeugungen zuneigen), geben sich doppeldeutig bis zynisch gegenüber parlamentarisch organisierter Politik und verbinden ganzheitliche und spirituelle Überzeugungen mit einem beharrlichen Sprechen über individuelle Freiheiten.

In ihren extremen Auswüchsen teilen Querdenker-Bewegungen die Überzeugung, dass Macht per se verschwörerisch ist. Staatliche Macht kann gar nicht legitim sein, glauben viele Querdenker, weil der Prozess der Auswahl des Regierungspersonals angeblich von den Mächtigen selbst kontrolliert werde und de facto illegitim sei. Diese Überzeugung ist oft mit dem Eintreten für eine disruptive Dezentralisierung verbunden, dem Wunsch nach verteiltem Wissen und damit verteilter Macht sowie der Anfälligkeit für rechte Radikalisierung.

Querdenker-Bewegungen handeln sowohl mit altvertrauten als auch mit neuartigen Fantasien über eine Herrschaft der Eliten. Sie wenden sich gegen angeblich totalitäre Autoritäten wie den Staat, Big Tech und Big Pharma, die großen Banken, die Klimaforschung, die Mainstream-Medien und die politische Korrektheit. In vielerlei Hinsicht sind sie die Nachkommen der außerparlamentarischen sozialen Bewegungen der Siebzigerjahre. Doch deren damaliger Idealismus und ihr Verlangen nach kollektivem Handeln und einer Entkommerzialisierung ist bei den Querdenkern auf das Minimalprogramm einer Verteidigung des Raums autonomer Entscheidungsgewalt geschrumpft.

Der Stempel des Märtyrertums

Nichts ist leichter, als an dieser Stelle „Verschwörungstheorie“ zu rufen und solche Mobilisierungen als krankhafte Symptome eines von Krankheitsbedrohungen geprägten Jahres abzutun, in dem die USA als „Superspreader“ des Misstrauens fungierten, wie Heidi Larson von der London School of Hygiene and Tropical Medicine der Washington Post sagte. Für den Kulturtheoretiker Jeremy Gilbert allerdings hat der Begriff „Verschwörungstheorie“ viele Schwächen mit der älteren Kategorie des „Populismus“ gemein: Zu oft dienten beide Begriff dazu, bestimmte politische Auffassungen vorschnell als illegitim aus jeglichem Diskurs auszuschließen, womit man diesen Haltungen gerade

Einem alten Axiom der Politikwissenschaft zufolge arbeiten Regierungen mit „Zuckerbrot, Peitsche und Predigten“ – mit Zwang und Anreizen also, aber auch mit Informationen. Das Querdenkertum zeigt, dass der universelle Zugang jedes Menschen zum Internet, die aufmerksamkeitsabsorbierende Macht der sozialen Medien und die Dynamik des „Erregungskapitalismus“ die Begründung staatlichen Handelns erschweren und so Raum für eine feindselige Gegenöffentlichkeit geschaffen haben – für die Agenten des „Desinfotainments„, für soziale Bewegungen wie aus Alices Kaninchenbau, Plattformverschwörungen für die Plattformwirtschaft. Uns bleibt nichts anderes übrig, als dort hinabzusteigen.

Die Versuche, diesen sich lawinenartig ausbreitenden Bewegungen – die ein ganzes Spektrum an Positionen gegen den Staat, gegen den Lockdown, gegen Maskentragen und gegen Impfungen umfassen – einen Namen zu geben, fielen bislang eher bemüht aus. Während es in den USA so schien, als bilde die Unterstützung des unlängst abgewählten Präsidenten für diese divergierenden Positionen eine naheliegende Klammer, erklärten Beobachter die Heterogenität der Querdenker-Bewegungen anderswo zu ihrem Kernpunkt. Der Economist sprach von einem „bunten Haufen„, der sich auf Demonstrationen treffe, in denen oft New-Age-Homöopathen neben Skinheads und QAnon-Anhängern marschieren. Für Naomi Klein eint eine Art „Verschwörungssmoothie“ die Protestierenden in verschiedenen Ländern. Der Soziologe Keir Milburn sprach von einer „kosmischen Rechten“ in Großbritannien. Der brasilianische Philosoph Rodrigo Nunes zog seine Lehren aus dem Massenphänomen namens „bolsonarismo“ und beschrieb die Proteste als latente Manifestation von „denialism„, einer Verleugnungshaltung, die sich der Unfähigkeit verdanke, mit dem ungeheuren Ausmaß der Herausforderungen klarzukommen, vor denen die Menschheit derzeit stehe.

Die Querdenker sind keine Unterschichtenbewegung

Die erste wissenschaftliche Untersuchung der Bewegungen von Corona-Skeptikern in Deutschland, Österreich und der Schweiz stellt diese vorläufigen Etiketten infrage. Soziologen und Soziologinnen der Universität Basel um Oliver Nachtwey haben herausgefunden, dass die Bewegung zumindest in Deutschland nicht von klassischen Rechten dominiert wird. Bei den vergangenen Bundestagswahlen hat der größte Prozentsatz der heute aktiv an Querdenker-Protesten Beteiligten für die Grünen gestimmt (23 Prozent), der zweitgrößte für die Linke (18 Prozent), gefolgt von 15 Prozent für die AfD. Eine Mehrheit unter diesen Querdenkern zeigt keine spezielle Antipathie gegen Zugewanderte oder Muslime und ist auch nicht der Meinung, dass Frauen wieder zu traditionellen Rollen zurückkehren sollten. Die meisten erkennen die wissenschaftlichen Beweise für den Klimawandel an und die Tatsache, dass der Holocaust stattgefunden hat. Die eine Leugnung (Corona) bedingt nicht unbedingt auch andere Leugnungen.

Die Befragten glauben allerdings an die Existenz einer stark abgeschotteten Elite, die die Medien, den Staatsapparat, die Großunternehmen und die Finanzindustrie beherrsche. Sie sind der Meinung, dass Medien und Staat angeblich maßlose Angst in der Bevölkerung verbreiten, die Wahrheit unter den Teppich kehren und das Volk täuschen wollen. Fast zwei Drittel glauben, die Bill and Melinda Gates Foundation befürworte eine weltweite Zwangsimpfung.

Was die soziale Herkunft betrifft, sind die Querdenker keineswegs eine Unterschichtenbewegung. Die von den Basler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Befragten rechnen sich selbst überwiegend der Mittelschicht zu und sind überproportional häufig Selbstständige (25 Prozent; der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtmenge der Erwerbstätigen in Deutschland beträgt lediglich 9,6 Prozent). Weltweit werden Proteste gegen staatliche Corona-Maßnahmen häufig von Inhabern kleiner Unternehmen und Selbstständigen angeführt, denen üblicherweise die soziale Bindung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft fehlt und deren Beschäftigungssicherheit geringer ist als die von Beamten oder Angestellten großer Unternehmen, die im Homeoffice in „Angestellten-Quarantäne“ arbeiten können.

Die große Unzufriedenheit

Kleinunternehmer und Selbstständige haben einen Grund, wütend zu sein. Die sogenannte K-förmige Erholung der Konjunktur hat die Konzerne begünstigt; während die kleineren Unternehmen litten, haben größere Gewinne gemacht und breiten Zugang zu privatwirtschaftlichen wie staatlichen Krediten erhalten.

Die Unzufriedenheit geht über den Protest auf der Straße hinaus. Einer Umfrage zufolge beurteilten Ende vergangenen Jahres rund 40 Prozent der deutschen Mittelständler – der Betreiber kleiner und mittlerer Unternehmen – die Reaktion der Bundesregierung auf die Pandemie „als schlecht“ oder „sehr schlecht“. Zwar zeigen sich viele Kleinunternehmer in Deutschland und anderswo frustriert über unzureichende staatliche Maßnahmen – die sich von Land zu Land in Form von Direktzahlungen, Lohnzuschlägen und Arbeitslosenunterstützung erheblich unterscheiden –, doch wollen die meisten einfach nur, dass die jeweilige Regierung ihren Aufgaben effektiv nachkommt. Diese Menschen wollen mit wilden Fiktionen, die im Netz kursieren, nichts zu tun haben. Doch weil ein wachsender Bevölkerungsanteil durch soziale Medien und Videoplattformen Falschinformationen ausgesetzt ist, überrascht es nicht, dass eine beträchtliche Minderheit (die in den meisten Ländern mindestens zehn Prozent ausmacht) ihren Weg in irgendeine Dimension des Querdenkertums gefunden hat.

Auf welchen gemeinsamen Nenner aber soll man die extremere Form von Opposition bringen? „Antilockdown“ wird der Breite der Kritik nicht gerecht, die für viele von der Ablehnung dessen, was die Franzosen als „le confinement“ bezeichnen, bis hin zur prinzipiellen Skepsis gegenüber Masken, Impfungen und häufig der Realität der Pandemie selbst reicht. Viral gegangene Videos wie Plandemic oder Hold-Up (geschätzte Zuschauerzahl mehr als zehn beziehungsweise sechs Millionen Menschen) beschreiben die Pandemie als einen Vorwand für globale Eliten, um einen tiefgreifenden Umbau des menschlichen Alltagslebens durchzuführen. Rund 80 Prozent der von den Baselern befragten deutschsprachigen Querdenker hielten Covid-19 für nicht schlimmer als eine schwere Grippe, während 96 Prozent sagten, sie würden sich nicht impfen lassen, selbst wenn die Vakzine garantiert keine Nebenwirkungen hätte.

Beim Begriff „Querdenken“ muss man an die Querfront denken, die in der Zwischenkriegszeit die „rote“ kommunistische mit der „braunen“ faschistischen Bewegung verband. Doch verdankt sich der Begriff „Querdenken“ einem ganz anderen Ursprung, nämlich dem Jargon der Marketing- und Beratersphäre. Seit Jahrzehnten zirkuliert „Querdenken“ im PowerPoint-Jargon für die Geschäftsführungsebene neben verwandten Ausdrücken wie „Bruch“, „über den Tellerrand blicken“ oder dem Apple-Gebot aus der Dotcom-Zeit: „anders denken“. In den frühen Nullerjahren gab es einige Jahre lang ein Wirtschaftsmagazin namens Querdenker. Die Genese des Ausdrucks ist passend, fasst er doch eine politisch vielfältige Gruppe von Akteuren trefflich zusammen, die sich unter einer formal leeren Sprechblase aus der Welt der Medienberatung vereint – einer Welt, aus der, wie wir sehen werden, viele der Organisatoren der Bewegung in Wirklichkeit auch stammen.

Was die aktuelle Situation so explosiv macht, sind genau diese freiberuflich tätigen Medien-Wizards, politisch bewegten Heilsbringer und Entrepreneur-Nonkonformisten, die soziale Spannungen gezielt verschärfen wollen. Das dient der eigenen Autorität und oft auch der Selbstbereicherung. Der Zustand der querdenkenden Bewegung in Deutschland ist dahingehend besonders aufschlussreich. Es gibt drei Grundtypen, die für die deutsche Szene von zentraler Bedeutung sind und die sich in verschiedenen Kontexten der weltweiten techno-politischen Turbulenzen zu festen Größen entwickeln. Sie bilden Modellfiguren, die sich von Land zu Land in unterschiedlicher Verkörperung wiederholen: der Bewegungsstrippenzieher, der rechtsgewendete linke Ideologe und der rechtsextreme Esoteriker.

Der Bewegungsstrippenzieher

Im vergangenen August fanden in Berlin zwei Anti-Covid-Protestveranstaltungen statt, die erste mit 20.000 und die zweite mit 38.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Zur ersten Demonstration unter dem Motto „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“ gehörte am 1. August eine Kundgebung mit großer Bühne auf der Straße des 17. Juni; die zumeist maskenlose Menge erstreckte sich vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule. Besorgniserregend schien die Ansammlung von Menschen augenscheinlich unterschiedlichster Gesinnung: Hippies, Kriegsgegner, Libertäre, Reichsbürger, Neonazis, Alternativmediziner, Impfgegner und unpolitische Linksliberale, um nur einige zu nennen. Ein vergleichsweise kleiner rechtsextremer Protest aber, bei dem es am Abend nach der Demonstration am 29. August fast zu einer Erstürmung des Reichstags gekommen wäre, beherrschte wochenlang die öffentliche Diskussion.

Am 1. August stand Michael Ballweg auf der Bühne am Brandenburger Tor. Der Stuttgarter Unternehmer und IT-Entwickler hat mehrere Start-ups gegründet, unter anderem im Jahr 1996 die media access GmbH. Sie verkauft Software und Dienstleistungen im Bereich Senior-Experten-Management, mit denen Unternehmen pensionierte Mitarbeiter zur Beratung bei bestimmten Projekten reaktivieren können.

„Ich stehe heute hier, weil mir die Welt, wie sie mir von der Bundesregierung präsentiert wird, nicht gefällt“, verkündete Ballweg auf der Bühne in Berlin. Obwohl er die Existenz des Coronavirus nicht leugnet, insistiert er: „Es gibt keine Pandemie.“ Und damit gebe es auch keine Notwendigkeit für angeblich verfassungswidrige staatliche Maßnahmen. „Für mich steht das Q für das englische Wort question„, erklärte Ballweg, „eine Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken und Recherchieren anregen.“ Wie es sich für einen guten Unternehmer gehört, hat Ballweg den Begriff „Querdenken“ in verschiedenen Wortkombinationen markenrechtlich schützen lassen. Im August teilte seine media access GmbH auf ihrer Website unter der Überschrift „Zum Status der Demokratie“ mit, Großkunden wie die Robert Bosch AG und thyssenkrupp hätten ihre Verträge aufgrund von Ballwegs Aktivismus gekündigt; diese bestätigten zwar die Auflösung der Geschäftsbeziehungen, doch verwies etwa Bosch darauf, das sei aus wirtschaftlichen Gründen und vor Ballwegs Engagement als Querdenker geschehen. Ballweg stellt sich dennoch als Opfer politisch motivierter Zensur dar und kündigte im vergangenen September den Verkauf von media access an.

Die Intransparenz der Finanzierung

Seit Ballweg hauptberuflich als Bewegungsstrippenzieher unterwegs ist, werden die Finanzen diverser Querdenken-Gruppen genauer unter die Lupe genommen. Die Stuttgarter Gruppe Querdenken 711 um Ballweg bittet um Schenkungen (bis zur Betragsgrenze, ab der Schenkungen versteuert werden müssen) per PayPal oder Überweisung, die direkt auf ein Konto von Ballweg gehen; Spendenquittungen könnten nicht ausgestellt werden, heißt es auf der Website, man arbeite „derzeit an der Eintragung der Gemeinnützigkeit„. Auf diese Weise erspart sich die Bewegung auch bestimmte Probleme, die mit einer kollektiv geführten politischen Organisation verbunden sein können – und etwa Sahra Wagenknechts Bewegung Aufstehen 2018/2019 plagten. Gleichzeitig entwickelt Querdenken eine basisdemokratische Struktur aus selbst organisierten Gruppen, die ihre Transparente, T-Shirts und Embleme aus Stuttgart beziehen. Auch von einigen größeren Deals hat Ballweg profitiert, etwa mit Busunternehmen, die Demonstranten durchs Land transportieren, oder mit Randfiguren wie jenem ehemaligen Erotik-Hotline-Betreiber, dem es nach eigenen Angaben 5.000 Euro wert war, auf der Querdenken-Bühne tanzen zu dürfen.

Nachdem die Querdenken-Bewegung Gegenwind bekommen hatte wegen ihres Mangels an Transparenz und dafür, dass sie die Teilnahme von Neonazis an ihren Demonstrationen duldete, warf sie seriösen Medien vor, sie zu verleumden. Auch verurteilte sie förmlich Links- wie Rechtsextremismus, während sie Grußbotschaften an die schwerlich gemäßigte, aus den USA stammende QAnon-Bewegung übermittelte. Trotzdem pocht Ballweg darauf: „Wir sind keine politische Bewegung und auch keine Partei. Wir sind eine demokratische Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft mit einer großen Vielfalt.“

Ballwegs Hang zur Intransparenz wird nur noch durch seinen Mangel an Charisma übertroffen. So gleicht er eher dem Strippenzieher der italienischen Cinque-Stelle-Bewegung, dem Internetunternehmer Davide Casaleggio, als deren Mitbegründer, dem publikumswirksam auftretenden Kabarettisten Beppe Grillo. Die von Querdenken entwickelten Vorstellungen stellen jedoch selbst die konspirativsten Elemente der Fünf Sterne in den Schatten. Und ihr digital angetriebenes Theater stützt sich hinter der Bühne auf Allianzen mit einer bunten Gruppe von Medienunternehmern, die sich herkömmlichen Etiketten entziehen.

Der rechtsgewendete linke Ideologe

Auf Querdenkens vermeintlich linkem Flügel findet sich KenFM, ein journalistisches Internetportal, das von Ken Jebsen ins Leben gerufen wurde. Jebsen, ein ehemaliger Antikriegsaktivist und Radiomoderator, verlor seinen Job beim rbb aufgrund antisemitischer Kommentare. Seitdem hat er auf YouTube, sozialen Medien und seiner crowdfinanzierten Website eine beträchtliche Fangemeinde um sich geschart, vor allem dank seiner Interviews mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Autoren, Wissenschaftlerinnen und Künstlern.

Mit reißerischen Titeln wie Transnationaler Elitenfaschismus, Digitale Diktatur: KenFM bekommt Maulkorb verpasst! oder COVID 19 – Ein trojanisches Pferd, ein europäisches 9/11? verrührt KenFM in pseudointellektuellem Stil einen Anti-Elitendiskurs mit dem jeweiligen rechten Aufreger des Tages, seien es Migrationspolitik, Korruptionsskandale oder Coronavirus-Maßnahmen. Mit Videos in Nahaufnahme, die Jebsens autoritären Charakter zur Schau stellen, verwischt das Programm Kapitalismuskritik und Anarchokapitalismus und bringt Linke wie Rainer Mausfeld und Ullrich Mies mit rechten Libertären wie Markus Krall und Max Otte zusammen.

Was diese Spielarten linken und rechten Denkens gemeinsam haben, sind weniger ihre Ziele denn ihre Feinde. Von „Mega-Manipulation“ bis „Massenzensur“ zeichnen sie alle das dystopische Bild einer Verschwörung der Mächtigen. Neben KenFM haben sich viele weitere solcher Querverbindungen gebildet, etwa der Podcast Multikulti trifft Nationalismus, den der ghanaisch-deutsche „Lifestyle-Entertainer“ Nana Domena (der bei der Querdenken-Demo am 29. August 2020 vorläufig festgenommen wurde) zusammen mit dem Neonazi Frank Kraemer bestreitet. Von allen Kuriositäten und Nuancen einmal abgesehen, hat es die Pandemie dem querdenkenden selbsternannten „Widerstand“ ermöglicht, seine Kritik auf die räumlichen und physischen Einschränkungen durch die Regierung zu konzentrieren, die oft von Bundeskanzlerin Angela Merkel (oder „Merkill„) persönlich verkörpert wird. Begriffe wie „Freiheit“ und „Demokratie“ – und insbesondere „Versammlungsfreiheit“ – sind zum Schlachtruf gegen die „totalitären“ und „faschistischen“ Kräfte, nämlich „die da oben“ geworden.

Gegen das Silicon Valley, mit dessen Apps

Um Portale wie KenFM versammeln sich diese Gestalten aufgrund ihrer gemeinsamen Ablehnung der großen Technologiekonzerne. Viele, wenn nicht die meisten Querdenker haben selbst die Erfahrung gemacht, „gecancelt“ zu werden. Wenn Plattformen wie YouTube sie sperren oder gar dauerhaft löschen, weil sie haltlose Verschwörungstheorien verbreitet haben, verdammen sie lautstark den Verlust ihrer „Redefreiheit“ und ihrer „verfassungsmäßigen Rechte“ und machen oft die Regierung für ihre neu gewonnene Unfreiheit verantwortlich. Wie Ein Prozent und zahlreiche andere extrem rechte Gruppen wurde der KenFM-Account unlängst von YouTube gesperrt.

Solche Account-Sperrungen oder -Löschungen oder andere Maßnahmen von Plattformen wie YouTube, Twitter und Facebook verleihen Corona-Skeptikern in ihren Reihen zusätzliche Glaubwürdigkeit. Wie zuvor libertäre und rechtsextreme Wortführer sind auch Querdenker auf eine wachsende Zahl alternativer Plattformen gewechselt, etwa BitChute, DLive, Gab, MeWe, Odyssey, Parler, Periscope, Patreon, Rumble, Substack, Telegram, Twitch und VK.

Paradoxerweise fällt die verbreitete Wendung der öffentlichen Stimmung gegen das Silicon Valley in den vergangenen Jahren und die anschwellende Diskussion über den „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) gerade bei den Querdenker-Bewegungen besonders scharf aus, obwohl sie für ihr Bestehen am meisten auf digitale Dienste angewiesen sind. Die Kommunikation der Querdenker wird von einer dezentralen Struktur von Plattformen ermöglicht, die selbst Verkörperungen hochkonzentrierter Unternehmensmacht sind.

Die deutschen Querdenker haben unter den verschiedenen Möglichkeiten Telegram als bevorzugte Alternative ausgewählt. Die Plattform eignet sich ideal dafür, Nachrichten mit Links zur Koordination lokaler Proteste in Echtzeit zu versenden oder weiterzuleiten – ein Grund, warum sie auch bei linken Aktivistengruppen beliebt ist. Neben WhatsApp-Gruppen hat die Nutzung von Telegram seit dem Beginn der Pandemie stark zugelegt, womit diese beiden Dienste sich neben YouTube und Facebook zu den wichtigsten Verbreitungswegen für Verschwörungsmythen entwickelt haben. Wo WhatsApp-Gruppen ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Fremden mit einer zentripetalen Kraft stiften (die bei Außenstehenden Paranoia erzeugt, wie William Davies beobachtet hat), erzeugt Telegram eine amorphe Gemeinschaft, die von einer eher zentrifugalen Kraft beflügelt wird.

Zusammen treiben diese Technologien eine neue Art politischer Mischbildung voran und sind ein idealer Nährboden für antiautoritären Autoritarismus. Durch ihre fantastische Flucht vor Big Tech können sich verschiedene Gruppen zu einer pauschalen Opposition zusammenschließen, einer „Großen Verweigerung“ gegenüber der Verschwörung der Macht.

Der rechtsextreme Esoterikunternehmer

Die Selbstbeschreibung als widerständige Minderheit ist ein Grundmerkmal der Querdenker, das sie zu einem Verbündeten mancher Stimmen in rechten Medien macht. Diese vertreten ja selbst abweichende Meinungen in einem Themenspektrum, das von Impfen über Klimawandel bis zu Einwanderung und „Rassenforschung“ reicht, wobei sie sich als wahre Stimme des Volkes ausgeben. Ob sie die Existenz des Virus leugnet, seine Auswirkungen verharmlost oder Experten einer „alternativen Wissenschaft“ wie Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg zitiert: Die Gemeinschaft der deutschen Corona-Skeptiker schwimmt stolz gegen den Strom.

Doch die Strippenzieher der Querdenken-Bewegung, die auf den Bühnen von Ballwegs Demonstrationen und in jedem sozialen Medienkanal auftauchen, in dem sie nicht gesperrt sind, machen sich eine minoritäre Konzeption „des Volkes“ mit einer merkwürdigen Genealogie zu eigen: der rechten Unterwelt der Esoterik und Alternativmedizin.

Tief im Hintergrund dieser Szene spinnt der „braun-esoterische“ Unternehmer Michael Friedrich Vogt seine Fäden. Im Laufe seines Studiums in München in den Siebzigerjahren war Vogt Vorsitzender verschiedener rechter Burschenschaften und Neonazistudentenverbände, während er an seiner Doktorarbeit über die philosophische Anthropologie von Marx und Engels arbeitete. Nachdem er fast ein Jahrzehnt lang Honorarprofessor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig gewesen war, wurde er dort im Jahr 2007 entlassen. Der Grund: Er hatte an einem rechtsextremen Treffen teilgenommen und einen revisionistischen Dokumentarfilm über Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß gedreht, ein Publikumsliebling in diesem Untergrundgenre.

„Ressentiment und Esoterik“

In den frühen Zehnerjahren gründete Vogt einen Internetsender namens Quer-Denken.tv (mittlerweile umgewidmet zu M-V.tv), eine „freie Plattform für freie Geister“ und „nonkonforme Querdenker“. Als Teil der selbsternannten „Truther-Szene“ produzierte Quer-denken.tv verschwörungstheoretische Artikel und Videos zu Themen wie Chemtrails, Impfstoffen und Pandemien, darunter einen Artikel unter der Überschrift „Ist die Ebola-Pandemie eine Lüge?“ im Jahr 2014. Vogt beteiligte sich an der „Antizensurkoalition“ und organisierte den alljährlichen „Quer-Denken-Kongress„, der auf den ersten Blick wie die Versammlung einer harmlosen, wenngleich verschrobenen Gruppe von Unternehmern aussah, die Ideen austauschten, teure, wenn auch sinnlose Produkte verkauften und bezahlte Interviews gaben.

Bei näherer Betrachtung erwies sich der „Quer-Denken-Kongress“ freilich als alles andere als harmlos. Das Treffen im Jahr 2015 etwa bot „eine Mischung aus Verschwörungstheorien, Ressentiment und Esoterik“ (Frankfurter Rundschau vom 17. August 2015) mit rechten Galionsfiguren wie Nigel Farage, Eva Herman und Andreas Popp. Am Veranstaltungsort, der hessischen Kreisstadt Friedberg in der Nähe von Frankfurt, protestierten Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Gewerkschaften, Kirchen und Parteien gegen den Kongress.

Aus Vogts Umfeld sind einige Galionsfiguren der Querdenker hervorgegangen. Zu ihnen zählt der Esoterikunternehmer Heiko Schrang, der die Kunst des Geldmachens (und der Meditation) beherrschte, lange bevor er eine große Anhängerschaft auf Telegram, YouTube und anderen Plattformen aufbaute. Schrang hat einen Verlag gegründet (Slogan: „Macht steuert Wissen“), der allerdings eher ein Onlineshop als eine Verlagsanstalt ist, wenngleich er Bücher wie Kulturmarxismus. Eine Idee vergiftet die Welt und Deutschland außer Rand und Band. Zwischen Werteverfall, Political (In)Correctness und illegaler Migration vertreibt. Schrang führt einen persönlichen Krieg gegen die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland, beim „Quer-Denken-Kongress“ im Jahr 2016 hielt er eine Rede mit dem Titel Widerstand gegen das GEZ-Unrechtssystem. Schrang weigert sich beharrlich, den Rundfunkbeitrag zu zahlen. Damit ist er ein natürlicher Verbündeter der AfD bei diesem Thema und ein Held für seine Anhängerschaft, die seinen Widerstand bei gerichtlichen Anhörungen feiert.

Ein weiterer führender Querdenker ist Samuel Eckert, ein ehemaliger Laienprediger, der wegen Predigten mit antisemitischen und coronaskeptischen Inhalten Auftrittsverbot in seiner Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten erteilt bekommen hat. Eckert, der auch ein professioneller Pokerspieler und Geschäftsführer mehrerer Firmen ist, siedelte nach eigenen Angaben 2016 in die Schweiz über, weil er ein Interview auf Quer-Denken.tv gesehen hatte, in dem dazu Tipps gegeben wurden. Ein Schwerpunkt von Eckerts gegenwärtigen Engagements für die Querdenker liegt auf der Beteiligung der Jugend und der Ansprache christlicher Fundamentalisten. „Querdenken ist eine Religion, die man verinnerlichen muss“, erklärt er.

Neben Schrang und Eckert finden sich noch weitere randständige Erneuerer rechten Denkens wie Jürgen Elsässer, Querfrontler, Chefredakteur und Verlagsgeschäftsführer der strammrechten Zeitschrift CompactOliver Janich, Ex-Vorsitzender der libertären Partei der Vernunft (PDV); Thorsten Schulte, ein ehemaliger Investmentbanker, Verschwörungstheoretiker (aktuelle Buchveröffentlichung: Fremdbestimmt. 120 Jahre Lügen und Täuschung) und Redner bei der Berliner Querdenken-Demo am 1. August 2020; sowie Bodo Schiffmann, ein HNO-Arzt, der Schlagzeilen machte mit einer Behauptung auf seinem Telegram-Kanal: „Kinder sterben, weil sie Masken tragen gegen eine Erkrankung, die es nicht gibt.“ Schiffmann hielt sich nach Angaben der Rhein-Neckar-Zeitung zuletzt in Afrika auf; die Staatsanwaltschaft Heidelberg ermittle gegen ihn, weil er ohne Untersuchung Atteste ausgestellt haben soll, die von der Maskenpflicht befreien.

Typisch für derlei Querdenker-Unternehmer überall auf der Welt ist, dass ihre Kohorten im Namen der „Wahrheitsbewegung“ die „Corona-Diktatur“ bekämpfen, während sie selbst nebenbei Geld damit machen.

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Aus dem Englischen von Michael Adrian

William Callison ist Visiting Assistant Professor of Government and Law am Lafayette College in Easton in Pennsylvania.

Quinn Slobodian ist Associate Professor of History am Wellesley College in Massachusetts.

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